JAHRBUCH
| FÜR |
PSYCHOANALYTISCHE vun PSYCHO-
PATHOLOGISCHE FORSCHUNGEN.
HERAUSGEGEBEN VON
Pror. Dr. E.BLEULER un Por. Dr. $. FREUD
IN ZÜRICH IN WIEN.
REDIGIERT VON
Dr. C. 6. JUNG,
PRIVATDOZENTEN DER PSYCHIATRIE IN ZÜRICH.
_
IV. BAND.
I. HÄLFTE.
LEIPZIG un» WIEN.
FRANZ DEUTICKE.
1912... .
Verlags-Nr. 1976. |
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VERLAG VON FRANZ DEUTICKE IN LEIPZIG UND WIEN.
Nachstehende neun Werke, welche als die Dokumente für den Ent-
wicklungsgang und Inhalt der Freudschen Lehren anzusehen sind,
werden, wenn auf einmal bezogen, zum Vorzugspreise von M 34-—
— K 38-40 (statt M 40-50 = K 4860) abgegeben:
Studien über Hysterie.
Von Dr. Jos. Breuer und Prof. Dr. Sigm. Freud.
Zweite Auflage. Preis M7T— = K 340.
Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
I. und II. Reihe. 2. Auflage. Preis M5——=K6-—.
Uber Psychoanalyse.
Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20jährigen Gründungsfeier
der Clark University in Worcester Mass.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Zweite Auflage. Preis M 150 = K 1'80.
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Zweite Auflage. Preis M 2— = K 2.4.
Die Traumdeutung.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Dritte, vermehrte Auflage. Preis M1— = K12—.
Der Wahn und die Träume in W. Jensens „6Gradiva“.
(Schriften zur angewandten Seelenkunde. I. Heft.)
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Zweite Auflage. Preis M 250 = K3-—.
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.
(Schriften zur angewandten Seelenkunde. VII. Heft.)
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Preis 7290 =-K3—.
Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Zweite Auflage. Preis M5>—- = K6-.
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IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO-
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR S. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
OTTO RANK. DR. HANNS SACHS.
VERLAG HUGO HELLER & CO,, WIEN I.
BAUERNMARKT 3.
Abonnementspreis ganzjährig (6 Hefte, etwa 30 Bogen) K 18°— =M. 15° —
DEE eh Bi a — re FRE
gegründet, die er an seinen neurotischen Patienten gemadt hatte. Er
konnte zwar bald nachweisen, daß seine neugefundenen Sätze auch
auf das Seelenleben der Gesunden anwendbar seien, doch dieser Ursprung
hat es verschuldet, daß noch heute viele die Psychoanalyse nur als neuen
Weg zur Heilung gewisser Krankheitsformen kennen und nicht als das,
was sie wirklih ist: eine VOLLGILTIGE PSYCHOLOGIE, zwar
von allem, was bisher auf verwandtem Gebiete geleistet wurde durch ihre
neue Grundauffassung geschieden, aber reih an befruchtender, Erkenntnis
fördernder Kraft. Durch ihre Mittel gelang der Nachweis, daß im Seelenleben
des Menschen ebensowenig die blinde Willkür des Zufalles herrscht, wie in
der Körperwelt; hier wie dort geschieht alles nach unverbrücdlichen Gesetzen
an der Kette von Ursache und Folge.
Diese neue Erkenntnis weist der SEXUALITÄT eine weit bedeut-
samere Rolle zu, als bisher angenommen werden konnte. Als untrennbare Be-
gleiterin alles Lebens nimmt sie vom Kinde schon beim ersten Atemzuge
Besitz und bleibt seine strenge Herrin bis zum Ende, Mit stets neuen
Masken und Hüllen lockt sie den, der sih von ihr frei gemacht zu haben
wähnt, in ihr Joh zurück.
1): Lehre vom Unbewußten wurde von FREUD auf Beobadhtungen
Freilih ist die Zahl derer nicht gering, denen es verdienstvoller
scheint, in der Wissenschaft vor jeder Äußerung des erotishen Trieblebens
die Augen zu verscließen, statt sie getreulih zu beobachten und zu
untersuhen — selbst wenn aus solcher Untersuhung die wertvollsten
Erkenntnisse zu gewinnen sind. Auf die Teilnahme und Gönnerschaft jener,
die niht sehen WOLLEN — sei es aus anerzogener Prüderie, sei es, weil
sie sih scheuen, die Liebe des mystishen Schleiers zu berauben und im
harten Lichte der Wirklihkeit zu betrahten — muß die Psychoanalyse
und muß unsere Zeitschrift ein- für allemal verzichten.
Ein Rätsel, das die Wißbegierde der Menschheit seit Jahrtausenden
gereizt und ihr seit Jahrtausenden widerstanden hatte, ist von der Psydıo-
analyse bereits gelöst worden: sie hat die Deutung des Traumes ergründet
und den Nachweis geführt, daß er nicht ein wirres Gemenge zusammenhang-
(oser Bilder und Worte sei, sondern, wie das Altertum und der Volks-
aberglaube dunkel ahnten, ein bedeutungsvolles Erzeugnis psydhiscer Kräfte.
Jene Triebe, denen der Tag keine Befriedigung mehr bieten kann, weil sie
das Wachbewußtsein als unmoralisch, ekelhaft, kulturwidrig zurückgewiesen
und verdrängt hat, werden in ihm lebendig. Gegenwärtiges und längst
Vergangenes weben wunderbar durcheinander, um das scheinbar verworrene,
aber tief gesetzmäßige Gespinst hervorzubringen.
Aber nicht nur das Erzeugnis eines einzelnen Menschengeistes, wie
es der Traum und das ihm im Innersten verwandte Kunstwerk ist, muß
eine wahre Seelenkunde durchleuchten können, auch was Dasein und Form dem
Zusammenwirken einer unzählbaren Menge von Einzelseelen verdankt, die
das Streben nach demselben Ziel zu einer geistigen Einheit verschmolzen hat, wie
SPRACHE UND SITTE, RELIGION UND RECHT, fällt in ihren Bereicı.
Darum werden-sih mit dem Schlüssel der psychoanalytischen Technik
auch in vielen anderen Wissenschaften versperrte Türen öffnen und Probleme
ergründen fassen, an denen die Fachgelehrsamkeit, nicht minder aber JEDER
EINZELNE GEBILDETE den stärksten Anteil nimmt. Wir nennen
hier nur jene Geistesgebiete, in denen schon heute ein Versuch gelang:
ÄSTHETIK, LITERATUR- UND KUNSTGESCHICHTE, MYTHO-
LOGIE, PHILOLOGIE, PÄDAGOGIK, FOLKLORE, KRIMINA-
LISTIK,MORALTHEORIE UNDRELIGIONSWISSENSCHAFTEN.
Was aber bisher nur in einzelnen Streifzügen geschehen konnte, soll
jetzt Ordnung, Dauer und eine sichere Stätte finden. Über die neuentdeckten
Gebiete, auf die die Psychoanalyse ihren Fuß gesetzt hat, muß nun
auh der Pflug regelmäßiger Arbeit geführt werden. Dazu soll unsere
Zeitschrift dienen. Sie wird sih in buntester Mannigfaltigkeit allen Geistes-
wissenschaften widmen, so daß jedermann die Probleme des Faces,
das ihm am nächsten steht, darin behandelt finden wird. Die Einheitlihkeit
wird durh die gemeinsame Beziehung zur Psychoanalyse gewahrt werden,
durch die jedes Problem in neue Zusammenhänge eingefügt wird.
Wir wenden uns an alle, die sich einer Geisteswissenschaft gewidmet
haben, und noc nicht in der Routine ihres Berufes erstarrt sind; an alle jene,
die ausgegangen sind, den Ort zu suchen, wo eine neue Wahrheit in der
Krippe liegt.
Aus dem Inkafte des erften Heftes:
OTTO RANK U. Dr. HANNS SACHS: Entwicklung und An-
sprüche der Psychoanalyse.
PROF. S. FREUD: Der Wilde und der Neurotiker. I. Die
Inzestscheu.
OTTO RANK: Der Sinn der Griseldafabel.
Dr. EDUARD HITSCHMANN:: Zum Werden des Romandidhters.
PFARRER DR. ©. PFISTER: Anwendungen der Psychoanalyse in
der Pädagogik und Seelsorge.
Dr. ALFRED ROBITSEK: Symbolisches Denken in der hemischen
Forschung.
* ®: Übersicht der bisherigen Leistungen der auf die Geisteswissen-
schaften angewandten Psychoanalyse.
Von der. Biichhandiunesnck us. u NE
bestelle.......... aus dem Verlage von Hugo Heller ®& Cie., Wien ],
Bauernmarkt 3
— IMAGO
Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissen=
schaften. Unter Redaktion von O.RANK und HANNS SACHS
herausgegeben von Prof. S. FREUD, 1. Jahrgg. 1912. M. 15.— =K 18. —
Adresse: Name:
Verlag von Franz Deuticke in Leipzig und Wien.
Soeben erschien:
Das Inzest-Motiv
Dichtung und Sage.
Grundzüge einer Psychologie
des dichterischen Schaffens
von
Otto Rank.
Preis M 15°’— = K '1%-.
—ol]ı a —
In diesem Buche wird an einem eng umgrenzten Material der
Versuch gemacht, auf völlig neuer Grundlage und von ungewohnten
Gesichtspunkten aus, Einblicke in die innerste Struktur des Kunst-
werkes und in die Bedingungen sowie in die Vorgänge des dichterischen
Schaffens zu gewinnen. Wie schon das Titelblatt anzeigt, handelt es
sich nicht um eine literarhistorische Untersuchung, sondern vorwiegend
um psychologische Probleme, . . . . deren Verfolgung aber nicht
nur für den Psychologen im engeren Sinne, sondern in gleicher
Weise für den re Mythologen, Kulturhistoriker,
Ethnologen, Kriminalisten und nicht zum wenigsten auch für den
produzierenden Dichter selbst von Interesse. sein muß
Es sollen zunächst innerhalb der Sphäre eines einzigen weitver-
zweigten Motivs vornehmlich die Werke der dramatischen Dichtkunst,
unbeschadet ihrer sonstigen Beziehungen, vom psychologischen Stand-
punkt betrachtet werden: also gleichsam von innen heraus, als rein per-
sönliche, individuell bedingte Leistungen eines eigenartigen Seelenlebens.
Das heißt aber nicht so sehr die Werke der Kunst als den Künstler, der sie
hervorbringt, ins Auge fassen ; das heißt aber weiterhin nicht Literatur- und
Kunstgeschichte, sondern Psychologie des Künstlers treiben.
Diese besondere Art der Kunstbetrachtung mit allen ihren Kon-
sequenzen ist erst durch die Errungenschaften einer Psychologie er-
möglicht worden, die mit der hergebrachten außer dem Kanes nichts
mehr gemein hat. Diese von Freud begründete und unter Teil-
nahme zahlreicher Anhänger und Schüler weiter ausgebaute Seelen-
kunde bildet die Grundlage der . . . . Untersuchung. .
Bringt nun schon die vorwiegend innerliche, rein individual-psycho-
logische Betrachtungsweise eines so eminent sozialen Produktes, wie es
die Kunst ist, zum großen Teil befremdende Auffassungen und Ergeb-
2 Rank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage.
ee , PEN
nisse mit sich, so erscheint die Einstellung auf die an sich neu- und eig
artigen Gesichtspunkte der Freudschen P s yeh ologie wi:
diesen Eindruck abzuschwächen. Denn die in dunkle Tieien en
wußten Geschehens dringende Seelenforschung ER ae Ib ni
ins Triebleben hinab, zu den letzten Wurzeln menschlichen ne u #
Denkens, deren Aufdeckung keineswegs dazu beiträgt, die a ee d
verbreitete Ansicht von der Erhabenheit der menschlichen Natur un
öttliehkeit des Künstlers zu bestätigen . Mi A‘ ;
> Vermiitels unserer. besseren psychoanalytischen Einsicht ‚in die
sychischen Mechanismen sowie den Sinn und Gehalt der Traum-,
= tom- und Wahnbildung, ist es uns möglich geworden, k En
auf Grund unserer vertieften Kenntnis der verwandten Phänomene, auch
in das Geheimnis der unbewußtenkünstlerischen Produktion
einzudringen.. . . . Aus unbewußtem Inhalt, Tendenz und Ursache
der Traum- und Neurosenbildung können wir mit Sicherheit erkennen,
daß auch der Künstler sich in seinem Werke eine zum Teil verhüllte
Erfüllung seiner geheimsten Wünsche schafft und daß er dazu, ähnlich
wie der Träumer und der Neurotiker, von seinen längst verdrängten,
aber im Unbewußten mächtig fortwirkenden infantilen Triebregungen und
erotischen Finstellungen unwiderstehlich genötigt wird. Müssen wir so
die unbewußten sexuellen Gefühlsregungen in gleicher Weise als Triebkraft
der normalen (Traum), neurotischen und künstlerischen Seelenleistung
anerkennen, so wäre es aber weit gefehlt, unsere unerwarteten und
darum befremdlichen Ergebnisse dem Material zuzuschreiben, das den
tolgenden Untersuchungen zu Grunde liegt. . . . . Seine Auswahl
and enge Umgrenzung war hauptsächlich durch den Umstand gegeben,
daß uns das Inzestthema von anderen Seiten des psychologischen
Studiums in seiner Bedeutung und seinem Wesen nach bereits so weit
verständlich und vertraut geworden ist, daß wir mit einem hohen Grad.
von Sicherheit nicht nur darauf fußend tief in das Gefüge des künst-
lerischen Seelenlebens einzudringen, sondern auch rückwirkend die bereits
gewonnene Erkenntnis zu festigen und so vereinheitlichen zu können
hoffen dürfen.
Es stützt sich diese Erwartung darauf, daß die psychoanalytischen
Forschungen Freuds und seiner Schule immer eindeutiger zu der
Erkenntnis hingedrängt haben, daß die Inzestphantasie nieht nur den
„Kernkomplex der Neurose“ und wie die Untersuchungen der Züri-
cher Schule zu versprechen scheinen, auch mancher Psychosen darstelle,
sondern auch im unbewußten Seelenleben des Normalen dominiert
und seine soziale und erotische Einstellung im. Leben entscheidend
bestimmt. . . . . Diese Bedeutung kann man jedoch nur dann
voll würdigen, wenn man den durch die psychoanalytischen Forschungen
aufgedeckten weiten Umfang des Inzestkomplexes berücksichtigt, in den
nicht nur alle feineren Beziehungen der Erotik, sondern auch gewisse
daraus entspringende feindselige Gefühlsregungen einzubeziehen sind.
- + - Unsere Untersuchung wird uns zu der Erkenntnis führen
daß die In2estphantasie auch im Seelenleben des Dichters ‚von über-
“
Rank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. 3
ragender Bedeutung ist. Es hat darum seine tiefe Berechtigung, dab
wir gerade an diesem Thema die „Grundzüge einer Psychologie des
dichterischen Schaffens“ entwiekeln dürfen und gerade daran paradig-
matisch den Prozeß der poetischen Produktion in seiner charakteristischen
Ähnlichkeit und Unterscheidung von der normalen Traumarbeit, der
neurotischen Symptombildung und der paraphrenen Gemütsstörung aufzu-
zeigen bemüht sind. Ein rein äußerer Ausdruck für die Bedeutung
des Inzestkomplexes im Seelenleben der Dichter ist die durch die
Fülle unseres Materials reichlich belegte Tatsache . . . . der Ubi-
quität des Inzestmotivs bei den bedeutendsten Dichtern der Welt-
literatur und der durehgängigen Übereinstimmung gewisser als typisch
anzusehender Formationen innerhalb dieses Motivs, . . . ..die nur
durch eine Reihe leicht zu durchschauender Verhüllungen sowie durch
‚die Wendung vom Infantil-lustvollen ins Tragisch-schuldvolle der neu-
rotischen Verdrängung angenähert und so vor der Anstößigkeit be-
wahrt erscheinen. . . . . Man wird vielleicht geltend machen, es
sei nicht schwer, die letzten Wurzeln der künstlerischen Schöpferkraft
im Erotischen, ja die Bedingung für die Entfaltung dichterischer
Fähigkeiten in gewissen . . . . Überschreitungen der psycho.
sexuellen Entwicklung zu finden, wenn man ausschließlich Worke in
Betracht ziehe, die ein so durchaus sexual-pathologisches Thema wie
die erotische Neigung von Blutsverwandten zu einander behandeln. Da
muß nun hervorgehoben werden, daß die Untersuchung gerade die
diehterische Äußerung der Inzestgefühle völlig ihres
pathologischen Charakters zu entkleiden und als Ver-
sinnlichung allgemein-menschlicher, sonst unbewußter
Seelenregungen verständlich zu machen sucht. a:
Und so war es gerade die Häufigkeit, mit der das Inzestthema zum
Gegenstand der dichterischen Phantasiebildung gewählt wurde, was die
Auffassung von den erotischen Triebkräften des künstleri-
schen Schaffensdran ges mit. begründete. Späteren Untersuchun-
gen muß es vorbehalten bleiben, durch Analyse anderer ebenfalls
ty pischer Motive dieser Auffassung eine breitere Grundlage zu geben,
(Aus der Einleitung.)
—— {0.7 0.
Inhalts-UÜbersicht.
, Seite
BT ET RE UN 1-21
Erster Abschnitt:
Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern.
I. Die individuellen Wurzeln der Inzestphantasie .. 25—39
I. Typen des Inzest-Dramas (Ödipus, Hamlet, Don Carlos). . 40 —63
Die Mechanismen des dichterischen Schaffens . . . . ... . 48—54
IH. Die Inzestphäntasie bei Schiller. .........,. 64—118
“ Zur Psychologie der Entwürfe und Fragmente „....... 69— 74
Rank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage.
IV. Das Stiefmutter-Thema..
Zur Psychologie der Stoffwahl
A. Das Carlos-Schema .
1. Carlus-Dramen .
2, Byrons „Parisina“ F
3. Das Motiv der a lkhine 203 Brautabiihtung i
B. Das Phädra-Schema .
Zur Psychologie der Nachlichtung;
V. Der Kampf zwischen Vater und Sohn
Zur Psychologie des Verwandtenmordes
VI. Shakespeares Vaterkomplex ; \
Zur Psychologie der schauspielerischen eisen
Ödipus-Dramen der Weltliteratur
Zur Psychologie der Jugenddichtungen .
Zur Deutung der Ödipus-Save
Der Inzestkomplex in antiker nike
Überlieferung (Beiträge zur Sexualsymbolik) .
1. Die Weltelternmythe .
2. Der Kastrationskomplex . \
3. Die alttestamentliche Unskliefering):
4. Das Motiv der Zerstückelung
5. Die Tantaliden-Sage
. Mittelalterliche Fabeln und ei sıliahs ee
XI. Die Beziehungen zwischen Vater und Tochter
Mythus, Märchen, Sage, Dichtung, Leben und Neurose .
Der Inzest in historischer Zeit. Sitte, Brauch und Recht
der Völker nr Tee
Vu.
VII,
IX. und
in
XI,
Zweiter Abschnitt:
Das Verhältnis zwischen Geschwistern.
Die Bedeutung des Geschwisterkomplexes Ne
Grillparzer. Ein Beitrag zum Problem der Beziehung von
Dichtung und Neurose .
XV. Das Ahnfrau-Schema. (Zur Be aheidgie. En Aätheilskhen Wir-
’ kung.) Calderons „Andacht
„Mahomet“ - }
Goethes Bchwestesiiite : EN SE
Abwehr und Durchsetzung des Geschwisterinzests
2 Das Motiv der Geschwister-Erkennung
. Das Motiv der Verwandtschafts- -Aufhebung
3. Die elisabethanischen Dramatiker
4. Shelley . hr
XVII, Byron. Sein Leben und a Schaffen f
XI.
XIV,
zum Kreuze“; Voltaires
VI
XV.
XIX. Biblische Inzeststoffe in der dramatischen Diebtunp
A. Kains Brudermord f R
B. Die Blutschande des Amnon mit ie ee
(Die Spanier: Lope, Calderon, Cervantes u. a.)
Seite
118—163
120— 126
126 150
126—133
133-141’
141— 150
150—163
151—153
164— 203
188-203
204 —233
230-233
234-255
245 — 255
256276
277—335
279-—283
283— 297
297 — 308
309—319
320— 335
336 —367
368-413
414-439
443 —465
466-493
494—500.
501—518
519—545
520—523 '_
523— 534
534— 537
538—545
546—555
556-561
556—557
557— 561
Rank, Das Inzestmotiv in Diehtung und Sage. D
XX. Schillers Geschwisterkomplex. Der Mechanismus der Seite
Affektverschliebung” JE 1a Ar hi PARTIEN ET 562—584
XXI. Das Bruderhaß-Motiv. (Von Sophokles bis Schiller.). . . . 585-603
A. Die griechischen Tragiker und ihre Nachahmer . . . . 585—597
a) Zteokles und Polyneikes . . 2.2.2. 0 nun. 586— 591
b): Atraus: und Ihyasten- 17,1 RENTE RAN 591—596
c) Nero und Bitautie AL. EP ir 596—597
B. Schillers Vorläufer: Die Stürmer und Dränger .. . » - 597—603
A134: Die Schickaalatragikne „ "oT,1% SulEEEN U 604—615
1. Zacharias: Warpof 5,7 2 Se a ee a Te an 605 — 606
2. Adolf Müllner (und Houwald) . ». 2. 22000. 606—615
IRA Die Romantik. 0. = 0 00, Keane nn. 616-648
1. Luduie FO ED Se Wehr ee ie 2 616—625
8,7AcHBn SomrArBien 0... WIE“ A ET DH, 626— 628
3. CiomanssBtenlano, - .. «4 0 a Ds 6. win 628 — 631
4. Theodor Körner (und Karoline v. Günderode) . . . . 631-639
GeuEHsra WW amerniie ra at an ri. 639 —648
XXIV, Das Inzestmotiv in der modernen Dichtung... .. 648—685
TAlBseni in 2. nz ae ee re =. 650-658
2. 1Zeitgenössische: Diehter ; » 1. emule 1 man ie 4 658— 680
Hüok+ "uns Ausblick wer2: un HT SIDE 681— 685
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Von demselben Verfasser sind früher erschienen:
Der Künstler.
Ansätze zu einer Sexualpsychologie.
1907. Preis M 2°—=K 240.
(Verlag von Hugo Heller & Cie. in Wien und Leipzig.)
Der Mythus von der Geburt des Helden.
Versuch einer psychologischen Mythendeutung.
1909. Preis M 3°— —=K 3:60.
Die Lohengrinsage.
Ein Beitrag zu ihrer Motivgestaltung und Deutung.
1911. Preis M5’——=K6—.
(Verlag von Franz Deuticke in Leipzig und Wien.)
‘Verlag von Franz Deuticke in Leipzig und Wien.
Jahrbuch für psychoanalytische
und psychopathologische Forschungen.
Herausgegeben von
Prof. Dr. E. Bleuler in Zürich und Prof. Dr. 8. Freud in Wien.
Redigiert von
Dr. €. G. Jung,
Privatdozenten der Psychiatrie in Zürich.
I. Band: 1. und 2. Hälfte. Preis & M 7— =K 840.
II. Band: 1. und 2. Hälfte. Preisä MS— —=K 960.
III. Band: 1. Hälfte. Preis M 1— —=K 12—.
2. Hälfte. Preis M 8-— = K 9°60.
Schriften zur angewandten Seelenkunde.
Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud in Wien.
I. Heft: Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“. Von Prof.
Dr. Sigm. Freud in Wien. 2. Aufl. — Preis M 2:50 K3—.
II. Heft: Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. Eine Studie von
Dr. Franz Riklin, Sekundararzt in Rheinau (Schweiz). — Preis
M3— =K 3:60.
III. Heft: Der Inhalt der Psychose. Von Dr. C. G. Jung, Privatdozent der
Psychiatrie in Zürich. — Preis M 125 = K 1°50.
IV. Heft: Traum und Mythus. Eine Studie zur Völkerpsychologie. Von Dr. Karl
Abraham, Arzt in Berlin. — Preis M 250 = K3-—.
V. Heft: Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psycho-
logischen Mythendeutung. Von Otto Rank. — Preis M 3— —=K 3°60.
VI. Heft: Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus. Von Dr. J. Sadger,
Nervenarzt in Wien. — Preis M 3— = K 3:60.
VII. Heft: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinei. Von Prof.
Dr. Sigm. Freud in Wien. — Preis M 250 =K3-—.
VIII. Heft: Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. Von
Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich. Preis M 450 — K 5°40.
IX. Heft: Richard Wagner im „Fliegenden Holländer“. Ein Beitrag zur
Psychologie künstlerischen Schaffens. Von Dr. Max Graf. — Preis
M18380=K2-—.
X. Heft: Das Problem des Hamlet und der Ödipus-Komplex. Von Dr.
Ernest Jones in Toronto (Kanada). Übersetzt von Paul Tausig
(Wien). Preis M 2— —= K 240.
XI. Heft: Giovanni Segantini. Ein psychologischer Versuch. Von Dr. Karl
Abraham, Arzt in Berlin. Mit zwei Beilagen. Preis M 2— — K 2-40.
XH. Heft: Zur Sonderstellung des Vatermordes. Eine rochtsgeschichtliche
und völkerpsychologische Studie. Von A. J. Storfer, Zürich. Preis
M 1:50 = K 180.
XII. Heft: Die Lohengrinsage. Ein Beitrag zu ihrer Motivgestaltung und
Deutung. Von Otto Rank. — Preis M5>-—Ke&_.,
XIV. Heft: Der Alptraum in seiner Beziehung zu gewissen Formen des
mittelalterlichen Aberglaubens. Von Prof. Dr. Ernest Jones
Deutsch von Dr. E. H. Sachs. Preis M 5_— — K 6—.,
—T
Verlag von Franz Deuticke in Leipzig und Wien.
—_—
Nachstehende neun Werke, welche als die Dokumente für den Ent-
wieklungsgang und den Inhalt der Freudschen Lehren anzusehen sind,
werden, wenn auf einmal bezogen, zum Vorzugspreise von M 32— —
K 38:40 (statt M 40:50 — K 48:60) abgegeben:
Studien über Hysterie.
Von Dr. Jos. Breuer und Prof. Dr. Sigm. Frend..
Zweite Auflage. Preis M T—=K 840.
Sammlung kleiner Schriften zurNeurosenlehre.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud,
I. und IH. Reihe. 2. Auflage. Preis aM 5>——=K6—.,
Über Psychoanalyse.
Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20jährigen Gründungsfeier
der Clark University in Worcester Mass.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Zweite Auflage. Preis M 150 =K 1'80.
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Zweite Auflage. Preis M 2— =K 240.
Die Traumdeutung.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Dritte, vermehrte Auflage. Preis M 10— —=K 1%°—
Der Wahn und die Träume
in W. Jensens - „Gradiva“.
(Schriften zur angewandten Seelenkunde. I. Heft.)
Von Prof. Dr. Sigm, Frend.
Zweite Auflage. Preis M 250 = K 3—.
Eine Kindheitserinnerung d. Leonardo da Vinci.
Ge zur angewandten Seelenkunde. VII. Heft.)
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Preis M 250 =K3-—.,
Der Witz u. seine Beziehung zum Unbewußten.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud,
Zweite Auflage. Preis M5>— = K6-—.,
Verlag von Franz Deuticke in Leipzig und Wien.
Die Psychanalyse Freuds.
Verteidigung und kritische Bemerkungen
von Prof. Dr. E. Bleuler.
Preis M 250 =K3-—.
Introjektion und Übertragung.
Eine psychoanalytische Studie
von Dr. S. Ferenczi,
Nervenarzt, Sachverständiger des Kön. Gerichtshofes in Budapest.
Preis M 1’— = K 1°20.
Freuds Neurosenlehre.
Nach ihrem gegenwärtigen Stande zusammenfassend dargestellt
von Dr. Eduard Hitschmann.
Preis M 4— = K 480.
Über Konflikte der kindlichen Seele.
Von Dr. med. et iur. C. G. Jung,
Privatdozent der Psychiatrie au der Universität in Zürich.
Preis M 1-— — K 1%.
Die Bedeutung des Vaters
für das Schicksal des Einzelnen.
Von Dr. ©. G. Jung,
Privatdozent der Psychiatrie an der Universität in Zürich.
Preis M 1— — K 120.
Zah E a IT ME a ar Er u
Die psychologische Enträtselung
der religiösen Glossolalie.
Von Dr. Oskar Pfister,
Pfarrer in Zürich.
Preis M 3 — —= K 3:60.
mm
Analytische Untersuchungen über die
Psychologie des Hasses und der Versöhnung.
Von Dr. Oskar Pfister,
Pfarrer in Zürich.
Preis M 150 = K 1:80.
KB, u. K Hofbuchdruckerei Karl Prochaska, in, Teschen.
JAHRBUCH
FÜR
PSYCHOANALYTISCHE vun PSYCHO-
PATHOLOGISCHE FORSCHUNGEN.
HERAUSGEGEBEN VON
Pror. Dr. E. BLEULER un Peor. Dr. S. FREUD
IN ZÜRICH IN WIEN,
REDIGIERT VON
Dr. 6. 6. JUNG,
PRIVATDOZENTEN DER PSYCHIATRIE IN ZÜRICH,
IV. BAND.
I. HÄLFTE.
LEIPZIG us» WIEN.
FRANZ DEUTICKE.
1912.
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Inhaltsverzeichnis
der ersten Hälfte des vierten Bandes.
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Bleuler: Das autistische) Denken... a. 10.1. ala an a Sa ee 1
Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens, II... . ....... 40
Rank: Die Symbolschichtung im Wecktraum und ihre Wiederkehr im
mythischen Denken
ER NE RE RE N EN. ER: |
Grebelskaja: Psychologische Analyse eines Paranoiden . ....... 116
Silberer: Spermatosoenträume \i.-. |. se me mn = 141
Jung: Wandlungen und Symbole der Libido, II. .... 2.222... 162
Spielrein: Die Destruktion als Ursache des Werdens. ... . 2... 465
Nelken: Analytische Beobachtungen über Phantasien eines Schizophrenen 504
Jones: Einige Fälle von Zwangsneurose . . ». ». » 222 2 2 2 0 00. 568
Zusendungen an die Redaktion sind zu richten an Dr. €. &. Jung,
Küsnacht-Zürich.
Anmerkung der Redaktion: Die zweite Hälfte von Jones: Einige Fälle
von Zwangsneurose, wird erst im IV. Band, 2. Hälfte, erscheinen.
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Das autistisehe Denken.
Von Prof. E. Bleuler.
Eines der wichtigsten Symptome der Schizophrenie ist ein Vor-
wiegen des Binnenlebens mit aktiver Abwendung von der Außen-
welt. Die schwereren Fälle ziehen sich ganz zurück und leben einen
Traum; in den leichteren finden wir geringere Grade der gleichen
Erscheinung. Dieses Symptom habe ich Autismus!) genannt. Das
1) Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Aschaffen-
burgs Handbuch der Psychiatrie. Wien, Deuticke, 1911. — Zu einem ziemlich
großen Teil deckt sich der Autismus mit dem Jungschen Begriff der Introver-
sion, womit das Nachinnenwenden der Libido bezeichnet wird, die sich nor-
maliter ihre Objekte in der Realität suchen sollte. Autistische Strebungen können
sich indes auch nach außen richten; so, wenn ein schizophrener Weltverbesserer
die Gesellschaft umgestalten will und überhaupt beständig nach außen wirksam
zu sein strebt, wenn das kleine Mädchen ein Stück Holz in ein Kind umphan-
tasiert, wenn man Objekte beseelt, oder wenn man sich aus einer Kraft oder einer
abstrakten Vorstellung einen Gott schafft.
Der Aufsatz war vor dem Erscheinen der Jungschen Arbeit „Über die
zwei Arten des Denkens“ (dieses Jahrbuch, IIL, S. 124, 1911) geschrieben. Der
Autor bezeichnet das, was ich logisches oder realistisches Denken nenne, als
gerichtetes Denken, das autistische als Träumen oder Phantasieren.
„Ersteres arbeitet für die Mitteilung mit sprachlichen Elementen, ist mühsam
und erschöpfend, letzteres dagegen arbeitet mühelos, sozusagen spontan mit
den Reminiszenzen. Ersteres schafft Neuerwerb, Anpassung, imitiert Wirklich -
keit und sucht auch auf sie zu wirken. Letzteres dagegen wendet sich von der
Wirklichkeit weg, befreit subjektive Wünsche und ist hinsichtlich der Anpassung
gänzlich unproduktiv‘ (S. 136). Das Wesentliche deckt sich mit meiner Auf-
fassung. Immerhin bestehen einige Unterschiede, von denen ich nur die folgenden
anführen will: Auch das autistische Denken kann nach meiner Ansicht gerichtet
sein, und man kann auch, ohne die Begriffe in Worte zu fassen, gerichtet und
realistisch (logisch) denken, ebenso, wie man autistisch in Worten denken kann.
Es verdient auch hervorgehoben zu werden, daß gerade die Worte und ihre Asso-
ziationen oft eine sehr wichtige Rolle im autistischen Denken spielen.
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. IV. 1
9 E. Bleuler.
schizophrene Traumleben hat nun eine bis jetzt ungenügend bekannte
Form des Gedankenganges, ich möchte fastsagen, besondere Denkgesetze;
und bei genauerem Zusehen ergibt sich, daß die nämliche Abweichung
vom Gewöhnlichen die meisten schizophrenen Denkfehler überhaupt
bedingt und namentlich die Wahnideen entstehen läßt. Wir finden diese
Mechanismen außerdem tätig im gewöhnlichen Schlaftraume, ım
Tagtraume des Hysterischen wie des Gesunden, in der Mythologie und
dem dazu gehörenden Aberglauben und in anderen Abweichungen
des Denkens von der Realität. Vom Traume des Jungen, der auf dem
Steckenpferde General spielt, durch den Dichter, der im Kunstwerk
seine unglückliche Liebe abreagiert oder in eine glückliche verwandelt,
bis zum dämmerigen Hysterischen und zum Schizophrenen, der hallu-
zinatorisch seine unmöglichsten Wünsche erfüllt sieht, gibt es alle
Übergänge auf einer Skala, die im wesentlichen nur quantitative
Unterschiede zeigt. |
Die paranoide Patientin B. S. in Jungs Dementia praecox!) ist die
Schweiz, sie ist auch die Kraniche des Ibykus; sie ist Besitzerin der ganzen
Welt und einer siebenstöckigen Banknotenfabrik; sie ıst auch Doppel-
polytechnikum und Sokratesvertretung. Einem Exploranden erklären
wir bei jeder Gelegenheit so deutlich als möglich, daß wir ihn für geistes-
krank halten und unser Gutachten in diesem Sinne abgegeben haben.
Er aber behauptet bei jeder Gelegenheit ebenso bestimmt, wir hätten
ihn als gesund begutachtet und ihm dies auf jeder Visite gesagt, folglich
müssen wir ihn entlassen. Ein Coiffeurlehrling hat das Telephon und
den Telegraphen und die Dampfmaschine und eine Menge anderer
Dinge erfunden, die schon lange vor ihm auf der Welt waren. Eine
Frau empfängt die Besuche ihres Bräutigams, Jesu Christi, und ist
zugleich der liebe Gott.
Das alles erscheint zunächst als voller Unsinn und ist es auch
vom Standpunkt der Logik aus. Sehen wir aber genauer zu, so finden
wir in jedem Falle verständliche Zusammenhänge: die wesentlichen
Gedanken ordnen sich affektiven Bedürfnissen, d. h. Wünschen und
eventuell auch Befürchtungen unter, die Patientin ist die Kraniche
des Ibykus, weil sie als frei von Schuld und Fehle gelten möchte; sie
ist die Schweiz, weil sie frei sein sollte. Die Ideen des Querulanten,
des Eirfinders, der Braut Christi, drücken erfüllte Wünsche direkt aus.
So bilden die Wahnideen des Schizophrenen nicht einen zufällig zu-
Bi ® . 2
) Jung, Die Psychologie der Dementia, praecox. Halle, 1907, Marhold:
Das autistische Denken. 3
sammengetragenen Haufen, nicht ein regelloses „Wahnchaos“, wie es
bei oberflächlicher Betrachtung scheinen mag, wenn sie auch nicht wie
die des Paranoikers systematisiert sind im Sinne eines logischen Ge-
bäudes, das nur da und dort eine falsche Prämisse oder einen falschen
Schluß im Fundament und unter den Bausteinen hat; sie sind vielmehr
in jedem einzelnen Falle der Ausdruck eines oder mehrerer bestimmter
Komplexe, die in ihnen ihre Erfüllung erreichen oder sich mit den
Widersprüchen der Umgebung abzufinden suchen. In den Details
allerdings finden wir eine Menge anderer unlogischer Zusammenhänge,
die nicht oder doch nicht direkt durch die Komplexe bedingt sind:
Gedankengänge mit ganz zufälligem Zusammenhang, die äußerlich
die Form der logischen Entwicklung annehmen, Klangassoziationen,
Identifikationen verschiedener Begriffe, Hypostasierung von Sym-
‚bolen usw.
Nehmen wir einen andern Fall. Ein Katatoniker, der in der Pflege-
anstalt freien Ausgang hat, geht eines Tages in einen Gasthof, betritt
das erste beste Zimmer und legt sich ins Bett. Er erwartet eine Prin-
zessin, die mit ihm die Vermählung feiern wird, und protestiert lebhaft
gegen alle Einwendungen und gegen die Gewalt, die man anwenden
muß, um ihn aus seinem Hochzeitsbett in die Anstalt zurückzubringen.
Unser Patient hat Dinge, die ein Gesunder etwa in einer Märchen-
situation wünschen möchte, wo eine gütige Fee ihm Erfüllung zugesagt
hätte, als reell gedacht und, was ebenso wichtig ist, er hat vollständig
ignoriert, daß er ein unansehnlicher armer Teufel ist und obendrein
Insasse einer Pflegeanstalt, daß die Prinzessinnen so wenig wie andere
Leute sich von einem Tag auf den andern ohne Formalitäten verheiraten
können, daß der ärmliche Landgasthof zu der gewünschten Situation
recht unpassend war, daß man ihn, wenn er keine Beweise für seine
Behauptungen bringen konnte, im Gasthof nicht dulden werde, usw.
Der nämliche Patient beschreibt jahrelang eine Unmenge Papier
mit Zahlen. Für jeden Tag, den wir ihn zurückhalten, hat er Anspruch
auf eine hohe Entschädigung. Sein Guthaben für jeden Tag setzt
sich aus einer größeren Anzahl von Posten zusammen, von denen
jeder einzelne so groß ist, daß er ihn nicht in gewöhnlichen Zahlen aus-
drücken kann. Jede seiner klein geschriebenen Zahlen füllt eine Zeile
aus; die Zahl darf aber nicht in gewöhnlichem Sinne gelesen werden,
sondern sie bedeutet nur die Stellen derjenigen Zahl, die in Berechnung
kommen soll, also nach unserer Ausdrucksweise zehn hoch jene unlesbar
große Zahl. Eine Eins mit 60 Nullen symbolisiert ihm also ein Guthaben
1*
A E. Bleuler.
von einer Dezillion Stellen. Mit diesen Wahnideen erfüllt sich der Patient
seine Wünsche nach Liebe, nach Macht und unheimlichem Reichtum,
spaltet aber alle die Unmöglichkeiten ab, die der Wunscherfüllung
im Wege stehen, z. B. den Umstand, daß die ganze Erde diesen Reichtum
nicht tragen könnte; es nützt nichts, ihn auf die Hindernisse aufmerksam
zu machen, obschon der Mann sonst ganz intelligent war und es
in gewisser Beziehung jetzt noch ist.
Im ersteren Falle mit der Prinzessin sucht der Kranke seinen
Wunsch noch mit der Wirklichkeit in Verbindung zu bringen, er prä-
pariert sich für die Hochzeit. Im zweiten Beispiel begnügt er sich mit
der Buchführung, ohne seine Forderungen geltend zu machen ; ob erdenkt,
daß ihm die Zukunft sein Guthaben wirklich bringe oder nicht, weiß
er wohl selbst nicht. Viele Kranke aber gehen noch weiter: der Wunsch
ist ihnen aktuelle Wirklichkeit: da ist einer der Gemahl der Himmels-
königin, der Schöpfer des Himmels und der Erde; ein Widerspruch
mit der Wirklichkeit wird nicht gefühlt; der Patient macht auch
keinen Versuch, im Sinne seiner Idee auf die Außenwelt einzuwirken.
Sclehe Kranke leben, abgesehen von den einfachen Verrichtungen,
wie Essen und Schlafen, nur noch in ihrer idealen Welt und fühlen sich
unter Umständen darin glücklich.
Das autistische Denken ist also ein tendenziöses. Es spiegelt
die Erfüllung von Wünschen oder Strebungen vor, Hindernisse denkt
es weg, und Unmöglichkeiten denkt es in Möglichkeiten und Realitäten
um. Der Zweck wird dadurch erreicht, daß der Strebung entsprechende
Assoziationen gebahnt, entgegenstehende gehemmt werden, also durch
den uns vonder Wirkung der Affekte her geläufigen Mecha-
nismus. Zur Erklärung des autistischen Gedankenganges bedarf es
keines neuen Prinzipes. Es ist auch selbstverständlich, daß wir hier
die Attektivität im Spiele sehen, denn eine Tendenz, eine Strebung ist
ja nur die zentrifugale Seite des nämlichen Vorganges, den wir von der
intrazentralen Seite her als Affekt bezeichnen.
Es gibt deshalb auch keine scharfen Grenzen zwischen autistischem
und gewöhnlichem Denken, indem sich sehr leicht in das letztere au-
tistische, d. h. affektive, Direktionen eindrängen.
Nicht nur der Manische überschätzt sich infolge seiner krank-
haft gesteigerten Euphorie, nicht nur der Melancholiker bildet sich
Kleinheitsideen infolge seiner Depression, sondern auch der Gesunde
SE TE seiner Gemütslage und seinen Zu- und Abneigungen
u oit falsche Schlüsse. Die laienhaften Ansichten über die Irren-
Das autistische Denken. d
anstalten sind geradezu autistische, dem Gruseln vor den Geistes-
krankheiten und dem Eingesperrtsein und ähnlichen Affekten ent-
sprechend. Sogar in der Wissenschaft ist das, was man gern glaubt,
bald bewiesen, und Gegengründe dazu werden leicht ignoriert. Was
einem nicht in den Kram paßt, wird abgelehnt, auch wenn die Ab-
lehnungsgründe objektiv nicht den mindesten Wert haben. Was ge-
scheite Leute in guten Treuen gegen die Einführung der Eisenbahnen,
gegen die Hypnose und Suggestionslehre, gegen die Abstinenz, gegen
die Freudschen Lehren für Einwendungen gemacht haben, das
sind ganz interessante Beiträge zur Tragikomödie des menschlichen
Geisteslebens. Um die groben Sophismen, die jahrhundertelang das
Dasein Gottes bewiesen, umzustürzen, mußte ein Kant auf die Welt
kommen. |
Wenn sich auch im Autismus alle Tendenzen ausdrücken können,
so besteht doch ein großer Unterschied zwischen den positiven und den
negativen Strebungen, die wir am besten an Hand der Affekte unter-
scheiden. Zwar haben auch die negativen Affekte die Tendenz, sich
zu behaupten und das Auftauchen ihnen entsprechender Vorstellungen
zu begünstigen, das nicht entsprechender zu hemmen; ja, es kann sich
der Traurige so sehr in seinen Schmerz verbohren, daß er noch mehr
Schmerz sucht; aber im ganzen geht unser Streben doch dahin, sich
möglichst viel Lust zu verschaffen und sich von der Unlust, wenn sie
da ist, möglichst bald zu befreien, und vor allem suchen wir unter
gewöhnlichen Umständen nicht die Unlusterlebnisse, sondern die der
Lust. Ein Gesunder wird sich in normaler Stimmung nicht leicht ein
trauriges Märchen ausdenken, in dem er sich als Held fühlt.
So kommt es ganz von selbst, daß das autistische Denken im
großen und ganzen praktisch ein Suchen nach Lustvorstellungen
und ein Vermeiden von schmerzbetonten Gedanken ist, und es wird
begreiflich, daß Freud!) einen ganz ähnlichen, nur etwas engeren
Begriff unter dem Namen der Lustmechanismen beschreiben
konnte.
Das autistische Denken in unserem Sinne wird von zwei Prin-
!) Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens.
Jahrbuch für Psychoanalyse. Wien, Deuticke, 1911, Band III. — Ich möchte
den Ausdruck „Lustmechanismen‘ auch deswegen nicht akzeptieren, weil das
Handeln und Denken im Sinne der Realität ebenfalls eine Äußerung von Lust-
mechanismen ist. Was Freuds Lustmechanismen (wie unser autistisches Denken)
von der Realfunktion unterscheidet, ist das, daß sie Lust nicht durch gefühls-
betonte Erlebnisse selbst, sondern durch Vors tellungen von solchen erzeugen.
6 E. Bleuler.
zipien regiert, die bei den an Affekten einander widersprechen,
' itiven gleichsinnig wırken:
0% ne re hat Ei Bestreben, sich zu erhalten; er bahnt die
ihm entsprechenden Vorstellungen, verleiht ihnen eın übertriebenes
logisches Gewicht, und er hemmt die widersprechenden und setzt sie
in ihrer Bedeutung herab. So kann der Fröhliche viel leichter fröhliche
Ideen assimilieren als traurige, und umgekehrt.
II. Wir sind so eingerichtet, daß wir das Angenehme, also auch
lustbetonte Vorstellungen, zu erwerben und festzuhalten streben, das
Unangenehme aber vermeiden. Unlustbetonte Vorstellungen begegnen
deshalb so gut wie äußere unangenehme Erlebnisse einer Abwehr, die
sie unter Umständen in statu nascendi oder auch, wenn sie schon ins
Bewußtsein getreten sind, verdrängen kann. Trotzdem eine starke
Affektbetonung an sich jede Vorstellung ceteris paribus erinnerungs-
fähiger und bewußtseinsfähiger (was nicht ganz das gleiche ist) macht,
werden viele stark unlustbetonte Vorstellungen!) gerade, weil sie unlust-
betont sind, durch Wirkung dieses zweiten Mechanismus vergessen
respective unterdrückt.
Freud hat nun bloß die letzteren Mechanismen ins Auge gefaßt.
Ich glaube aber, daß der Begriff nur in der weiteren Fassung ein ge-
netisches Ganzes darstellt. Auf genau den nämlichen Wegen wie die
Lustmechanismen wirken die Affekte überhaupt. Die Depression
schafft Kleinheitswahn so gut wie die Euphorie Größenwahn. Der
depressive Schizophrene hat nicht mehr alle Erfindungen gemacht,
sondern er ist an allem Unglück schuld, er ist ein Haifisch, bringt alle
Leute um; er wird nicht erhöht, sondern den anderen Patienten zum
Zerstückeln hingeworfen. Die irgendwie körperlich bedingte Angst
führt im Schlaf und im Fieber zu schreckhaften Halluzinationen. Der
Verfolgungswahn schafft nicht nur negative Gefühle, sondern er bildet
sich unter Mitwirkung von solchen, die schon bestehen, wie weiter
unten ausgeführt werden soll. Das alles sind Vorgänge, die sich nur auf
langen hypothetischen Umwegen mit dem Lustprinzip, dagegen leicht
und ganz direkt mit der Affektwirkung überhaupt in Verbindung
bringen lassen. So bleibt der Gegensatz unvollständig, wenn man dem
1) Es betrifft das namentlich bestimmte Klassen, die ich allerdings noch
nicht Charakterisieren möchte. Einfache unangenehme Erlebnisse, ein Beinbruch
u. dgl. unterliegen der Verdrängung nicht so leicht. Dagegen die ambivalenten
und diejenigen, die unser Selbstgefühl verletzen, die unsere Person herabsetzen,
Gewissenskonflikte bringen u. dgl.
Das autistische Denken. 7
Realitätsprinzip nur das Lust- und Unlustprinzip und nicht alles
autistische Denken in unserem weiten Sinne entgegenstellt.
Wenn das autistische Denken Vorstellungen hervorzubringen
sucht, die einer innern Tendenz, der momentanen Stimmung oder
irgend welchen Strebungen entsprechen, so braucht es keine Rücksicht
auf die Wirklichkeit zu nehmen; ob etwas wirklich, möglich, denkbar.
sei, ist für diese Vorgänge gleichgültig; sie haben zur Realität nur insofern
Beziehung, als sie ihnen Vorstellungsmaterial geliefert hat und noch
liefert, an das die autistischen Mechanismen anknüpfen, oder mit
dem sie operieren.
So kann das autistische Denken alle möglichen Tendenzen und
Triebe, die in einem Menschen stecken, zum Ausdruck bringen. Weil
in ihm die die Realitätsverhältnisse reproduzierende Logik nicht maß-
gebend ist, können die verschiedensten Wünsche nebeneinander
bestehen, ganz gleichgültig, ob sie sich widersprechen, und ob sie vom
Bewußtsein verworfen werden oder nicht. Im realistischen Denken, in
unserem Leben und Handeln werden eine große Zahl von Trieben und
Wünschen zugunsten der subjektiv wichtigen ignoriert, unterdrückt;
viele derselben kommen uns kaum je zum Bewußtsein. Im Autismus
kann alles zum Ausdruck kommen. Wieder Kind zu sein, um un-
befangen genießen zu können, und ein reifer Mann zu sein, dessen
Wünsche nach Leistungsfähigkeit, Machtfülle, großer Lebensstellung
erreicht sind; unendlich lange zu leben und dieses mühsame Dasein
mit dem Nirwana vertauscht zu haben; die Frau, die man liebt, zu
besitzen und sich die Freiheit zu wahren; heterosexuell und homo-
sexuell sich zu betätigen usw. usw. solche Widersprüche können neben-
einander, ja, im nämlichen autistischen Gedanken zum Ausdruck
kommen.
Auch dem rechtlichsten Menschen kommen in irgend einer Form
etwa unrechte Strebungen zum Bewußtsein. Wenn man einen Haufen
Geld sieht, so taucht — und sei es auch nur in der Form eines Witzes —
die Idee auf, sich den Reichtum anzueignen. Andere verbrecherische
Tendenzen, ein Wunsch z. B., daß verunglücken möchte, wer uns
irgendwie im Wege steht, sei es eine sonst geliebte Person oder eine
gleichgültige, fehlt wahrscheinlich niemandem, wenn auch solche
Regungen nicht direkt zum Bewußtsein zu kommen brauchen. Es scheint
sogar, daß gerade unterdrückte Triebe sich im Autismus mit be-
sonderer Stärke in den Vordergrund drängen, Es ist deshalb nicht
zu verwundern und ist weder für den Analysierten noch für den
8 E. Bleuler.
Analysierenden ein Zeichen schlechter Moral, wenn wir die Sexualität
mit ihren Perversitäten regelmäßig im Autismus finden!). Es ist auch
Tatsache, daß in der Regel bestimmte Triebrichtungen im Vordergrund
stehen und die anderen überwuchern und ins Schlepptau nehmen,
und daß besonders oft erotische Komplexe und in zweiter Linie andere,
deren Erfüllung aus inneren und äußeren Gründen am unmöglichsten ist,
und die im realen Leben am wenigsten abreagiert werden können,
das Übergewicht bekommen.
Da im autistischen Denken nicht wie im realistischen eine domi-
nierende Idee die anderen unterdrückt oder doch sich völlig unterordnet,
so können bei der Produktion einer und derselben autistischen Vor-
stellung viel leichter als sonst verschiedene Strebungen mitwirken.
So ist manches Traumbild, manche Wahnidee ein mixtum compositum,
nicht nur wegen der Menge und Verschiedenheit ihrer Bestandteile
(‚Verdichtung‘), sondern auch insofern, als sie zugleich verschiedene
Komplexe ausdrücken. Die Hyperdeterminierung, wie Freud
das letztere Phänomen genannt hat, wird hier zu einer selbstver-
ständlichen Erscheinung. Auch sie ist aber nicht etwas, das bloß
dem autistischen Denken angehörte. Auch das realistische Denken
ist unendlich viel komplizierter, als es nach den psychologischen
Lehrbüchern scheinen möchte; durch eine kleine Anzahl von
Determinanten ist eine Assoziation höchstens dann eindeutig
bestimmt, wenn wir die Möglichkeiten künstlich beschränken, wie
etwa durch Stellung einer mathematischen Aufgabe. Aber auch
hier sind bekanntlich Entgleisungen viel häufiger, als uns an-
genehm ist.
Die zweite Konsequenz der Ignorierung der Realität ist die,
daß die logischen Gesetze auch im Denkmaterial nur insoweit Geltung
ED sıe dem Hauptzwecke, der Darstellung unerfüllter Wünsche
7 re u Die inhaltlichen Widersprüche sind noch
Grade ne yn Pe nn.
le... en eben aus kennen. Der nämliche Patient
seiner Mutter und id un n a Ye N ke en ige an der Vater
in ae n 1 zıert sich schließlich noch mit dieser selbst;
denn 3 ihres irdischen Geliebten, zugleich aber auch
Re wieder der Heiland selbst, der zur Rechten Gottes
Seid übe ee selbst. Wenn solche Widersprüche nebeneinander
!) Die homosexuelle Kom 7; . .
B Kr ponente‘ hat in den meisten Fällen von Schizo-
phrenie, die ich genauer (analytisch) kenne, eine große Wichtigkeit.
Das autistische Denken. 9
bestehen können, so darf es nicht auffallen, wenn der Autismus alles
irgendwie gebotene Denkmaterial, und wenn es noch so unrichtig ist,
zu benutzen vermag, und wenn er beständig mit unvollkommen
gedachten Begriffen operiert und Begriffe, die nur eine objektiv recht
nebensächliche Komponente gemeinsam haben, füreinander eintreten
läßt, so daß die Ideen in den gewagtesten Symbolen ausgedrückt, und
daß diese Symbole oft verkannt und im eigentlichen Sinne aufgefaßt
werden, wobei das eine Ding für das andere auftritt, und es zu wirklichen
Verschiebungen kommt!). Der Patient möchte aus Eifersucht wegen
der Mutter dem Vater den Tod wünschen; auf dem Wege über ‚Er-
zeuger‘ identifiziert er auch in diesem Zusammenhang den Vater mit
der Mutter und sieht nun diese als tot. Die Liebe wird nach bekannter
Analogie mit dem Feuer symbolisiert, das der Schizophrene wieder
als real auffaßt und in Halluzinationen des Gebranntwerdens, d. h.
in wirkliche Empfindungen umsetzt.
Merkwürdig ist auch, wie weit der Autismus von den zeitlichen
Verhältnissen absehen kann. Gegenwart und Vergangenheit und Zu-
kunft mengt er rücksichtslos durcheinander. Vor Jahrzehnten für das
Bewußtsein erledigte Strebungen sind in ihm noch lebendig; Erinnerungen,
die dem realistischen Denken längst unzugänglich geworden sind,
werden wie frische benutzt, vielleicht sogar mit Vorliebe, weil sie
weniger auf Widerspruch mit der Aktualität stoßen. Gegenüber der
Wirklichkeit, also im realistischen Denken, sind eine Menge von Er-
lebnissen erledigt; es gibt keinen logischen Grund mehr, sie im Handeln
oder Denken zu berücksichtigen. Erinnerungen haben aber ihren Gefühls-
ton, der oft gerade durch den Gegensatz gegen die Wirklichkeit noch
erhöht wird, und dieser Gefühlston verwandelt sehr leicht die Vor-
stellung ‚‚wenn mein Vater noch lebte‘ ganz unmerklich in die andere:
„mein Vater lebt‘. Freud sagt, das Unbewußte sei zeitlos, das möchte
ich nicht unterschreiben; aber in bezug auf das autistische Denken
ist der Ausspruch insofern richtig, als es die zeitlichen Verhältnisse
ganz ignorieren kann, aber nicht ignorieren muß.
Der Gegensatz zwischen den beiden Funktionen ist aber auch
hier kein absoluter. Der Autismus verschmäht natürlich Begriffe und
Zusammenhänge, die die Erfahrung gegeben hat, durchaus nicht,
aber er benutzt sie nur insofern, als sie seinen Zwecken nicht wider-
1) Vom realistischen Denken werden Symbole auch benutzt, aber unter
normalen Umständen nur mit dem beständigen Bewußtsein, daß sie einen andern
Begriff vertreten.
10 E. Bleuler.
sprechen; was ihm nicht paßt, ignoriert er oder sperrt er ab (der ver-
storbene Geliebte wird so vorgestellt, wie er in Wirklichkeit war, aber
daß er gestorben ist, wird nicht vorgestellt). Umgekehrt beeinflussen
autistische Mechanismen auch unseren Erhaltungstrieb; die Ziele
unseres Handelns werden durch die antezipierte Lust und Unlust oder,
was dasselbe ist, durch die Lust- und Unlustbetonung von Zielvor-
stellungen bestimmt; wir erstreben das, was uns angenehm oder nützlich
oder gut erscheint.
In der bisherigen Beschreibung des autistischen Denkens bin ich
insofern einseitig gewesen, als ich die Direktion desselben durch unsere
Strebungen als wesentlich vorausgesetzt habe. Für die pathologischen
Fälle wird man allerdings auch kaum je einem andern autistischen
Denken begegnen. Man kann sich aber vorstellen, daß diese Direktive
zurücktritt. Wenn die Sonne mit Flügeln dargestellt wird, weil sie sich
am Himmel bewegt, oder gar mit Füßen, wie die meisten Wesen, die
wir sich fortbewegen sehen, so kann man allerdings auch ein affektives
Bedürfnis konstruieren, das der Erklärung der Bewegung oder das
der Darstellung. Das erstere entspricht noch einem allgemeinen, mit
Affekt betonten Trieb, das letztere allerdings ist nur unter bestimmten
Umständen vorhanden. Es erscheint geradezu gezwungen, hier affektive
Direktionen im nämlichen Sinne wie die bisher beschriebenen anzu-
nehmen. Es liegen da direkt keine Wünsche und keine Befürchtungen
der Gedankenrichtung zugrunde, sondern nur momentane Bestrebungen,
die man ebensogut wieder aufgeben könnte. Auch wenn z. B. ein Kind,
das gehört hat, daß der Magen die Küche des Körpers sei, sich eine
Küche, wie diejenige seiner Puppe, in seinem Leib vorstellt, die von
einem Koch mit weißer Zipfelmütze und grauer Kutte besorgt wird,
so können wir der affektiven Direktion keine wesentliche Bedeutung
ee en
erzeugen. en haben a, ne Er %
ae Nalkas ai e edeutung in der Mythologie
re - Diese rein intellektuelle Seite
Die ganze Darstellung b a Be aan ei), vi ee
wichtigen Ergänzun "die ich ii er nn a
a ch Fung nicht liefern kann. Bis
ema eingegangen; ich verweise auf
sein Kapitel „Über die zwei Arten d D Se '
es es Denkens“ im dritten Bande
Das autistische Denken. 11
Je nach dem Boden, auf dem das autistische Denken arbeitet,
finden wir es in bezug auf den Grad der Abweichung von der Realität
in zwei verschiedenen Ausprägungen, die nicht scharf voneinander ge-
schieden sind, aber in ihrer typischen Gestaltung doch recht große Unter-
schiede zeigen; die wesentliche Differenz liegt darin, daß in
einem Fallauchsonstfeststehende Begriffe dissoziiertundin
willkürlicher Weise neu gebildet werden können, im andern
nicht. Außerdem ist in der schwereren Form die Zahl der autistischen
Operationen im Verhältnis zu den realistischen eine viel größere. Der
Autismus des wachen Normalen knüpft an die Wirklichkeit an und operiert
fast nur mit normal gebildeten und feststehenden Begriffen. Nur die
Mythologie, in deren Wesen es liegt, sich aus Raum und Zeit hinaus zu
begeben, behandelt auch dıe Begriffe in äußerst freier Weise. Der Schlaf-
traum und der ausgesprochene Autismus der Schizophrenie sind voll-
ständig unabhängig von der Wirklichkeit und benutzen und schaffen
Begriffe, die aus beliebigen Eigenschaften zusammengesetzt sein und von
Augenblick zu Augenblick sich beliebig ändern können. Diesem Umstand
ist es zu verdanken, daß Schlaf und Schizophrenie einen sonst ganz
undenkbaren Unsinn komponieren können, während die übrigen au-
tistischen Produkte jedem Normalen sofort verständlich sind, so daß
er sich ohne Schwierigkeiten hineindenken kann.
Statt ganzer Begriffe und Gegenstände führt uns der Traum oft
nur diejenigen Bestandteile derselben vor, die er nötig hat. Sogar die
eigene Person wird oft nicht vollständig gedacht; man weiß oft nicht,
in welcher Stellung, ob stehend oder liegend usw. man war; Kleider
schafft sich der Träumende selten, auch wenn er sich nicht unbekleidet
denkt. Die Traumpersonen sind meist zusammengesetzt aus Eigen-
schaften verschiedener Personen. In der Dementia praecox kann der
Arzt in seiner wirklichen Rolle gedacht werden und zugleich vom
nämlichen Patienten als der Pfarrer N und der Schuster N und dann
oft noch als die Geliebte des Kranken. Die Diana der Epheser ist eine
andere als die in Athen. Apollo ist eine einheitliche Persönlichkeit,
aber es gibt auch einen Apollo, der nur Wärme und Licht spendet, und
einen andern, der sengt und tötet; ja, einen weiblichen Apollo kannte
man. Ganz so mit den Sachen und Sachvorstellungen und ebenso mit
abstrakten Begriffen. Begriffe treten füreinander ein, weil sie irgend
eine, oft nebensächliche Komponente gemeinsam haben; so kommt
es zu einer konfusen Symbolbildung. Auch dem Normalen verständlich
ist es noch, wenn die Liebe und eventuell auch der Geliebte durch
12 E. Bleuler.
sichtbare und brennend fühlbare Glut dargestellt wird. Manche andere
Symbole sind viel schwerer zu verstehen.
In den nämlichen Fällen wird dann auch viel vollständiger von
Realität und Logik abgesehen. Ein Traum, ein schizophrenes Delir
kann auch in bezug auf die Ideenverbi ndungen vollkommen unsinnig
sein und die gröbsten Widersprüche nebeneinander stellen, während
die autistischen Phantasien der Hysterischen und der Pseudologen
und der Gesunden mit Ausnahme vereinzelter logischer Sprünge ganz
vernünftig und verständlich erscheinen können.
Das die Wirklichkeit nur verzerrt wiedergebende Vorstellungs-
material des traumhaften und des schizophrenen Autismus ist der
Dissoziation in den Assoziationen der beiden Zustände zu verdanken,
auf deren Natur ich hier nicht eintreten kannt).
Aber es ist doch zu bemerken, daß Zustände hochgradiger Un-
aufmerksamkeit Dissoziationen hervorbringen können, die wir im ein-
zelnen von den beiden genannten Störungen nicht zu unterscheiden
vermögen, und daß die Mythologie, die doch wohl nur zu einem kleinen
Teil auf Traumideen zurückzuführen sein kann, mit den tollsten Sym-
bolismen und Begriffszerreißungen arbeitet.
Wir können also jetzt noch schizophrenen und traumhaften
Autismus in dieser Beziehung nicht prinzipiell von den übrigen Formen
trennen, aber quantitativ besteht doch ein so großer Unterschied,
daß die beiden Gruppen uns als wesentlich verschieden erscheinen?).
Eine besondere Stellung nehmen die Wahnbildungen der or-
ganischen Geisteskrankheiten ein. Wir sehen hier eine ganz
1) Vgl. Freud, Traumdeutung, und Bleuler, Dementia praecox in
Aschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie, beides bei Deuticke, Wien.
£. Jung und Freud sind geneigt, auch die Dissoziation bei der Schizophrenie
und beim Traume durch Affektwirkung zu erklären. Das schlechte Denkmaterial
wäre dann auch schon beim wachen Gesunden vorhanden und würde nur vom
autistischen Mechanismus mit Vorliebe benutzt; oder es würde durch die Be-
dürfnisse des Autismus selbst geschaffen, während wir lieber annehmen, daß
> ah, und in der Schizophrenie eine primäre Dissoziation vorhanden sei,
Bei Sg u starke — autistische — Wirkung der Affekte ermögliche. Für
Re, a . Er nn ’ Ansicht spricht, daß recht weitgehende Dissoziation sich
ER She An indet, z. B. in der Mythenbildung und bei abgelenkter
a ae) ; ür unsere Ansicht ließe sich verwerten, daß die Störungen
ee er aecox und des Traumes doch recht viel weiter gehen als die
erksamen, und daß wir die Assoziationsstörung der Schizophrenie
auch da nachweisen könn ’ ‘ 2
aufmerksamkeit sehen. en, wo wir keine Wirkung des Affektes oder der Un-
Das autistische Denken. 13
exzessive Affektwirkung, indem die manischen Zustände ausge-
sprochenen Größenwahn, die depressiven ausgesprochenen Kleinheits-
wahn produzieren. Die Reduktion der Zahl der gleichzeitig möglichen
Vorstellungen und Assoziationen (die hier mißverständlich auch etwa
Dissoziation genannt wird) erlaubt aber, daß diese Wahnideen zum,
Unterschied von denen des Manisch-depressiven ins Unsinnige gehen,
wodurch sie häufig große Ähnlichkeit mit dem schizophrenen Wahn
bekommen. Doch fehlen auch in dem fertigen Wahne die Unterschiede
nicht, so daß man in den Durchschnittsfällen die beiden Krankheits-
gruppen auch am Wahn erkennen kann. Es ist aber sehr schwierig,
den Unterschied allgemein zu charakterisieren. Für uns ist wichtig,
daß bei den organischen Krankheiten eine eigentliche Auflösung der
Begriffe nicht vorkommt, daß die Zerspaltung der Persönlichkeit und
namentlich die Absperrung von der Außenwelt fehlt, so daß es nur selten
zu einem wirklichen Autismus kommt. |
Bei den Idiotieformen spielt der Autismus bezeichnender-
weise keine große Rolle; wir sehen hier in dieser Beziehung die gleichen
Variationen, wie bei Gesunden, auf ein niedrigeres intellektuelles Niveau
herabgesetzt. Schwierigkeiten können nur gegenüber dem höheren
Blödsinn entstehen, dessen unklare Begriffsbildungen den zerrissenen
Begriffen der Schizophrenie gleich sein können und deswegen auch z.B.
Identifikationen ganz verschiedener Dinge erlauben.
Den Autismus der mannigfaltigen epileptischen Zustände
kann ıch aus Mangel an genügender Erfahrung nicht beschreiben.
Die autistischen Gedanken können flüchtige Episoden von
wenigen Sekunden Dauer sein, sie können aber auch das ganze Leben
ausfüllen und die Wirklichkeit fast ganz verdrängen wie beim ver-
blödeten Schizophrenen, der nur in seinen Träumen lebt und sich
füttern und kleiden läßt. Dazwischen gibt es alle Übergänge. Sei nun
die autistische Welt ein zusammenhängendes Ganzes, oder bestehe sie
nur aus einzelnen flüchtigen Gedanken, aus isolierten Wahnideen und
Sinnestäuschungen, die dann und wann das realistische Denken unter-
brechen, so ist sie, soweit sie zum Bewußtsein kommt, für die Kranken
eine Realität, deren Verhältnis zur Wirklichkeit nicht allgemein zu
beschreiben ist. In einem hysterischen Dämmerzustande wird meist
die direkte Wahrnehmung der Außenwelt ganz konsequent im Sinne
des Autismus umgedichtet: die Patientin befindet sich im Himmel,
im Verkehre mit Heiligen, und alle Sinneseindrücke, die dem wider-
14 E. Bleuler.
sprechen, werden im Sinne der Grundidee a, Ni Br
gar nicht apperzipiert. — Der Schizophrene mischt meist n =
in unlogischer Weise durcheinander; wo ihm Widersprüc e zum 2
wußtsein kommen, ist ihm die Welt des Wahnes die dominieren e,
diejenige, der die größere Realität zukommt, und nach der er zunächst
handelt. Wenn allerdings seine Energie nachgelassen hat, erlangen
meist die dauernden und konsequenten Einflüsse der Umgebung wieder
ein objektives — nicht subjektives — Übergewicht: der Kranke paßt
sich in vielem an den umgebenden Organismus einer Anstalt an und
nimmt mit der Wirklichkeit, mit Verpflegung dritter Klasse und mit
sehr untergeordneten Arbeiten vorlieb, in seinem Innern aber ist er
Kaiser von Europa geblieben, um den die ganze Welt sich dreht, und
für ıhn ist diese Kaiserwürde nach wie vor das Wichtige, dem gegen-
über das Bißchen Anstaltsleben überhaupt nicht in Betracht gezogen
werden kann. In sehr vielen Beziehungen, wenn auch gar nicht bei
jedem (innern oder äußern) Erlebnis verwischen sich beim Schizo-
phrenen die Grenzen von realer und autistischer Welt so sehr, daß
man oft den bestimmten Eindruck bekommt, für die Kranken bestehe
dieser Gegensatz nicht mehr. Wenn auch affektiv die autistische
Welt vorgezogen wird, so empfinden sie den logischen Unterschied
nicht mehr, genau wie manche Schizophrene ihre Schlafträume veri-
fizieren, auch wenn sie wissen, daß es sich nur um Traumerlebnisse
handelt.
Außerhalb der Schizophrenie hat der Autismus ein etwas anderes
Verhältnis zur Wirklichkeit. Auch der Pseudologe denkt sich mehr
oder weniger willkürlich ein Märchen und äußert dasselbe, zum Teil
unter Anregung von bestimmten äußeren Situationen; er benutzt es
z. B., um sich Geld zu erschwindeln. Er denkt sich dabei in seine Fabel
so hinein, daß er ‚‚seine Lügen selber glaubt“, sich oft längere Zeit
nicht gegenwärtig ist, daß er eine ihm nicht zukommende Rolle spielt,
aber, sobald er will, oder wenn die Umstände es mit sich bringen, z. B.
bei einer Untersuchung, ist er imstande, in allen Beziehungen die
Unrichtigkeit der Fiktion einzusehen.
N Die meisten normalen Menschen haben, namentlich in der J ugend,
irgend ein Märchen gesponnen; sie wußten es aber immer von der
Wirklichkeit zu trennen, wenn sie sich auch so gut in die geträumten
Situationen hineindachten, daß sie entsprechende Affekte empfanden.
einen ogaler Autiemus, Das Spiel der Phantasie an sich ka
sch sein. Die Neukombination von der Wirklich-
Das autistische Denken. 15
keit entsprechenden Ideen nach Analogie der realen Zusammenhänge
führt zu neuen Erkenntnissen, die wir, wenn sie eine gewisse Bedeutung
haben, Erfindungen oder Entdeckungen nennen. Dieser Vorgang ist
nicht autistisch. Was man aber gewöhnlich unter dem Spiele der Phan-
tasie versteht, sieht in einem oder vielen Punkten von der Wirklichkeit
ab und benutzt dafür willkürliche Voraussetzungen, es ist autistisch.
Je mehr der Wirklichkeit nicht entsprechende Voraussetzungen und
Zusammenhänge in einen Gedankengang aufgenommen sind, um so
autistischer ist dieser. Es gibt also Grade des autistischen
Denkens und Übergänge zum realistischen, aber nur in
dem Sinne, daß in einem Gedankengange autistische und
realistische Begriffe und Assoziationen in numerisch
verschiedenen Verhältnissen vorkommen können. Ein aus-
schließlich autistisches Denken in lauter Begriffen, die auf autistischem
Wege neu gebildet wären und nirgends nach logischen Gesetzen ver-
bunden würden, gibt es natürlich nicht.
Hysterische können, wie Pseudologen, zeitweise an ihr Märchen
glauben, ohne gerade in einem Dämmerzustande zu sein; aber die
Trennung von Wirklichkeit und autistischer Vorstellung ist bei ihnen
meist eine recht scharfe zum Unterschiede von der Pseudologia phan-
tastıca. Der hysterische Autismus geht ohne Grenzen nach der einen
Seite in das normale Tagträumen, nach der andern in den hysterischen
Dämmerzustand über.
Der Dichter, der wirkliche Dichter wenigstens, tut das gleiche.
Er reagiert seine Komplexe, seine affektiven Bedürfnisse mehr oder
weniger bewußt in einer künstlerischen Produktion ab.
In die meisten Spiele der Kinder mischt sich Autismus in
ähnlicher Weise ein wie in die Schöpfungen des Dichters. Dem kleinen
Mädchen sind ein paar Lumpen ein Kind; der Knabe auf dem Stecken-
pferde mit seinem hölzernen Säbel lebt seine Macht- und Kampfinstinkte
aus usw. Dichter und Kind legen meist mehr Realität in ihre Phan-
tasieschöpfungen hinein, als man zunächst zu glauben geneigt ist. Die
Lumpen werden wirklich geliebt, wie wenn sie das Kind wären, das
sie vorstellen; und Kleist wurde in Tränen aufgelöst gefunden, nachdem
er seine Penthesileia hatte umkommen lassen.
Am besten kennt der Normale den Autismus und das autistische
Denken aus dem Schlaftraume. Auch da gibt es keinen Zusammen-
hang mit der Wirklichkeit und keine intellektuellen Rücksichten auf
das Mögliche.
16 E. Bleuler.
Merkwürdig ist die mythologische Realität. Auch da, wo
sie Gedanken enthält, die vom Standpunkte der Logik aus als kom-
pletter Unsinn erscheinen, findet sie bei den Meisten wirklichen Glauben;
ja hervorragende Geister haben ihre Realität bei Konflikten über die
der sinnlichen Welt gestellt. Von da aus gibt es alle Übergänge durch
die Auffassung als Symbol, hinter dem mehr oder weniger Wirkliches
steckt, und durch die Anerkennung etwa im Sinne einer bloß poetischen
Wahrheit hindurch bis zur völligen Ablehnung.
Die autistische Abwendung von der Realität ist oft eine
aktive. Sie wird im Schlaftraume, wo sie am ausgesprochensten ist,
wohl durch die Schlafmechanismen selbst bewirkt. Bei der Schizo-
phrenie und beim hysterischen Dämmerzustand ist sie eine Teilerschei-
nung des autistischen Mechanismus selbst. Der Schizophrene will sich
nicht nur etwas seinen Wünschen Entsprechendes denken, er will sich
auch von der Wirklichkeit, die ihn ärgert und reizt, aktiv abwenden.
Dieses Streben findet seinen Ausdruck im Negativismus und in der
äußeren Abschließung von der Umgebung, die bei manchen schweren
Schizophrenen so auffallend ist. Der Widerwille gegenüber der Außen-
welt und gegenüber äußeren Reizen sperrt die Gedanken der Kranken
von den Vorstellungen der Realität und manchmal sogar von den
von ihr herrührenden Sinnesempfindungen ab, wie anderseits die Lust
an bestimmten irrealen Vorstellungen die Psyche diesen zuwendet.
Viele nicht negativistische Schizophrene wenden ihr bewußtes
Streben der Realität zu; die autistische Gedankenwelt drängt sich
ihnen aber auf in Form von Halluzinationen, Wahnideen, Automatismen
und ähnlichen Symptomen, die aus dem Unbewußten aufsteigen.
Eine gewisse Abwendung von der Realität besteht natürlich
auch im Wunschtraume des Gesunden, der sich Luftschlösser baut;
sie ıst da wohl meistens eine Art Willensakt; man will sich einer be-
stimmten Phantasie hingeben, von der man weiß, daß sie nur eine
Phantasie ist, aber sobald die Wirklichkeit es erfordert, wird die Ein-
bildung wieder gebannt.
_ Ohne einen deutlichen Grad von Abwendun vo
möchte ich das Spiel der nämlichen Mechanismen nicht a,
Wenn also der Manisch-Depressive seinen Stimmungen eseshend
Wahnideen bildet, so ist das eine pathologische Übertreibung der Affekt-
wirkung und den affektiven Denkfehlern der Gesunden analog, aber no h
nicht Autismus in unserem Sinne. Ob man trotzdem das affektive ek
auch hier noch als autistisches bezeichnen will, mag dahingestellt ie
Das autistische Denken. 17
Wollte man diese Frage bejahen, so wäre dann der Begriff des autistischen
Denkens weiter als der des Autismus.
Das Verhältnis des autistischen Denkens zu dem
realistischen ist ein in vielen Beziehungen gegensätzliches,
Das realistische Denken repräsentiert die Wirklichkeit, das auti-
stische stellt sich vor, was einem Affekt entspricht, unter gewöhnlichen Um-
ständen also das, was angenehm ist. Die realistischen Funktionen haben
den Zweck, eine richtige Erkenntnis der Umgebung zu schaffen, das
Wahre zu finden. Die autistischen wollen affektbetonte (meist lust-
betonte) Vorstellungen hervorbringen und die mit einem entgegen-
gesetzten Affekt betonten verdrängen. Die realistischen Mechanismen
regulieren unsere Beziehungen zur Außenwelt; sie dienen dazu, das
Leben zu erhalten, sich zu nähren, anzugreifen und sich zu verteidigen;
die autistischen schaffen direkt Lust durch Herbeiführung lustbetonter
Vorstellungen und halten Unlust ab durch Absperrung der Vorstellungen,
die mit Unlust verbunden sind. Es gibt also eine autistische und eine
realistische Befriedigung seiner Bedürfnisse. Wer sich autistisch be-
friedigt, hat weniger oder gar keinen Grund mehr zu handeln und auch
weniger Kraft dazu; die gesunden und die schizophrenen Träumer
sind bekannte Beispiele dafür. Beherrscht das autistische Denken einen
Menschen gar vollständig, so erscheint dieser nach außen apathisch,
stuporös.
Die Gegensätzlichkeit der beiden Funktionen kommt besonders
deutlich darm zum Ausdrucke, daß sie einander in gewissem Grade
hemmen. Wo die Affekte momentan oder in der Anlage die Oberhand
haben, wird das logische Denken unterdrückt und gefälscht im Sinne
des Autismus. Umgekehrt hindert die realistische Überlegung beim
normalen Menschen das Überwuchern des Autismus. Auch da, wo
autistische Ideen ausgesponnen werden, wird doch beim Gesunden
eine möglichst reinliche Trennung durchgeführt und ihr Einfluß auf
das Handeln beschränkt oder ganz unterdrückt.
Ist das logische Denken auf irgend eme Weise geschwächt,
so bekommt das autistische relativ oder absolut die Oberhand. Wir
können diese Fälle etwa in vier Gruppen teilen:
1. Dem Kinde fehlt die Erfahrung, die notwendig ist zur Hand-
habung der logischen Denkformen und zur Kenntnis der Möglichkeiten
in der Außenwelt. Wenn es Phantasie besitzt, bekommt diese im Sinne
des Autismus leicht das Übergewicht.
2. In Thematen, die unseren Kenntnissen und un-
Jahrbuch für psychoanalyt. und psychopathol. Forschungen. IV. 2
18 E. Bleuler.
serer Logik überhaupt nicht oder nicht genügend zugäng-
lich sind, oder wo der Atfektivität an sich die Entscheidung zufällt,
muß die Logik naturgemäß zurücktreten: In den Fragen „der letzten
Dinge“, der Weltanschauung, der Religion, der Liebe. Baia
3, Wo ausirgend einem Grunde die Gefühle eine ihnen
nicht zukommende Bedeutung erlangen, tritt die Logik
relativ zurück: in starken Atfekten und in der neurotischen Dis-
position respektive der Neurose.
4. Wo der Zusammenhang der Assoziationen gelockert
ist, verlieren diese natürlich ihre Bedeutung: im Traume des Ge-
sunden, in der Schizophrenie.
Ein ganz besonderes Verhältnis zum Autismus hat der Sexual-
trieb. Es ist schon Diogenes aufgefallen, der allerdings nur an das
physische Bedürfnis dachte, daß dieser allein autistisch befriedigt
werden könne. Es gibt Onanisten, Schizophrene, Neurotiker, denen der
physische und psychische Auterotismus einen Ersatz für die normale
Sexualbefriedigung bietet, ja, solche, die nur im Auterotismus die
eigentliche Befriedigung finden. Alle anderen Triebe und Komplexe
können in Wirklichkeit nicht autistisch befriedigt werden; mag man
sich das reichlichste Mahl im Schlaf- oder Tagtraume noch so lebendig
ausmalen, der Hunger wird dadurch auf die Dauer nicht gestillt. Das
wird neben dem Umstande, daß die Sexualität eben der ungleich
mächtigste Trieb des Kulturmenschen ist, ein wichtiger Grund sein,
warum das autistische Denken wenigstens in den pathologischen Fällen
so vorwiegend erotischen Komplexen dient!). Natürlich begünstigen
außerdem die Schranken, die der Ausübung sexueller Akte gestellt
sind, ein autistisches Ausleben.
In gewisser Beziehung ergänzen auch die beiden Funktionen
einander. Da, wo die Wirklichkeit unsere Wünsche nicht erfüllt, stellt
sie uns der Autismus als erfüllbar oder erfüllt dar. So hat die Ethik
des sozial lebenden Menschen mit Notwendigkeit den Begriff der
Gerechtigkeit und das gefühlsmäßige Bedürfnis geschaffen, daß Lust
und Leid nach Maßgabe des Verdienstes verteilt werden. In der Natur,
') Nach Freud ist die Sexualität beim Menschen zunächst eine ganz
auterotische, und es bedarf einer besonderen Entwicklung, daß die Libido ch,
. ach außen, auf Objekte, wirft. Ich muß dies nicht nur deshalb ablehnen, weil eine |
derartige Eintwicklung in der Phylogenese unmöglich wäre, sondern namentlich
deshalb, weilmir die Beobachtung der kleinen Kinder das Gegenteilzu zeigen scheint.
Das autistische Denken. 19
im Schicksale, in allem, was nicht von unserer menschlichen Ordnung
abhängt, sehen wir aber nichts von dieser Gerechtigkeit. Die Lücke
füllt die Religion aus, die Belohnung und Strafe nach unseren Prinzipien
der Gerechtigkeit verteilt, aber im Jenseits, wohin das realistische
Denken mit seiner Kritik nicht hinkommen kann.
Der individuelle Erhaltungstrieb mußte bei dem in die Zukunft
denkenden Menschen Furcht vor dem Tode oder, positiv ausgedrückt,
Wunsch nach todlosem Leben erzeugen; auch diese Wünsche erfüllt
die Religion. Das Kausalitätsbedürfnis, einer der wichtigsten Stimuli
unseres realistischen Denkens, kann an vielen Punkten nicht befriedigt
werden, die uns gerade als besonders wichtig erscheinen: die Mytho-
logien füllen die Lücke aus.
Logische Bedürfnisse sind es, die bewirken, daß die Begriffe da,
wo sie ungenügend sind, gern durch autistische Zutaten ergänzt werden;
die Sonne ist ein Mann, der in seinem Wagen über den Himmel fährt.
Die Krankheit ist ein selbständiges Wesen, das auf bestimmten Zauber.
reagiert usw. Je schärfer aber auf höheren Kulturstufen das Denken
wird, um so mehr ersetzen der Wirklichkeit genauer entsprechende
Vorstellungen das Denken in solchen Bildern und Symbolen, die nur
zu oft ım eigentlichen Sinne gedacht werden, und die mißverständlich
leicht für Realitäten gehalten werden.
Bei Freud steht das autistische Denken in so naher Beziehung
zum Unbewußten, daß die beiden Begriffe dem Fernerstehenden
leicht ineinander fließen. Wenn man aber, wie ich, unter dem Un-
bewußten alle diejenigen Tätigkeiten versteht, die den gewöhnlichen
psychischen in allen Beziehungen gleich sind, außer daß sie nicht
bewußt werden, so muß man die beiden Begriffe weit auseinander-
halten. Autistisches Denken kann im Prinzip ebensogut
bewußt wie unbewußt sein. Die unlogischen Auseinander-
setzungen der Schizophrenen und der Traum sind Äußerungen be-
wußten autistischen Denkens. In der Symptombildung der Neurosen
und in vielen schizophrenen Vorgängen ist aber die autistische Arbeit
eine ganz unbewußte. Bei den Neurosen kommen ihre Resultate in Form
der verschiedensten neurotischen Symptome zum Vorschein, bei der
Schizophrenie als primordiale Wahnideen, als Halluzinationen, Ge-
dächtnistäuschungen, Zwangsantriebe usw. Im ganzen ist natürlich das
autistische Denken häufiger Jenbewußt, das realistische vorwiegend
bewußt, weil das bewußte Denken im wesentlichen unsere Beziehungen
zur Außenwelt zu regeln hat.
2%
20 E. Bleuler.
‘stische Denken erreicht seine Ziele gar nicht immer
vollständig. Oft hat es seine Widersprüche in sich. Manche unserer
Vorstellungen, und zwar gerade der stark gefühlsbetonten, also der
am meisten zu autistischem Denken anregenden, sind ambivalent
(d.h. von negativen und positiven Gefühlen zugleich begleitet). Was
man erstrebt, hat auch seine unangenehme Seite. Der Geliebte hat
seine Fehler, er hat z. B. alle gewünschten persönlichen Eigenschaften,
aber nicht das Vermögen, das man wünscht, oder umgekehrt. Die
Frau, die ihren Gatten nicht liebt oder gar verabscheut, hat doch
positive Gefühle gegen ihn, z. B. weil er der Vater ihrer Kinder ist.
Der Wunsch, die Vorstellung, der Mann möchte tot sein, bringt also
auch schwere negative Gefühle mit sich, die sich in verschiedener
Weise, durch Verdrängung des ganzen Vorstellungskomplexes, durch
Angstgefühle und vielerlei Krankheitssymptome äußern können. Am
schlimmsten scheinen in dieser Beziehung die Gewissenskonflikte zu
wirken. Es ist begreiflich, ich möchte geradezu sagen, verzeihlich,
wenn eine Frau, die von ihrem Gatten nur Roheit zu erfahren hat,
gelegentlich den Wunsch aufkommen läßt, wenn er nur nicht mehr
da wäre, und es ist selbstverständlich, daß ihr ihre autistischen Funk-
tionen einmal mehr oder weniger bewußt im Wachen oder im Traume
diesen Wunsch als erfüllt darstellen, erfüllt mit oder ohne ihr Zutun.
Auch solche Vorgänge führen wieder zu Unlustgefühlen, zu Gewissens-
qualen, deren Ursprung ihre Träger oft gar nicht kennen, weil alles
im Unbewußten abgelaufen ist. Während man sich im realistischen
Denken Vorwürfe und Reue schafft über ein begangenes Unrecht,
erzeugt das autistische Denken die gleichen Qualen im Zusammen-
hange mit einem nur vorgestellten Unrecht; und diese „‚ein-
gebildeten‘ Leiden sind oft um so schlimmer, als ihnen die Logik nicht
beikommen kann, teils, weil es sich um eine autistische, von der Logik
unabhängige Funktion handelt, teils weil der Ursprung dem Träger
nicht bekannt ist. Wenn ein Kranker nicht weiß, warum er sich ängstigt,
so kann er sich nicht beweisen, daß er sich mit Unrecht ängstigt.
0 Selbstverständlich muß der Autismus, der unsere Wünsche als
erfüllt darstellt, auch zu Konflikten mit der Umgebung führen.
Man kann die Wirklichkeit ignorieren, sie macht sich aber immer
ra Een Unter nicht pathologisch zu nennenden Umständen
r Autistische die Hindernisse, die der Erfüllung eines
ner entgegenstehen, ohne den Wunsch als Halluzination oder
zu realısieren, nicht, er denkt etwa zu optimistisch und wird
Das aut
Das autistische Denken, 21
deshalb im Leben scheitern, oder er läßt sich durch das Leben, das
ihm nichts bietet von dem, was man in erster Linie erstrebt, abstoßen
und zieht sich auf sich selbst zurück. Unter pathologischen Umständen
muß die Natur der Hindernisse durch autistisches Denken umgestaltet
werden, wenn dieselben nicht vollständig ignoriert werden können.
Während der Autismus durch Erfüllung der Wünsche zunächst zu
expansivem Wahne führt, muß die Wahrnehmung der Hindernisse
auf den oben skizzierten Wegen Verfolgungswahn erzeugen.
Der Autismus ist oft selbst der Träger der Konflikte, die die
Affektwirkungen in uns schaffen. Ein Ereignis bei einem Normalen
seischmerzbetont. Der Schmerz hat, wie jeder andere Affekt, die Tendenz,
sich durchzusetzen, das Ereignis zu überdauern, auch auf andere
Erlebnisse zu irraduieren, kurz, eine andauernde, schmerzliche Stimmung
zu schaffen. Diese wird, abgesehen von der angenommenen Usur durch
die Zeit, auf die Weise überwunden, daß neue Erlebnisse ihre Affekte
durchsetzen. Dabei macht eine Freude allerdings den Schmerz ver-
gessen, oder sie kann ihn mildern, aber nur solange sie selbst besteht.
Das unangenehme Ereignis bleibt bei diesen Vorgängen erinnerungs-
fähig, wie jede andere Erfahrung. Anders, wenn die autistische Ab-
wehr gegen den Schmerz in Aktion tritt, sie sperrt ihn meist, zusammen
mit der schmerzbetonten Vorstellung, vom Bewußtsein ab. Ob es
möglich ist, auf diesem Wege einen Affekt ganz aus der Welt zu schaffen,
weiß ich nicht. Jedenfalls kommen unter normalen wie namentlich
unter pathologischen Umständen eine Menge solcher abgesperrter
Affekte wieder zum Vorschein, und Wirkungen von ihnen sehen wir
auch, ohne daß der Affekt als solcher dem Träger bewußt wird (in der
Mimik, in krankhaften Symptomen). Daraus ersehen wir, daß wenigstens
in vielen Fällen die betreffenden Affekte nur vom Bewußtsein abge-
spalten, nicht unterdrückt sind, und es ist dann selbstverständlich,
daß die allen Affekten innewohnende Tendenz, von der Seele Besitz
zu nehmen, nicht fehlt. Die „Verdrängung“ muß also (immer?) durch
die autistischen Mechanismen unterhalten werden, und umgekehrt
kommen in den Erscheinungen des Autismus die verdrängten Affekte
oder ihre Wirkungen zum Vorschein. Der Schizophrene oder auch
der schlafträumende Gesunde glaubt fälschlich einen Nahestehenden
gestorben und ist darüber untröstlich. Irgendwann ist in ihm einmal
die Idee vom Tode des Betreffenden in der Form eines Wunsches auf-
getaucht, aber sofort, gewöhnlich, bevor sie nur ins Bewußtsein kam,
unterdrückt worden, denn sie ist zu schmerzlich. Nun taucht sie im
22 E. Bleuler.
Autismus wieder auf und schafft dem Patienten mit der Erfüllung
des Wunsches einen Schmerz, den er hatte vermeiden wollen.
Manchmal schafft das autistische Denken, indem es einen Wunsch
erfüllt, einen Symptomenkomplex, den wir als Krankheit bezeichnen.
Der Bruch mit der Geliebten wird verdrängt und dafür ein Zusammen-
leben mit derselben halluziniert. Ein Gansersches Delirium oder ein
Faxensyndrom, d. h. eine unbewußte Simulation, können sowohl auf
autistischem Wege wie auf dem des realistischen Denkens zustande
kommen. — Immerhin wäre es dem bewußten Willen ohne Benutzung
der, wenn einmal entfesselt, spontan weiterwirkenden Affektmecha-
nismen nicht möglich, ein kompliziertes Krankheitsbild so konsequent
und so lange festzuhalten, wie es oft beim Ganserschen Syndrom
geschieht. Auch entspricht der Ausbruch eines solchen Delirs gar nicht
ımmer den Intentionen der ganzen Psyche, sondern nur einer mehr
oder weniger unterdrückten Teilstrebung, deren Realisierung manchmal
mehr Schaden als Nutzen bringt.
Auch in anderen Fällen liegt es im Zwecke des Autismus, eine
Krankheit zu schaffen. Diese soll z. B. dem Patienten erlauben, sich
den Anforderungen der Wirklichkeit, die ihm zu schwer sind, zu
entziehen (Flucht in die Krankheit). Das autistische Bedürfnis setzt
sich dann manchmal gegen die bewußten Tendenzen des Patienten
durch, der in Wirklichkeit durch die Krankheit schwer geschädigt
werden kann. Wenn die Abweichung vom Normalen nicht ganz so weit
geht, ermöglicht es der Autismus einem Menschen, zu schwärmen, statt
zu handeln!), sich mit unfruchtbaren Dingen abzugeben, Pläne zu
schmieden, die man nicht ausführen kann und deswegen nicht aus-
führen muß, unlösbaren Problemen nachzuhängen, bei denen eine
Entscheidung irrelevant oder überhaupt nicht zu fällen ist.
Macht eine schon bestehende eigentliche Krankheit, z. B. eine
latente Schizophrenie dem Patienten den normalen Zusammenhang
mit der Wirklichkeit unmöglich, so werden ähnliche Auswege gefunden:
und es ist mir sicher, daß ein Teil der Symptome gerade der Schizo-
phrenen Versuche sind, sich mit Krankheit und Wirklichkeit abzu-
finden; mißglückte „Heilungsversuche“ hat sie Freud genannt. Im
Sinne der Patienten glücken allerdings manche solche Versuche, indem
en von der Außenwelt zurückziehen und die halluzina-
vorısche Erfüllung ihrer Wünsche genießen können.
1) „Begreifst du nun : , .. x k .
RER: ‚ wie viel andächtig schwärmen I u gut
Das autistische Denken. 23
Alle die verschiedenen Arten von Konflikten, in die der Autismus
führt, bilden den Boden, auf dem der Verfolgungswahn erwächst.
Er hat im einzelnen natürlich recht viele Wurzeln und wir sind leider
noch nicht imstande, weder eine allgemeine Formel zu nennen, die
alle seine Entstehungsarten in sich fassen würde, noch alle die ein-
zelnen Momente aufzuzählen, die in den speziellen Fällen an seiner
Ausbildung mitwirken!). Wir können hier auch nicht auf wichtige
Momente, wie die Projektion von Gefühlen und von Ideen auf die
Umgebung, eingehen. Sicher aber entsteht der Verfolgungswahn meist
(oder immer?) dann, wenn die einer realisierbaren oder namentlich
einer autistischen Strebung entgegenstehenden Hindernisse gefühlt
werden. Die B. S. ist zwar die freie Schweiz, aber sie bleibt doch in
der Irrenanstalt eingesperrt; sie besitzt eine siebenstöckige Banknoten-
fabrik, bekommt aber keine einzige Note zu sehen. Der Erotomanische
kann sich noch so sehr von seiner Prinzessin geliebt glauben, er kommt
nie mit ihr zusammen. Wenn solche Patienten das Kausalitäts-
bedürfnis nicht vollständig verloren haben, so müssen sie diese widrigen
Umstände, sei es auflogischem, sei es auf autistischem Wege, als Folge
von feindlichen Machenschaften erklären und zu der Idee kommen,
verfolgt zu sein. — Daß diese Idee nicht ein bloßer Irrtum bleibt,
sondern die Gestalt einer Wahnidee annimmt, dafür sorgen die beglei-
tenden Affekte?) der Unzufriedenheit, der Bitterkeit, der Gereiztheit?),
die sich eben aus dem Widerspruch von Wahrnehmung und Wirk-
‘) Sein Inhalt wird im einzelnen durch die verschiedensten Zufälligkeiten
determiniert, z. B. durch das Zusammentreffen mit irgend einer bestimmten
Person. Die Art der Komplexe ist natürlich oft auch richtunggebend; so ver-
mutet Ferenezi (Zentralblatt für Psychoanalyse, I, 1911, S. 559), daß Ver-
giftungswahn dem Wunsche nach Geschwängertwerden entspringen könne (auch
bei Männern). In einem Falle von Dementia senilis bei einer kinderlosen Frau,
die sich spät verheiratet hatte, habe ich diesen Zusammenhang deutlich gesehen.
2) Auf logischem Wege kommt man nicht zu Wahnideen, sondern — wenn
Fehler gemacht werden — zu Irrtümern. (Vgl. Bleuler, Affektivität usw.)
®) Es gibt allerdings auch eine Lust des Verfolgtseins, namentlich für den,
der sich in eine gewisse Märtyrerrolle hineingelebt hat; sie mag bei der Ent-
stehung und der Erhaltung des Verfolgungswahnes mitwirken. Aber im großen
und ganzen ist das Verfolgtsein mit negativen Gefühlen betont, wenn nicht mit
depressiven im Sinne der melancholischen Verstimmung. Die rein depressiven
Zustände bilden deshalb auch keinen Verfolgungswahn; wenn der Melancholiker
glaubt, daß man über ihn zu Gericht sitze, daß man ihm etwas Scheußliches antun
wolle, so ist das für ihn keine feindliche Verfolgung, sondern eine verdiente
Strafe.
34 E. Bleuler.
lichkeit ergeben und sich zum Verfolgungswahn verhalten, wie die
pathologische Euphorie und Depression zum Größen- und Kleinheits-
wahne.
Aber auch der ganz Autistische, der seine Wünsche erfüllt sieht
und z. B. halluzinatorisch mit seiner Geliebten verkehrt, kann sich
dabei nur selten ganz befriedigt fühlen. Um genießen zu können, bedarf
man nicht nur der wirklichen oder halluzinatorischen angenehmen
Sinnesreize, sondern auch einer genügenden euphorischen Stimmung
oder der Fähigkeit, angenehme Reaktionen zu bilden. Es scheint nun,
daß der Prozeß der Dementia praecox an sich die Bildung solcher
positiven Gefühlstöne oft erschwere, sonst müßten die ‚„Lustmecha-
nısmen“ viel häufiger zur Ekstase oder sonst zu einem ganz hohen
Glücksgefühl führen, wenn man auch zugeben muß, daß eben auch
eine gewisse schöpferische Fähigkeit dazu gehört, sich ein vollkommenes
halluzinatorisches Paradies zu schaffen; diese Fähigkeit kann nicht
jeder besitzen, der schizophren wird. Auch die körperlichen Bedürfnisse
und Hinfälligkeiten müssen oft dem autistischen Glück im Wege
stehen. Es wird ja nicht möglich sein, sich dieselben auf die Dauer
autistisch vom Halse zu schaffen, wenigstens sehen wir im Traume
den Hunger oder das Bedürfnis zu urinieren, sich immer wieder melden,
nachdem sie halluzinatorisch befriedigt worden sind, und die beste
Suggestion wird einen dauernden, organisch bedingten Schmerz nur
temporär beseitigen.
Aber auch das restlose Erreichen ersehnter Ziele macht selten
glücklich. Schon in der Wirklichkeit verhält es sich so. Wer sich als
Höchstes dachte, 100.000 Mark zu erwerben, ist nur ganz ausnahms-
weise zufrieden, wenn er das erreicht hat, und das erträumte Glück
kann das Geld überhaupt nicht bringen. Die Ehe oder der als Ideal
ersehnte Gatte zeigt auch unangenehme Seiten, wenn man ihn einmal
hat. Sollte es mit den halluzinatorischen Befriedigungen viel besser
sein? Bei der sexuellen Liebe kommt aber noch ein wichtiger Umstand
in Betracht: ihre Ambivalenz. Die Erotik hat (namentlich bei Frauen)
auch eine starke negative Gefühlskomponente, die sich bekanntlich
unter normalen wie unter pathologischen Umständen sehr leicht als
Angst äußert.
Aus all dem wird es verständlich, daß trotz einer weitgehenden
halluzinatorischen Befriedigung bei Schizophrenie so oft Verfolgungs-
ag rei und die letzteren Ausführungen zeigen, warum auch
ebte regelmäßig zum Verfolger wird.
Das autistische Denken. 25
Das autistische Denken ist auch im wachen Leben des Gesunden
eine Macht, deren Bedeutung man sich nur schwer klarmacht. Unsere
Tagträume scheinen allerdings zunächst nur eine unschuldige Spielerei,
sie sind aber gar nicht ohne Einfluß auf unser Handeln, und in der
Form von Illusionen machen sie das: Leben schöner oder erträglicher,
aber auch zugleich gefährlicher. Auch alle echte Kunst wurzelt im
Autismus, und wenn auch unlogische Dinge darin keine Rolle spielen
dürfen, so ist ihr ein gewisser Grad von Ablösung von der Wirklich-
keit notwendig, und das Treibende und Gestaltende sind auch bei
ihr die Gefühle!). — Die Religion ist eine autistische Bildung. Die
Politik wird bei den Massen und auch bei vielen Führern in ihrer
Richtung vielfach sehr wenig durch Überlegung, aber sehr viel von
Instinkten, von suggestiven und autistischen Psychismen bestimmt.
So sind die Grenzen zwischen beiden Denkformen auch dem Gesunden
viel zu wenig bekannt, und auch er verliert oft den sicheren Boden
der Wirklichkeit, um zu seinem Schaden von autistischen Gebilden
genarrt und ins Verderben getrieben zu werden.
Innerhalb des Gesunden richtet der Autismus natürlich viel
Schaden an. Die Kreuzzüge und der Dreißigjährige Krieg waren ein
recht böser Aderlaß für einen großen Teil der damaligen Kulturvölker,
und wenn man im Kloster sich erhalten lassen kann, so kann sich doch
das Genus so wenig auf autistischem Weg ernähren wie das Hühnchen
ım Ei. Es gibt natürlich noch viele andere Formen, unnützen Ideen
zu leben oder sich Scheinbefriedigung zu verschaffen, die dem In-
dividuum auf Kosten der Gesamtheit in einzelnen Beziehungen das
Leben erleichtern. Es ist so hübsch, sein Mitleid an das phantasierte
Gretchen zu verschwenden, das kostet nichts als ein Theaterbillet.
Wenn aber das Gretchen im Leben den gleichen Faustschwärmern
nahe kommt, so findet es verschlossene Herzen und Beutel und einen
pharisäisch kräftigen Fußtritt. Denn es wäre unmoralisch, wie mir
eben ein wohltätiger Damenverein in einem bestimmten Falle klar-
gemacht hat, sich mit solchen Personen zu beschäftigen.
* *
*
Da das realistische Denken, die Fonction du reel, das Sichabfinden
mit den komplizierten Bedürfnissen der Wirklichkeit, durch Krankheit
viel leichter gestört wird als das autistische Denken, und dieses geradezu
1) Vgl. Bleuler, Freudsche Mechanismen in der Symptomatologie von
Psychosen. Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift, 1906, Marhold, Halle.
96 E. Bleuler.
durch Krankheitsprozesse in den Vordergrund gehoben werden kann,
nehmen französische Psychologen unter der Führung von Janet an,
die Realfunktion sei die höchste, die komplizierteste!).
Eine klare Stellung nimmt in dieser Beziehung aber nur Freud
ein. Er sagt es direkt heraus, daß in der Entwicklungsreihe seine Lust-
mechanismen das Primäre seien. Er kann sich den Fall denken, daß
der Säugling, dessen reale Bedürfnisse ohne sein Zutun ganz von der
Mutter befriedigt werden, und das sich entwickelnde Hühnchen im Ei,
das durch die Schale von der Außenwelt abgeschlossen ist, noch auti-
stisch leben. Der Säugling ‚„halluziniert‘‘ wahrscheinlich die Erfüllung
seiner inneren Bedürfnisse, verrät seine Unlust bei steigendem Reiz
und ausbleibender Befriedigung durch die motorische Abfuhr des
Schreiens und Zappelns und erlebt darauf die halluzinierte Befriedigung.
Dem kann ich nicht folgen. Ich sehe keine halluzinierte Befriedigung
des Säuglings, sondern nur eine nach wirklicher Nahrungsaufnahme?),
und ich muß konstatieren, daß das Hühnchen im Ei nicht mit Vor-
stellungen von Essen, sondern mit physikalisch und chemisch greif-
barer Nahrung sich emporbringt. Ich sehe auch beim etwas älteren
Kinde nicht, daß es einen eingebildeten Apfel über einen wirklichen
stellen würde; der Imbezille und der Wilde sind währschafte Real-
politiker und der letztere macht seine autistischen Dummheiten, genau
wie wir an der Spitze der Denkfähigkeit stehenden Menschen, nur da,
wo sein Verstand und seine Erfahrung nicht hinreicht: in seinen Ideen
über den Kosmos, die Naturerscheinungen, in der Auffassung von
Krankheiten und anderen Schicksalsschlägen und deren Abwehr,
und in sonstigen, für ihn zu komplizierten Zusammenhängen. Beim
Imbezillen ist das autistische Denken vereinfacht, ganz wie das rea-
') Man spricht in Frankreich auch von einem ‚sens de Ia r ealite‘“,
us (ER ee EN Unterscheidungsvermögen von Wirklichkeit und Ein-
E in AR a a in al Hauptsache etwas ganz anderes, aber es
a ek ii i Han ern zum Autismus, als der extrem Autistische,
ke Wirklichkeit ln e an „Dämmerige, seine autistischen Gebilde
Realität so eschohen wird jop Een en Br BR Ze En BE I
solcher Kranker etwas für Ei Sinne des na ee nn. Fan, Ob ‚ol
°) Das Neugeborene reagiert in allen sei je ala u 5 AR
und im Sinne derselben; wenn der Saugreflex bei RK ii “ des M Dn nn BT
andern Gegenstand als der Mamilla auch in Fonkeien Ä it er # EM FE
- n trıtt, so ist das gewiß nur
einem geringen Unterscheidungsvermögen (ob bewußt, oder unbewußt, lasse ich
dahingestellt) zuzuschreiben, wie es ji 1
z > n analoger Weise allen Refl
und für deren Aufgaben praktisch genügt. ii Dee
Das autistische Denken. 27
listische. Ich kann nirgends ein lebensfähiges Geschöpf finden oder nur
mir denken, das nicht in erster Linie auf die Wirklichkeit reagierte, das
nicht handelte, ganz gleichgültig, wie tief es stehe; und ich kann mir auch
nicht vorstellen, daß von einer gewissen Einfachheit der Organisation
an nach unten hin autistische Funktionen vorhanden sein können.
Dazu gehören komplizierte Erinnerungsmöglichkeiten. So kennt die
Tierpsychologie (außer einigen wenigen Beobachtungen an höchst-
stehenden Tieren) nur die Realfunktion.
Der Widerspruch läßt sich indes leicht lösen: Die autistische
Funktion ist nicht so primitiv wie die einfachen Formen
der Realfunktion, aber — in gewissem Sinne — primitiver
als die höchsten Formen der letzteren, wie wir sie beim
Menschen entwickelt finden. Niedere Tiere besitzen nur die
Realfunktion; es gibt aber kein Wesen, das ausschließlich autistisch
denkt. Von einer gewissen Entwicklungsstufe an tritt die autistische
Funktion zu der realistischen und entwickelt sich von nun an mit ihr.
Wir können in der phylogenetischen Entwicklung einige Etappen
herausheben, wenn diese auch, wie selbstverständlich, keine eigentlichen
(Grenzen gegeneinander haben.
I. Das Erfassen einer einfachen äußeren Situation und das Danach-
handeln: Nahrung ergreifen, einen Feind fliehen oder angreifen und dergl.
Es handelt sich also hier um nicht viel anderes als Reflexe, die bis zu einer
gewissen Differenziertheit und Kompliziertheit gehen können. Gefühle
der Lust und Unlust werden sie begleiten, jedenfalls aber kommt hier
der Affektivität keine besondere Rolle zu; sie ist nur die mit dem
speziellen Vorgang (Nahrung erfassen, Flucht) untrennbar verbundene
Veränderung des Allgemeinzustandes!).
Il. Es werden Erinnerungsbilder geschaffen und bei späteren
Funktionen benutzt, aber nur im Anschluß an äußere Reize, bei der
Ausübung realistischer Funktionen. Ein selbständiges Denken, einzig
in Erinnerungsbildern, ist zunächst wohl ausgeschlossen. Die entwickelt-
sten Erinnerungsbilder, die wir auf früheren Stufen kennen, sind wohl
die der örtlichen Orientierung dienenden; es ist aber nicht anzunehmen,
daß sie vereinzelt bleiben.
Hier ist nun bereits die Möglichkeit gegeben, daß allfällige an die
Erinnerungen geknüpfte Affekte auf die Auswahl der zu ekphorierenden
Engramme einen gewissen Einfluß ausüben. Die Ameise wird den Weg
!) Bleuler, Affektivität. Marhold, Halle.
28 E. Bleuler.
einschlagen, der sie zu Beute geführt hat — gewiß nicht, weil sie nun
„denkt“, da sei noch etwas zu holen, sondern weil die entsprechende
Engrammreihe positiv betonte Gefühle respektive Triebe in sich
schließt.
III. Nach und nach werden immer kompliziertere und immer
schärfere Begriffe geschaffen und unabhängiger von äußeren Einflüssen
benutzt, und
IV. werden die Begriffe ganz ohne Auslösung durch die Außenwelt
nach Maßgabe der Erfahrung kombiniert zu logischen Funktionen, zu
Schlüssen vom Erlebten aufs Unbekannte, vom Vergangenen aufs
Zukünftige; es wird nicht nur ein Abwägen verschiedener Eventualitäten,
die Wahlhandlung, ermöglicht, sondern auch ein zusammenhängendes
Denken, ausschließlich in Erinnerungsbildern, ohne Zusammen-
hang mit den eventuellen Sinnesreizen und Bedürfnissen.
Hier erst kann die autistische Funktion auftreten!). Da erst
kann man Vorstellungen haben, die mit lebhaften Lust-
gefühlen verbunden sind, Wünsche bilden und sich an ihrer
phantasierten Erfüllung ergötzen und die Außenwelt in
seiner Vorstellung umgestalten, indem man das Unan-
genehme derselben nicht denkt (abspaltet) und Angenehmes
eigener Erfindung hinzusetzt. Die Irrealfunktion kann also nicht
primitiver sein als die Anfänge des wirklichen Denkens, und sie muß
sich parallel mit diesem entwickeln. Denn je komplizierter und diffe-
renzierter Begriffsbildung und logisches Denken werden, um so genauer
wird einesteils ihre Anpassung an die Wirklichkeit, und damit um so
größer die Mö glichkeit der Loslösung vom Einflusse der Affektivität,
ro andernteils wird die Möglichkeit der Wirkung von gefühlsbetonten
un n se und von gefühlsbetonten Vorstellungen,
0 erhähh,.. Die isahlseichä
der Phantasie, während ai nn t es a Mannigfaltigkeit
innerungen ae der Ver SV Brtüblsbakontr ih
gangenheit und ebenso affektiver Vorstellungen
ER A
Bra h ” enn Ber allein aufgezogene Hündin (Gerard - Varet, Revue Scientif.,
f 4 eb ein Stück Brot wie ein Junges zu wärmen und zu säugen
Perl Bu 2“ De eine Instinktsfunktion, die sich mangels richtiger
unpassenden Objekt ausläßt, wie wenn das im Zi
nd i immer auf-
gezogene Eichhörnchen die Bewegungen macht, um Nüsse in den harten Boden
einzugraben. Das Kind aber, das ei M
die Vorstellung eines Baby. ein Stück Holz als Baby behandelt, hat bereits
Das autistische Denken. 29
über die Zukunft geradezu zum Phantasieren drängen. Mit ihrer Ent-
wicklung werden die Unterschiede der beiden Denkarten immer schroffer,
diese werden schließlich zu vollen Gegensätzen, die immer mehr und
immer schwerere Konflikte hervorzubringen vermögen, und wenn ın
einem Individuum die beiden Extreme sich nicht ungefähr die Wage
halten, so kommt es einerseits zum Träumer, der nur kombiniert,
mit der Wirklichkeit nicht mehr rechnet und nicht mehr handeln kann,
und anderseits zu dem nüchternen Wirklichkeitsmenschen, der vor
lauter Realdenken nur dem Augenblick lebt und nichts vorausberechnet.
Daß nun trotz diesem Parallelismus in der phylogenetischen
Entwicklung das realistische Denken als das entwickeltere erscheint, _
und eine Allgemeinstörung der Psyche regelmäßig die Realfunktion
viel stärker trifft, hat mehrere Gründe.
Das Wesentliche der Realfunktion kann man nicht auf die Welt
bringen; man muß es größtenteils im individuellen Leben erst erwerben.
Die Anlage, viele und scharf begrenzte Begriffe zu bilden, ist eine leere
Potentialität, so lange nicht reiche Erfahrung das Material für die
Begriffe und ihre Abgrenzung geboten hat; die logische Kombination
muß ebenso durch die Erfahrung erworben sein und ein noch so um-
fassend angelegter Geist kann nicht alle Faktoren einer komplizierten
Überlegung in Betracht ziehen, wenn ihm nicht die Erfahrung gezeigt
hat, was alles ın Betracht kommen kann und was nicht.
Das Realdenken arbeitet also nicht bloß mit einer angeborenen
Fähigkeit (‚Intelligenz‘), sondern auch mit Funktionen, die nur durch
Erfahrung und Übung des Einzelnen erworben werden können.
Solche Funktionen werden erfahrungsgemäß unendlich viel
leichter gestört als im Organismus begründete.
Ganz anders die vom Autismus benützten Mechanismen. Sie werden
mit uns geboren. Die Affekte, die Strebungen haben von Anfang an auf
unser Geistesleben diejenigen Einwirkungen, die auch das autistische
Denken leiten ; sie bahnen und hemmen die Gedanken entsprechend ihrer
eigenen Richtung und treffen ohne jede Überlegung eine Wahl zwischen
verschiedenen Möglichkeiten der Reaktion. Schon lange vor der Voll-
endung des ersten Jahres lassen sich beim Kind anscheinend kompli-
zierte Affektreaktionen finden. Es reagiert nicht bloß mit Liebe und
Liebesbezeigungen auf Liebe, mit Angst oder Weinen auf Drohung,
sondern z. B. auch mit Hohn auf Hohn, und dabei findet es oft einen
Ausdruck, der auffallend raffiniert erscheint und das wirklich wäre,
wenn er auf logischem Wege hätte gefunden werden müssen. Das Kind
30 E. Bleuler.
reagiert aber, sogar ohne Worte zu verstehen, schon auf den Affekt-
ausdruck eines andern, und sein eigener Aflekt weist ihm ohne Über-
legung und ohne Erfahrung, daß man der Liebe Liebe, der Drohung
Trotz oder ängstliche Unterwerfung entgegenstelli, und er bringt
automatisch nicht nur angeborene Reaktionen in Funktion (schmeicheln,
hauen usw.), sondern ordnet auch das geringe Vorstellungsmaterial,
das bis jetzt erworben werden konnte, entsprechend seinen Zielen.
Rosegger gibt!) von seinem vierjährigen Mädchen folgendes hübsche
Beispiel: „Ich fühle mich heute so müde und weiß nicht warum,“ sagte
ich zur Mutter. Redete das Gretchen dazwischen: ‚Bist schon groß,
Vater, und weißt es nicht? Große Leute wissen doch alles.“ ‚Kleiner
Naseweis!‘“ versetzte ich, „mehr weiß ich schon wie du.“ ‚Wir wollen
sehen,‘‘ antwortete das Kind. ‚‚Ich will dich fragen. Sage mir einmal,
Vater, warum das Bild einen Rahmen hat?“ ‚Weil der Rahmen zum
Bilde gehört,‘ war meine Antwort, von der es auch befriedigt schien.
Dann blickte es auf einen Blumenstrauß, der vor dem Spiegel stand, und
fragte: „Ist der Gott auch in den Blumen?“ ,‚,Ja freilich, mein Kind.“
‚Warum ist der Gott auch in den Blumen?‘ ‚‚Weil er überall ist.‘ ‚‚Ist
der Gott auch in den Blumen, die im Spiegel sind?‘ fragt die Kleine.
Ich fürchte, ihr glaubt mir nicht, aber ich versichere, daß das vierjährige
Kind aus sich selbst und ganz in dieser Reihenfolge die Fragen stellte und
mit der letzten, die einem Philosophen alle Ehre gemacht hätte, mich
in die Enge trieb. Wenn Gott überall ist, so sollte ich nun sagen, ob er
auch in den Blumen wäre, die gar nicht sind, sondern sich nur spiegeln !
Ein helles Auflachen von mir und meinem Weibe war die Antwort. Das
Mädel schaute verblüfft drein: was es denn da zu lachen gäbe? Es wollte
mich ja auf meine gerühmte Weisheit prüfen. ‚‚Also weißt du mehr als
ich, Vater?‘ „Ja, ich weiß, daß du ein loser Schnabel bist.“ Einen Augen-
blick besann es sich, ob es den Schnabel auf,sich sitzen lassen könne, denn
Gretel ist in bezug auf ehrenrührige Bezeichnungen empfindlich: ‚‚Schnabel
Pi Baie Schande,‘ sagte sie endlich, „die lieben Vögelein haben auch
chnäbel.‘
Eine solche Affektreaktion ist auch das Lügen ganz kieiner Kinder.
Es gibt sonderbarerweise Erzieher, die sich über derartige Vorkommnisse
nicht nur moralisch entrüsten, sondern sich auch verwundern, wie die
einfache kindliche Seele so etwas zustande bringe. Wenn aber das
Kind gefragt wird, ob es den Apfel genommen habe, und es weiß, daß
es Prügel bekommt, wenn es ja sagt, aber keine, wenn es nein sagt,
so gibt es darauf zwei Reaktionsformen. Die eine ist die Überlegung,
daß es den Apfel gegessen habe, und daß es notwendig sei, dies zu sagen;
die andere ist die einfache alfektive Reaktion, daß man etwas Un-
!) „Das Buch von den Kleinen‘, Leipzig, 1911, Staackmann, S$. 107.
Das autistische Denken. 3l
angenehmem aus dem Wege geht. Es wird also ohne besonderes mora-
lisches Training in der Regel seinem Affekte, seinem Instinkte folgen!),
so gut wie es schreit und ausweicht, wenn man ihm eine schmerzhafte,
körperliche Operation machen will, wobei es gar nichts hilft, ihm die
intellektuelle Überzeugung beizubringen, daß die schmerzhafte Pro-
zedur ihm in der Zukunft nützlich sein werde. Man verwundert sich
auch darüber, wenn ein Neger heute einen Diebstahl strikte ableugnet,
den er gestern unter anderen Umständen zugegeben hat. Für den Neger
ist das kein Widerspruch. Gestern verstand er die Konsequenzen nicht,
oder er erwartete für sein Geständnis Verzeihung und eventuell Be-
wunderung, heute sieht er ein, daß er gestraft werden wird: davon
leitet er sein Verhalten ab, und er hat eben so viel Recht, sich über die
Verständnislosigkeit der Gegenpartei zu verwundern als der Euro-
päer?). Gehen wir zu den Tieren hinunter, so sehen wir, daß z. B. auch
Hunde lügen können.
Gleich wie mit den Lügen ist es mit den Ausreden, die sich oft,
der affektiven Regung folgend, viel leichter präsentieren als die Wahr-
heit, und zwar auch bei kleinen Kindern gelegentlich in merkwürdiger
Kompliziertheit.
Dieses Verhalten wird verständlicher, wenn man sich klar macht,
daß sich die einfache Natur überhaupt ohne affektiven Grund nicht
äußert. Die Sprache ıst ihr nichts als die Dienerin des Begehrens.
Es liegt ihr durchaus ferne, einen Tatbestand objektiv in Worten
zu konstatieren. Das kleine Kind spricht sich über das aus, was
es interessiert, was positiv oder negativ gefühlsbetont ist’). Ver-
‘) Ein zwanzigjähriger Polytechniker, der an kleinen Diebstählen erwischt
worden war und zunächst leugnete und sich der Verhaftung tätlich widersetzte,
gestand bald darauf ohne Hemmung mehr als nötig war. Auf den Widerspruch
aufmerksam gemacht, äußerte er: „Ich glaube, es muß ein ungeheuer gewiegter
Verbrecher sein, der das alles eingestehen kann. Wenn man alles sofort gesteht,
so ist es ja auch schön, aber man kann es nicht im ersten Moment. Da lehnt sich
alles in einem dagegen auf, obschon man später gerne gesteht.‘
2) Klaatsch (Kongreß für Kriminalanthropologie, Köln, Oktober 1911)
charakterisiert die Australneger u. a.: Mangelhafter Sinn für Wahrheit. Lügen-
haftigkeit aus Unfähigkeit, das Reale zu unterscheiden. Einige Individuen erheben
sich darin über die übrigen, die Zauber-Priester-Doktoren. — Man sagt, daß
die Weddas nicht lügen. Wenn es auch nur teilweise wahr wäre, so lohnte sich
eine genauere Untersuchung des Zusammenhanges dieser merkwürdigen
Eigenschaft,
®) Einzelne an sich irrelevante Aussprüche erweisen sich etwa als Imi-
tationen von dem, was ihm die Großen vorsagen usw.
39 E. Bleuler.
langt man von ihm eine Konstatierung ohne einen solchen Zusammen-
hang, so versagt es leicht. Ausfragen und Verhören von Kindern und
Wilden scheitert ja gern daran, daß sie nicht antworten, was den Tat-
sachen entspricht, sondern das, was ihrem Flair nach der Frager von
ihnen erwartet und wünscht. Der Ton der Frage, nicht ıhr Inhalt,
bedingt hier die Antwort. Wo kleine Kinder eine Aufgabe nicht ge-
nügend verstehen, antworten sie meist in den Tag hinein. „Ich weiß
es nicht“, bekommt man unter diesen Umständen gar nicht selten zu
hören; diese Redensart bedeutet bei Kindern viel mehr ‚ich mag nicht
antworten“. Auf eine Rechenaufgabe antworten sie meist mit einer
beliebigen Zahl und wollen nicht verstehen, daß man damit nicht
zufrieden ist. Auf die Frage, welche von zwei Linien die größere sei,
antworten sie z. B. damit, daß sie den Zwischenraum zwischen den
Linien zeigen; gibt man ihnen zwei Schachteln mit der Frage, welche
schwerer sei, so greifen sie, ohne zu vergleichen, aufs Geratewohl nach
einer derselben und zeigen sie als die schwerere. Solche Reaktionen
kommen bei der Schizophrenie wieder vor, sind aber dem normalen
Erwachsenen fremd.
Die angeborene Natur der autistischen Denkformen zeigt sich
mit besonderer Aufdringlichkeit in der Symbolik. Diese ist überall,
von Mensch zu Mensch, von Zeitalter zu Zeitalter, von Rasse zu Rasse,
vom Traum zur Geisteskrankheit und zur Mythologie von einer un-
glaublichen Einförmigkeit. Eine ganz beschränkte Anzahl von Motiven
liegt vielen Hunderten von Sagen zugrunde. Immer sind es die näm-
lichen wenigen Komplexe, die zur Symbolik Anlaß geben, und auch
die Ausdrucksmittel sind die nämlichen. Der Vogel, das Schiff, das
Kästchen, das die Kinder bringt und die Sterbenden wieder an den
geheimnisvollen Ursprungsort zurückträgt, die böse (Stief-)Mutter
USW. USW. wiederholen sich immer und besagen überall das gleiche,
Die Vorstellung vom Kreislauf des Lebens, der die Alten wieder mit
oder ohne Verkleinerung zurück in den Uterus oder an irgend einen
andern Ort bringt, wo die Kinder herkommen, gehört jetzt noch zur
selbstgemachten Weltanschauung des zwei- bis vier jährigen Kindes, wie
sie aus den Mythologien und Sagen früherer J ahrtausende hervortriit,
schen Fabulation, Ja, diese wird von den '
Widerspruch gegen die elterliche Autorität festgehalten und ausgebildet.
Das autistische Denken, 38
Symbole, die wir aus längst vergangenen Religionen kennen,
finden wir wieder in der Wahnbildung unserer Schizophrenen ohne
jeden Zusammenhang mit der untergegangenen Welt. Es wird gewiß
auch hier nicht richtig sein, wenn man von angeborenen Ideen spricht;
aber wenn man sich mit diesen Dingen beschäftigt, drängt sich doch
eine ähnliche Vorstellung immer wieder auf, und jedenfalls gibt es ın
der autistischen Symbolik eine allen Menschen angeborene Ideen-
richtung.
Die Einförmigkeit des autistischen Denkens ist denn auch in der
Psychopathologie der Wahnsysteme schon längst aufgefallen. Viel-
leicht finden wir hier den Schlüssel, der uns auch jene merkwürdige
Einförmigkeit der Symbolik erklären wird. Es handelt sich wohl eben-
falls um affektive Mechanismen, wenn sie auch in etwas anderer Weise
wirken als diejenigen, die direkt die Wahnrichtung bestimmen. Hier
erlauben die Affekte nur ein Denken in ihrem Sinne. Bei der Symbolik
werden Affektbetonungen die Assoziationen leiten. Wenigstens sehen
wır, daß als Symbole des männlichen Genitales in der Schizophrenie fast
ausschließlich, und im Traume mit einer gewissen Vorliebe, Dinge
gewählt werden, die nicht nur irgend eine äußerliche Ähnlichkeit mit
dem zu Bezeichnenden haben, sondern solche, die zugleich ein gewisses
Gruseln erwecken. Der Gefühlston muß also hier das affektive Binde-
glied sein. Ob und inwieweit man diese Beobachtung verallgemeinern
darf, ist mir noch nicht klar. Mitwirken mag auch, daß das Zunächst-
liegende überall das nämliche ist. Nirgends z. B. fehlen die ver-
schiedenen Anlässe, die in das Verhältnis von Mutter und Tochter
etwas wie Eifersucht und Feindseligkeit hineintragen können, während
die intimeren Beziehungen zwischen Vater und Tochter fast nur durch
individuelle Schwierigkeiten gestört werden. Feindschaft zwischen
Kind und Mutter sieht und sah man aber offenkundig immer bei der
Stiefmutter oder der Schwiegermutter, fast nie bei der echten Mutter.
Da muß es überall naheliegen, die feindliche Mutter als Stiefmutter
oder Schwiegermutter zu bezeichnen.
Das autistische Denken bedarf allerdings auch des Erfahrungs-
materials: um sich Prinz zu träumen, muß man ungefähr wissen, daß
ein Prinz einer ist, der alles haben kann, namentlich auch die schönste
Prinzessin, und der bestimmt ist, später ein sorgloses Leben als König
zu führen. Um sich reich zu träumen, muß man wissen, daß man mit
Geld viele gute Dinge kaufen kann usw. Solche Begriffe sind aber
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. IV. 3
34 ‘- E. Bleuler.
so leicht zu erwerben, daß sie in der frühen Kindheit jedes einzelnen
schon da sind und kaum durch die schwerste allgemeine Hirnkrankheit
ausgelöscht werden können. Schärfere Begriffe und zwingende Zu-
sammenhänge sind dem Phantasieren geradezu hinderlich. Das Kind
kann sich noch über die Vorstellung freuen, daß es einmal Prinz werde;
dem Erwachsenen bleibt die Unmöglichkeit der Wunscherfüllung
gegenwärtig, und er wird höchstens einmal in einer besonderen Laune
sagen können: „Wenn ich Prinz wäre, ..... “ Wichtig ıst auch,
daß es für die realistische Funktion nur ein richtiges Resultat gibt,
während der Autismus die „unbegrenzten Möglichkeiten besitzt‘ (Jung)
und sein Ziel auf die verschiedenste Art erreichen kann. So können uns
die Unterschiede bei gutem oder schlechtem Funktionieren auch bei
extremem Schwanken nicht groß erscheinen. Während zwischen der
falschen und der richtigen Lösung einer Rechnung, zwischen einem
falschen und einem richtigen Schluß ein prinzipieller Gegensatz besteht,
ist das Märchen eines Kindes und das eines Genies in bezug auf seinen
autistischen Zweck und die subjektive Erfüllung des Zweckes gleich-
wertig. Sind die Begriffe unscharf geworden, die logischen Funktionen
ungenügend, so kann das realistische Denken nur noch zu unrichtigen
Resultaten kommen, das autistische aber wird durch einen solchen
Fehler nicht nur nicht gestört, sondern geradezu gefördert, indem er
mehr Denkmöglichkeiten, wie Identifikationen und verifizierte Symbole,
erlaubt. So ist die richtige Kombination in Wirklichkeit eine viel
höhere Leistung als die bloß wunschgemäße. Die eine ist ein Freuden-
schießen, bei dem es nur knallen muß; die andere will ein bestimmtes
Ziel, und nur dieses, treffen.
Wenn nun das autistische Denken im großen und ganzen als
eine der Art schädliche Verirrung erscheinen muß, wie konnte eine
phylogenetisch so junge Funktion so große Ausdehnung und Macht
erreichen, daß das autistische Denken schon bei vielen Kindern nach
dem zweiten Jahr einen großen Teil ihrer psychischen Funktionen
beherrscht (Spielen, Wachträumen), daß es bei Erwachsenen so leicht
in den Vordergrund tritt, daß es fähig ist, Völker und Klassen in grau-
samem Verniehtungskampf hintereinander zu hetzen, und daß es bei
vielen krankhaften Störungen der Realfunktion sofort di
Psyche in Besitz nehmen kann? Su
Da ıst zunächst hervorzuheben, daß die ganze Tierreihe darauf
eingestellt ist, Lust zu suchen und Schmerz abzuwehren, der Lust-
Das autistische Denken. 35
erwerb ist subjektiv geradezu zum Selbstzweck geworden. Das Lust-
betonte ist eben im großen und ganzen das dem Individuum oder der
Art Nützliche, das Unlustbetonte das Schädliche. Nun kann das Prinzip,
auf dem die Existenz der animalischen Wesen und die Organisation
ihrer Psyche aufgebaut ist, nicht wohl plötzlich deshalb verlassen
werden, weil nun auf einer gewissen Stufe eine Gefahr in der Anwen-
dung eines neuen Prinzips eintritt. Der höhere Organismus muß die
Gefahr überwinden oder zugrunde gehen. Es ist auch möglich, daß
es schon Hemmungseinrichtungen gibt, die dem Überhandnehmen
des Autismus entgegengestellt sind, jedenfalls aber schafft das drin-
gende Bedürfnis des Lebens bei allen gesunden Wesen ein gewaltiges
Gegengewicht!). Im wesentlichen indessen muß das Genus sich mit der
Existenz des Autismus abfinden. Ein gewisser Grad desselben kann
leicht ertragen werden, und nur ein Übermaß wird deletär. Nun ist die
Abgrenzung zwischen Mäßigkeit und Unmäßigkeit auch hier eine
sehr schwierige; der Autismus wird also auch in seinen deletären Formen
nie ganz zu überwinden sein. Auch der intelligenteste Kulturmensch
ist nie in allen Fällen imstande, sicher zu erkennen, was realistisch
gedacht ist, und was Einbildung ist; vieles ist möglich geworden, was
zu anderen Zeiten unmöglich schien. Die mäßigen Trinker halten die
allgemeine Durchführung der Abstinenz für eine Utopie, die Abstinenten
halten die Durchführung einer wirklichen Mäßigkeit für eine Utopie.
Unsere Schlüsse entfernen sich eben so weit von dem Material, auf das
sie basiert werden, daß Täuschungen alle Augenblicke vorkommen
müssen. |
So ist nicht anzunehmen, daß durch Auslese je dieses schranken-
lose neue Feld der affektiven Betätigung ganz verschlossen werde,
und zwar um so weniger, als der Autismus auch so, wie er jetzt ist,
einen positiven Wert hat. Der antezipierte Lustreiz zwingt zu Über-
legung vor einem Unternehmen, zur Vorbereitung auf dasselbe und
!) Ein hübsches Beispiel, wie die Schädlichkeit des Autismus durch die
Lebenskraft aufgewogen wird, berichtet Nieuwenhuis (Quer durch Borneo,
Leyden, 1907, Brill, Bd. IL, S. 486): Die Taldajaken auf Borneo stammen von
den Bergdajaken ab und haben den Aberglauben ihrer Väter übernommen. Sie
sind aber zum Unterschiede von ihren Brüdern im Hochlande durch die Malaria
geschwächt. Wenn nun ein ungünstiges Zeichen, z. B. das Erscheinen eines
gewissen Vogels, ein Vorhaben als unglücklich bezeichnet, so sind sie um keinen
Preis zu bewegen, den Plan doch auszuführen, was auf Reisen oft zu einer Ka-
lamität wird, während ihre kräftigeren Stammesgenossen durch den gleichen
Glauben sich nicht am Handeln hindern lassen.
3*
36 E. Bleuler.
fördert die Energie im Streben. Während die Tiere, namentlich die
niedrigeren, mit ihrem geringen Vorstellungsvermögen und ihrem
rudimentären Gedächtnis oft merkwürdig wenig Ausdauer in der
Verfolgung eines Zweckes besitzen, kann der Mensch sich in der Höhle
für die Jagd begeistern, sich Pläne und Waffen voraus schaffen, und
diese Tätigkeit geht ohne Grenzen in das eigentliche autistische Denken |
über. Es wird ja auch in früheren Stadien schon Leute gegeben haben,
die im bloßen Plänemachen ihren energielosen Tatendurst gelöscht
haben, und wenn die Künstler der paläolithischen Höhlenzeit durch
ihre Jagdszenen oder Tyrtäus durch seine Kriegslieder!) zur Anspannung
der Energie anreizten, so mag es doch auch früher schon, wie jetzt,
Naturen gegeben haben, die sich mit autistischem Jagen und Krieg-
führen begnügten, sei es, daß sie selbst Künstler waren oder nur die
Kunst der anderen genossen. Ich glaube, daß dies das beste Beispiel ist,
zu zeigen, wo die Grenzen ungefähr sind zwischen schädlichem und
nützlichem Autismus, und wie unbestimmt sie sind. Die Kunst, wenn sie
anregt und die Lebensenergie steigert, ist nützlich, sie ist schädlich,
wenn sie an Stelle der Taten tritt, und wenn das ästhetische Bedürfnis
so überhand nimmt, daß man es nicht mehr aushält ohne künstlerische
Gestaltung seiner Umgebung.
Ein ähnlicher Nutzen ist das Abreagieren. Es ist in vielen Fällen
nicht möglich, unangenehme Erlebnisse in passender Weise nach
außen abzureagieren, sich die Geliebte zu erkämpfen, die sich einem
andern zugewandt hat, einen Verleumder totzuschlagen, wie es sich
gebührt usw. Da aber unser Organismus doch auf Entladung solcher
Reize eingerichtet ist, so kann die Reaktion in der Phantasie, im Traum,
durch ein Kunstwerk, ihren Nutzen haben. Die Gefahr der Übertreibung
ist aber sehr groß, und die Zahl derjenigen, die sich nach einer Ent-
täuschung aus dem Leben zurückziehen und mit dem innern Ab-
reagieren nicht fertig werden wollen, ist keine kleine.
Ein weiterer Nutzen des Autismus besteht in der ausgedehnten
Gelegenheit, die er zum Üben der Denkfähigkeit gibt. Das Kind
kann noch viel weniger als der Erwachsene beurteilen, was alles möglich
ist, und was nicht. In seinen Phantasien steigert es aber seine Kom-
binationsfähigkeit so gut wie die Körpergewandtheit in den Bewegungs-
spielen. Wenn es Soldat oder Mutter spielt, übt es notwendige Vor-
') Es sei auch an die Krieostä nd
' gstänze der Indian i - }
oft zu einem autistischen Taumel ausarten er erinnert, die allerdings
Das autistische Denken. 37
stellungs- und Gefühlskomplexe im gleichen Sinne ein, wie das spielende
Kätzchen sich für den Fang von lebenden Tieren vorbereitet. Dort
besteht aber die Gefahr, daß man sich nicht im richtigen Moment vom
Traume loslösen kann, um den Sprung in die Wirklichkeit zu machen.
An dieser Klippe scheitern z. B. die Pseudologen beständig.
Ein ganz geringer Grad von Autismus darf aber auch mit Nutzen
ins Leben hinausgetragen werden. Was von den Affekten im allgemeinen
gilt, hat auch in dieser speziellen Anwendung ihrer Mechanismen
Gültigkeit. Eine gewisse Einseitigkeit ist zur Erreichung mancher Ziele
nützlich. Man muß sich sein Ziel als erstrebenswerter vorstellen als
es ist, um seine Begierde zu steigern, man darf sich nicht alle Schwierig-
keiten und deren Umgehung genau vorstellen, sonst kommt man vor
lauter Überlegung nicht zum Handeln und vermindert seine Energie.
Eine wirkliche Begeisterung ist undenkbar ohne Autismus, teils als
Begleitsymptom, teils als verstärkende Ursache. Wer die Menge hinreißen
will, darf nicht alle Vorbehalte fühlen, geschweige denn denken und
aussprechen.
So wird wohl das autistische Denken sich auch zukünftig parallel
dem realistischen entwickeln und sowohl Kulturwerte schaffen helfen, als
Aberglauben und Wahnideen und psychoneurotische Symptome erzeugen.
Resume.
Es gibt ein Denken, das unabhängig ist von logischen Regeln
und an deren Statt durch affektive Bedürfnisse dirigiert wird (au-
tistisches Denken).
Es kommt am ausgesprochensten in der Dementia praecox und
im Traum vor, dann in Mythologie und Aberglauben und in den Tag-
träumen des Hysterischen und des Gesunden, und in der Poesie.
Das autistische Denken kann für seine Zwecke ganz unlogisches
Material benutzen; Klangassoziationen, zufälliges Zusammentreffen
von beliebigen Wahrnehmungen und Vorstellungen können an Stelle
logischer Assoziationen treten. Unvollständig gedachte Begriffe, falsche
Identifikationen, Verdichtungen, Verschiebungen, Symbole, die den
Wert von Realitäten bekommen, und ähnliche abnorme Psychismen
bilden zu einem Teil das Material, das vom autistischen Denken
benutzt wird. Normales Material und normale Gedankengänge werden
aber, wie selbstverständlich, neben den abnormen durchaus nicht
verschmäht.
38 E. Bleuler.
Das der Realität entsprechende logische Denken ist eine gedank-
liche Reproduktion solcher Verbindungen, die uns die Wirklichkeit
bietet. Due
Das autistische Denken wird durch die Strebungen dirigiert;
im Sinne der Strebungen wird gedacht ohne Rücksicht auf Logik und
Wirklichkeit. Die den Strebungen zugrunde liegenden Affekte bahnen
nach den bekannten Gesetzen ihnen entsprechende Assoziationen und
hemmen widersprechende.
Zu unseren Tendenzen gehört es, nicht nur den von außen kom-
menden Schmerzen auszuweichen, sondern auch denen, die durch
bloße Vorstellungen erzeugt werden. So besteht der Erfolg des au-
tistischen Denkens zunächst hauptsächlich darin, sich angenehme
Vorstellungen zu verschaffen, unangenehme zu verdrängen. Wünsche
als erfüllt sich zu denken, ist eine Haupttätigkeit des Autismus.
Wo aber eine negative Stimmung vorhanden ist, kann es auch zu
negativen autistischen Strebungen kommen. Das ist der Fall einer-
seits bei melancholischer Verstimmung, und anderseits wenn die Kon-
flikte der autistischen Vorstellungen mit der Wirklichkeit empfunden
werden.
In der melancholischen Verstimmung schafft der Autismus
depressive Wahnideen, die sich von dem gewöhnlichen depressiven Wahn
nur darin unterscheiden, daß sie leicht ganz unsinnig werden.
Das unangenehme Gefühl des Konfliktes autistischer Ideengänge
mit der Wirklichkeit führt zu Verfolgungswahn.
Das autistische Denken kann bewußt oder unbewußt sein, ganz
wie das logische. In der Dementia praecox aber treten mit einer ge-
wissen Vorliebe fertige Resultate desselben als Halluzinationen, pri-
mordiale Wahnideen, Erinnerungstäuschungen ins Bewußtsein. Die
Ausarbeitung ist dann im Unbewußten geschehen.
Vielleicht gibt es auch ein autistisch zu nennendes Denken, das
mehr logische Bedürfnisse auf unlogische Weise befriedigt (z. B. gewisse
Bestandteile der Mythologien und Symbolik), und bei dem die affektive
Führung nebensächlich wird.
Ban, ae ng elee Denkt
Mens ein, nachdem einmal das Denken mit bloßen
; sofortige psychische Reaktion auf aktuelle
äußere Situationen stark überwog.
ER En A die fonetion du reel, ist das Primäre
8 wıe das der Realität entsprechende Handeln von
Das autistische Denken. 39
einem mit Psyche ausgestatteten Geschöpf, das lebensfähig ist, entbehrt
werden. |
Daß die Schwächung des logischen Denkens zum Vorwiegen des
autistischen führt, ist dennoch selbstverständlich, weil das logische
Denken mit Erinnerungsbildern durch die Erfahrung gelernt werden
muß, während das autistische angeborenen Mechanismen folgt. Diese
können beliebiges Vorstellungsmaterial verwerten nach jedem Wesen
innewohnenden Gesetzen.
Daß das autistische Denken eine so große Rolle spielt und nicht
durch die Auslese vernichtet ist, wird einerseits davon herrühren, daß
es für einen endlichen Verstand unmöglich ist, eine Grenze zu ziehen
zwischen realistischer und autistischer Phantasie, und anderseits davon,
daß auch der reine Autismus seinen Nutzen hat als Denkübung, ähnlich
wie das körperliche Spiel als Übung körperlicher Fähigkeiten.
Immerhin ist uns seine phylogenetische Bedeutung in manchen
Beziehungen noch unklar, z. B. in seiner Ausdehnung auf die Kunst.
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens.
Il.
Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens,
Von Sigm. Freud (Wien).
1;
Wenn der psychoanalytische Praktiker sich fragt, wegen welches
Leidens er am häufigsten um Hilfe angegangen wird, so muß er — ab-
sehend von der vielgestaltigen Angst — antworten: wegen psychischer
Impotenz. Diese sonderbare Störung betrifft Männer von stark libi-
dinösem Wesen und äußert sich darin, daß die Exekutivorgane der
Sexualität die Ausführung des geschlechtlichen Aktes verweigern,
obwohl sie sich vorher und nachher als intakt und leistungsfähig erweisen
können und obwohl eine starke psychische Geneigtheit zur Ausführung
des Aktes besteht. Die erste Anleitung zum Verständnis seines Zustandes
erhält der Kranke selbst, wenn er die Erfahrung macht, daß ein solches
Versagen nur beim Versuch mit gewissen Personen auftritt, während
es bei anderen niemals in Frage kommt. Er weiß dann, daß es eine
Eigenschaft des Sexualobjektes ist, von welcher die Hemmung seiner
männlichen Potenz ausgeht, und berichtet manchmal, er habe die
Empfindung eines Hindernisses in seinem Innern, die Wahrnehmung
eines Gegenwillens, der die bewußte Absicht mit Erfolg störe. Er kann
aber nicht erraten, was dies innere Hindernis ist und welche Eigen-
schaft des Sexualobjektes es zur Wirkung bringt. Hat er solches Ver-
sagen wiederholt erlebt, so urteilt er wohl in bekannter fehlerhafter
Verknüpfung, die Erinnerung an das erstemal habe als störende Angst-
vorstellung die Wiederholungen erzwungen, das erstemal selbst führt
er aber auf einen „zufälligen“ Eindruck zurück.
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. 41
Psychoanalytische Studien über die psychische Impotenz sind
bereits von mehreren Autoren angestellt und veröffentlicht worden!).
Jeder Analytiker kann die dort gebotenen Aufklärungen aus eigener
ärztlichen Erfahrung bestätigen. Es handelt sich wirklich um die
hemmende Einwirkung gewisser psychischer Komplexe, die sich der
Kenntnis des Individuums entziehen. Als allgemeinster Inhalt dieses
pathogenen Materials hebt sich die nicht überwundene inzestuöse
Fixierung an Mutter und Schwester hervor. Außerdem ist der Einfluß
von akzidentellen peinlichen Eindrücken, die sich an die infantile
Sexualbetätigung knüpfen, zu berücksichtigen und jene Momente,
dıe ganz allgemein die auf das weibliche Sexualobjekt zu richtende
Libido verringern?).
Unterzieht man Fälle von greller psychischer Impotenz einem ein-
dringlichen Studium mittels der Psychoanalyse, so gewinnt man folgende
Auskunft über die dabei wirksamen psychosexuellen Vorgänge. Die
Grundlage des Leidens ist hier wiederum — wie sehr wahrscheinlich
bei allen neurotischen Störungen — eine Hemmung in der Entwicklungs-
geschichte der Libido bis zu ihrer normal zu nennenden Endgestaltung.
Es sind hier zwei Strömungen nicht zusammengetroffen, deren Vereinigung
erst ein völlig normales Liebesverhalten sichert, zwei Strömungen, die
wir als die zärtliche und die sinnliche voneinander unterscheiden
können.
Von diesen beiden Strömungen ist die zärtliche die ältere. Sie
stammt aus den frühesten Kinderjahren, hat sich auf Grund der Inter-
essen des Selbsterhaltungstriebes gebildet und richtet sich auf die
Personen der Familie und die Vollzieher der Kinderpflege. Sie hat
von Anfang an Beiträge von den Sexualtrieben, Komponenten von
erotischem Interesse mitgenommen, die schon in der Kindheit mehr
oder minder deutlich sind, beim Neurotiker in allen Fällen durch die
spätere Psychoanalyse aufgedeckt werden. Sie entspricht der primären
kindlichen Objektwahl. Wir ersehen aus ihr, daß die Sexualtriebe
ihre ersten Objekte in der Anlehnung an die Schätzungen der Ichtriebe
finden, gerade so, wie die ersten Sexualbefriedigungen in Anlehnung an
die zur Lebenserhaltung notwendigen Körperfunktionen erfahren
1) M. Steiner, Die funktionelle Impotenz des Mannes und ihre Behandlung,
1907. — W. Stekel in „Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung“, Wien,
1908 (2. Aufl. 1912). — Ferenczi, Analytische Deutung und Behandlung der
psychosexuellen Impotenz beim Manne. Psychiat.-neurol. Wochenschrift, 1908.
2) W. Stekel, Il. c., 8. 191 £f.
43 Sigm. Freud.
werden. Die „Zärtlichkeit“ der Eltern und Pflegepersonen, die ihren
erotischen Charakter selten verleugnet (‚das Kind ein erotisches Spiel-
zeug“) tut sehr viel dazu, die Beiträge der Erotik zu den Besetzungen
der Ichtriebe beim Kinde zu erhöhen und sie auf ein Maß zu bringen,
welches in der späteren Entwicklung in Betracht kommen muß, be-
sonders wenn gewisse andere Verhältnisse dazu ihren Beistand leihen.
Diese zärtlichen Fixierungen des Kindes setzen sich durch die
Kindheit fort und nehmen immer wieder Erotik mit sich, welche da-
durch von ihren sexuellen Zielen abgelenkt wird. Im Lebensalter der
Pubertät tritt nun die mächtige „sinnliche“ Strömung hinzu, die
ihre Ziele nicht mehr verkennt. Sie versäumt es anscheinend niemals,
die früheren Wege zu gehen und nun mit weit stärkeren Libidobeträgen
die Objekte der primären infantilen Wahl zu besetzen. Aber da sie
dort auf die unterdessen aufgerichteten Hindernisse der Inzestschranke
stößt, wird sie das Bestreben äußern, von diesen real ungeeigneten
Objekten möglichst bald den Übergang zu anderen, fremden Objekten
zu finden, mit denen sich ein reales Sexualleben durchführen läßt.
Diese fremden Objekte werden immer noch nach dem Vorbild (der
Imago) der infantilen gewählt werden, aber sie werden mit der Zeit
die Zärtlichkeit an sich ziehen, die an die früheren gekettet war. Der
Mann wird Vater und Mutter verlassen — nach der biblischen Vorschrift
— und seinem Weibe nachgehen, Zärtlichkeit und Sinnlichkeit sind
dann beisammen. Die höchsten Grade von sinnlicher Verliebtheit
werden die höchste psychische Wertschätzung mit sich bringen. (Die
normale Überschätzung des Sexualobjektes von seiten des Mannes.)
Für das Mißlingen dieses Fortschrittes im Entwicklungsgang
der Libido werden zwei Momente maßgebend sein. Erstens das Maß
von realer Versagung, welches sich der neuen Objektwahl ent-
gegensetzen und sie für das Individuum entwerten wird. Es hat ja
keinen Sinn, sich der Objektwahl zuzuwenden, wenn man überhaupt
nicht wählen darf oder keine Aussicht hat, etwas Ordentliches wählen
zu können. Zweitens das Maß der Anziehung, welches die zu verlassen-
den infantilen Objekte äußern können und das proportional ist der
erotischen Besetzung, die ihnen noch in der Kindheit zuteil wurde.
Sind diese beiden Faktoren stark genug, so tritt der allgemeine Mecha-
nismus der Neurosenbildung in Wirksamkeit. Die Libido wendet sich
von der Realität ab, wird von der Phantasietätigkeit aufgenommen
(Introversion), verstärkt die Bilder der ersten Sexualobjekte, fixiert
sıch an dieselben. Das Inzesthindernis nötigt aber die diesen Objekten
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. 43
zugewendete Libido, im Unbewußten zu verbleiben. Die Betätigung
der jetzt dem Unbewußten angehörigen sinnlichen Strömung in ona-
nistischen Akten tut das Ihrige dazu, um diese Fixierung zu verstärken.
Es ändert nichts an diesem Sachverhalt, wenn der Fortschritt nun in
der Phantasie vollzogen wird, der in der Realität mißglückt ist, wenn
in den zur onanistischen Befriedigung führenden Phantasiesituationen
die ursprünglichen Sexualobjekte durch fremde ersetzt werden. Die
Phantasien werden durch diesen Ersatz bewußtseinsfähig, an der realen
Unterbringung der Libido wird ein Fortschritt nicht vollzogen.
Es kann auf diese Weise geschehen, daß die ganze Sinnlichkeit
eines jungen Menschen im Unbewußtsein an inzestuöse Objekte ge-
bunden oder, wie wir auch sagen können, an unbewußte inzestuöse
Phantasien fixiert wird. Das Ergebnis ist dann eine absolute Impotenz,
die etwa noch durch die gleichzeitig erworbene wirkliche Schwächung
der den Sexualakt ausführenden Organe versichert wird.
Für das Zustandekommen der eigentlich sogenannten psychischen
Impotenz werden mildere Bedingungen erfordert. Die sinnliche Strö-
mung darf nicht in ihrem ganzen Betrag dem Schicksal verfallen, sich
hinter der zärtlichen verbergen zu müssen, sie muß stark oder un-
gehemmt genug geblieben sein, um sich zum Teil den Ausweg in die
Realität zu erzwingen. Die Sexualbetätigung solcher Personen läßt
aber an den deutlichsten Anzeichen erkennen, daß nicht die volle psy-
chische Triebkraft hinter ihr steht. Sie ist launenhaft, leicht zu stören,
oft in der Ausführung inkorrekt, wenig genußreich. Vor allem aber
muß sie der zärtlichen Strömung ausweichen. Es ist also eine Beschrän-
kung in der Objektwahl hergestellt worden. Die aktiv gebliebene
sinnliche Strömung sucht nur nach Objekten, die nicht an die ihr
verpönten inzestuösen Personen mahnen; wenn von einer Person
ein Eindruck ausgeht, der zu hoher psychischer Wertschätzung führen
könnte, so läuft er nicht in Erregung der Sinnlichkeit, sondern in
erotisch unwirksame Zärtlichkeit aus. Das Liebesleben solcher Men-
schen bleibt in die zwei Richtungen gespalten, die von der Kunst als
himmlische und irdische (oder tierische) Liebe personifiziert werden.
Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht
lieben. Sie suchen nach Objekten, die sie nicht zu lieben brauchen, um
ihre Sinnlichkeit von ihren geliebten Objekten fernzuhalten, und das
sonderbare Versagen der psychischen Impotenz tritt nach den Ge-
setzen der „Komplexempfindlichkeit“ und der „Rückkehr des Ver-
drängten“ dann auf, wenn an dem zur Vermeidung des Inzests
44 Sigm. Freud.
gewählten Objekt ein oft unscheinbarer Zug an das zu vermeidende
Objekt erinnert.
Das Hauptschutzmittel gegen solche Störung, dessen sich der
Mensch in dieser Liebesspaltung bedient, besteht in der psychischen
Erniedrigung des Sexualobjektes, während die dem Sexualobjekt
normalerweise zustehende Überschätzung dem inzestuösen Objekt
und dessen Vertretungen reserviert wird. Sowie die Bedingung der
Erniedrigung erfüllt ist, kann sich die Sinnlichkeit frei äußern, bedeutende
sexuelle Leistungen und hohe Lust entwickeln. Zu diesem Ergebnis
trägt noch ein anderer Zusammenhang bei. Personen, bei denen die
zärtliche und die sinnliche Strömung nicht ordentlich zusammen-
geflossen sind, haben auch meist ein wenig verfeinertes Liebesleben;
perverse Sexualziele sind bei ihnen erhalten geblieben, deren Nicht-
erfüllung als empfindliche Lusteinbuße verspürt wird, deren Erfüllung
aber nur am erniedrigten, geringgeschätzten Sexualobjekt möglich
erscheint. |
Die in dem ersten Beitrag!) erwähnten Phantasien des Knaben,
welche die Mutter zur Dirne herabsetzen, werden nun nach ihren
Motiven verständlich. Es sind Bemühungen, die Kluft zwischen den
beiden Strömungen des Liebeslebens wenigstens in der Phantasie zu
überbrücken, die Mutter durch Erniedrigung zum Objekt für die Sinn-
lichkeit zu gewinnen.
11.
Wir haben uns bisher mit einer ärztlich-psychologischen Unter-
suchung der psychischen Impotenz beschäftigt, welche in der Über-
schrift dieser Abhandlung keine Rechtfertigung findet. Es wird sich
aber zeigen, daß wir dieser Einleitung bedurft haben, um den Zugang
zu unserem eigentlichen Thema zu finden.
Wir haben die psychische Impotenz reduziert auf das Nicht-
zusammentreffien der zärtlichen und der sinnlichen Strömung im
Liebesleben und diese Entwicklungshemmung selbst erklärt durch
die Einflüsse der starken Kindheitsfixierungen und der späteren
Versagung in der Realität bei Dazwischenkunft der Inzestschranke.
Gegen diese Lehre ist vor allem eines einzuwenden: sie gibt uns zu viel,
sie erklärt uns, warum gewisse Personen an psychischer Impotenz
leiden, läßt uns aber rätselhaft erscheinen, daß andere diesem Leiden
entgehen konnten. Da alle in Betracht kommenden ersichtlichen Mo-
!) Dieses Jahrbuch, Bd. II, S. 391.
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. 45
mente, die starke Kindheitsfixierung, die Inzestschranke und die
Versagung in den Jahren der Entwicklung nach der Pubertät bei so
ziemlich allen Kulturmenschen als vorhanden anzuerkennen sind,
wäre die Erwartung berechtigt, daß die psychische Impotenz ein all-
gemeines Kulturleiden und nicht die Krankheit einzelner sei.
Es läge nahe, sich dieser Folgerung dadurch zu entziehen, daß
man auf den quantitativen Faktor der Krankheitsverursachung hin-
weist, auf jenes Mehr oder Minder im Beitrag der einzelnen Momente,
von dem es abhängt, ob ein kenntlicher Krankheitserfolg zustande
kommt oder nicht. Aber obwohl ich diese Antwort als richtig anerkennen
möchte, habe ich doch nicht die Absicht, die Folgerung selbst hiemit
abzuweisen. Ich will im Gegenteile die Behauptung aufstellen, daß die
psychische Impotenz weit verbreiteter ist, als man glaubt, und daß ein
gewisses Maß dieses Verhaltens tatsächlich das Liebesleben des Kultur-
menschen charakterisiert.
Wenn man den Begriff der psychischen Impotenz weiter faßt und
ihn nicht mehr auf das Versagen der Koitusaktion bei vorhandener
Lustabsicht und bei intaktem Genitalapparat einschränkt, so kommen
zunächst alle jene Männer hinzu, die man als Psychanästhetiker be-
zeichnet, denen die Aktion nie versagt, die sie aber ohne besonderen
Lustgewinn vollziehen; Vorkommnisse, die häufiger sind, als man glauben
möchte. Die psychanalytische Untersuchung solcher Fälle deckt die
nämlichen ätiologischen Momente auf, welche wir bei der psychischen
Impotenz im. engeren Sinne gefunden haben, ohne daß die sympto-
matischen Unterschiede zunächst eine Erklärung fänden. Von den
anästhetischen Männern führt eine leicht zu rechtfertigende Analogie
zur ungeheueren Anzahl der frigiden Frauen, deren Liebesverhalten
tatsächlich nicht besser beschrieben oder verstanden werden kann
als durch die Gleichstellung mit der geräuschvolleren psychischen
Impotenz des Mannest).
Wenn wir aber nicht nach einer Erweiterung des Begriffes der
psychischen Impotenz, sondern nach den Abschattungen ihrer Sympto-
matologie ausschauen, dann können wir uns der Einsicht nicht ver-
schließen, daß das Liebesverhalten des Mannes in unserer heutigen
Kulturwelt überhaupt den Typus der psychischen Impotenz an sich
trägt. Die zärtliche und die sinnliche Strömung sind bei den wenigsten
unter den Gebildeten gehörig miteinander verschmolzen; fast immer
1) Wobei gerne zugestanden sein soll, daß die Frigidität der Frau ein kom-
plexes, auch von anderer Seite her zugängliches Thema ist.
46 Sigm. Freud.
fühlt sich der Mann in seiner sexualen Betätigung durch den Respekt
vor dem Weibe beengt und entwickelt seine volle Potenz erst, wenn
er ein erniedrigtes Sexualobjekt vor sich hat, was wiederum durch den
Umstand mitbegründet ist, daß in seine Sexualziele perverse Kom-
ponenten eingehen, die er am geachteten Weibe zu befriedigen sich
nicht getraut. Einen vollen sexuellen Genuß gewährt es ihm nur, wenn
er sich ohne Rücksicht der Befriedigung hingeben darf, was er z. B.
bei seinem gesitteten Weibe nicht wagt. Daher rührt dann sein Be-
dürfnis nach einem erniedrigten Sexualobjekt, einem, Weibe, das ethisch
minderwertig ist, dem er ästhetische Bedenken nicht zuzutrauen braucht,
das ihn nicht in seinen anderen Lebensbeziehungen kennt und be-
urteilen kann. Einem solchen Weibe widmet er am liebsten seine
sexuelle Kraft, auch wenn seine Zärtlichkeit durchaus einem höherstehen-
den gehört. Möglicherweise ist auch die so häufig zu beachtende Neigung
von Männern der höchsten Gesellschaftsklassen, ein Weib aus niederem
Stande zur dauernden Geliebten oder selbst zur Ehefrau zu wählen,
nichts anderes als die Folge des Bedürfnisses nach dem erniedrigten
Sexualobjekt, mit welchem psychologisch die Möglichkeit der vollen
Befriedigung verknüpft ist.
Ich stehe nicht an, die beiden bei der echten psychischen Impo-
tenz wirksamen Momente, die intensive inzestuöse Fixierung der
Kindheit und die reale Versagung der Jünglingszeit auch für dies so
häufige Verhalten der kulturellen Männer im Liebesleben verant-
wortlich zu machen. Es klingt wenig anmutend und überdies paradox,
aber es muß doch gesagt werden, daß, wer im Liebesleben wirklich
frei und damit auch glücklich werden soll, den Respekt vor dem Weibe
überwunden, sich mit der Vorstellung des Inzests mit Mutter oder
Schwester befreundet haben muß. Wer sich dieser Anforderung gegen-
über einer ernsthaften Selbstprüfung unterwirft, wird ohne Zweifel
in sich finden, daß er den Sexualakt im Grunde doch als etwas Er-
niedrigendes beurteilt, was nicht nur leiblich befleckt und verunreinigt.
Die Entstehung dieser Wertung, die er sich gewiß nicht gerne bekennt,
wird er nur in jener Zeit seiner Jugend suchen können, in welcher seine
sinnliche Strömung bereits stark entwickelt, ihre Befriedigung aber
am fremden Objekt fast ebenso verboten war wie die am inzestuösen.
Die Frauen stehen in unserer Kulturwelt unter einer ähnlichen
Nachwirkung ihrer Erziehung und überdies unter der Rückwirkung
des Verhaltens der Männer. Es ist für sie natürlich ebensowenig günstig,
wenn ihnen der Mann nicht mit seiner vollen Potenz entgegentritt,
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. 47
wie wenn die anfängliche Überschätzung der Verliebtheit nach der
Besitzergreifung von Geringschätzung abgelöst wird. Von einem Be-
dürfnis nach Emiedrigung des Sexualobjektes ist bei der Frau wenig
zu bemerken; im Zusammenhange damit steht es gewiß, wenn sie auch
etwas der Sexualüberschätzung beim Manne Ähnliches in der Regel
nicht zustande bringt. Die lange Abhaltung von der Sexualität und
das Verweilen der Sinnlichkeit in der Phantasie hat für sie aber eine
andere bedeutsame Folge. Sie kann dann oft die Verknüpfung der
sinnlichen Betätigung mit dem Verbot nicht mehr auflösen und erweist
sich als psychisch impotent, d.i. frigid, wenn ihr solche Betätigung endlich
gestattet wird. Daher rührt bei vielen Frauen das Bestreben, das Geheim-
nis noch bei erlaubten Beziehungen eine Weile festzuhalten, bei anderen die
Fähigkeit normal zu empfinden, sobald die Bedingung des Verbots in
einem geheimen Liebesverhältnis wiederhergestellt ist; dem Manne untreu,
sind sie imstande, dem Liebhaber eine Treue zweiter Ordnung zu bewahren.
Ich meine, die Bedingung des Verbotenen im weiblichen Liebes-
leben ist dem Bedürfnis nach Erniedrigung des Sexualobjektes beim
Manne gleichzustellen. Beide sind Folgen des langen Aufschubes zwischen
Geschlechtsreife und Sexualbetätigung, den die Erziehung aus kultu-
rellen Gründen fordert. Beide suchen die psychische Impotenz auf-
zuheben, welche aus dem Nichtzusammentreffen zärtlicher und sinn-
licher Regungen resultiert. Wenn der Erfolg der nämlichen Ursachen
beim Weibe so sehr verschieden von dem beim Manne ausfällt, so läßt
sich dies "vielleicht auf einen andern Unterschied im Verhalten der
beiden Geschlechter zurückführen. Das kulturelle Weib pflegt das
Verbot der Sexualbetätigung während der Wartezeit nicht zu über-
schreiten und erwirbt so die innige Verknüpfung zwischen Verbot
und Sexualität. Der Mann durchbricht zumeist dieses Verbot unter
der Bedingung der Erniedrigung des Objektes und nimmt daher diese
Bedingung in sein späteres Liebesleben mit.
Angesichts der in der heutigen Kulturwelt so lebhaften Bestre-
bungen nach einer Reform des Sexuallebens, ist es nicht überflüssig
daran zu erinnern, daß die psychoanalytische Forschung Tendenzen
so wenig kennt wie irgend eine andere. Sie will nichts anderes als Zu-
sammenhänge aufdecken, indem sie Offenkundiges auf Verborgenes
zurückführt. Es soll ihr dann recht sein, wenn die Reformen sich ihrer
Ermittelungen bedienen, um Vorteilhafteres an Stelle des Schädlichen
zu setzen. Sie kann aber nicht vorhersagen, ob andere Institutionen
nicht andere, vielleicht schwerere Opfer zur Folge haben müßten.
48 Sigm. Freud.
II.
Die Tatsache, daß die kulturelle Zügelung des Liebeslebens eine
allgemeinste Erniedrigung der Sexualobjekte mit sich bringt, mag uns
veranlassen, unseren Blick von den Objekten weg auf die Triebe selbst
zu lenken. Der Schaden der anfänglichen Versagung des Sexualgenusses
äußert sich darin, daß dessen spätere Freigebung in der Ehe nicht mehr
voll befriedigend wirkt. Aber auch die uneingeschränkte Sexualfreiheit
von Anfang an führt zu keinem besseren Ergebnis. Es ist leicht fest-
zustellen, daß der psychische Wert des Liebesbedürfnisses sofort sinkt,
sobald ihm die Befriedigung bequem gemacht wird. Es bedarf eines
Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und. wo die natür-
lichen Widerstände gegen die Befriedigung nicht ausreichen, haben die
Menschen zu allen Zeiten konventionelle eingeschaltet, um die Liebe
genießen zu können. Dies gilt für Individuen wie für Völker. In Zeiten,
in denen die Liebesbefriedigung keine Schwierigkeiten fand, wie etwa
während des Niederganges der antiken Kultur, wurde die Liebe wertlos,
das Leben leer, und es bedurfte starker Reaktionsbildungen, um. die
unentbehrlichen Affektwerte wieder herzustellen. In diesem Zusammen-
hange kann man behaupten, daß die asketische Strömung des Christen-
tums für die Liebe psychische Wertungen geschaffen hat, die ihr das
heidnische Altertum nie verleihen konnte. Zur höchsten Bedeutung
gelangte sie bei den asketischen Mönchen, deren Leben fast allein
von dem Kampf gegen die libidinöse Versuchung ausgefüllt war.
Man ist gewiß zunächst geneigt, die Schwierigkeiten, die sich hier
ergeben, auf allgemeine Eigenschaften unserer organischen Triebe
zurückzuführen. Es ist gewiß auch allgemein richtig, daß die psychische
Bedeutung eines Triebes mit seiner Versagung steigt. Man versuche es,
eine Anzahl der allerdifferenziertesten Menschen gleichmäßig dem
Hungern auszusetzen. Mit der Zunahme des gebieterischen N ahrungs-
bedürfnisses werden alle individuellen Differenzen sich verwischen
und an ihrer Statt die uniformen Äußerungen des einen ungestillten
Triebes auftreten. Aber trifft es auch zu, daß mit der Befriedigung
eines Triebes sein psychischer Wert allgemein so sehr herabsinkt? Man
denke z. B. an das Verhältnis des Trinkers zum Wein. Ist es nicht richtig,
daß dem Trinker der Wein immer die gleiche toxische Befriedigung
bietet, die man mit der erotischen so oft in der Poesie verglichen hat
und auch vom Standpunkt der wissenschaftlichen Auffassung ver-
gleichen darf? Hat man je davon gehört, daß der Trinker genötigt ist,
sein Getränk beständig zu wechseln, weil ihm das gleichbleibende bald
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. 49
nicht mehr schmeckt? Im Gegenteil, die Gewöhnung knüpft das Band
zwischen dem Manne und der Sorte Wein, die er trinkt, immer enger.
Kennt man beim Trinker ein Bedürfnis in ein Land zu gehen, in dem
der Wein teuer oder der Weingenuß verboten ist, um seiner sinkenden
Befriedigung durch die Einschiebung solcher Erschwerungen aufzu-
heften? Nichts von alledem. Wenn man die Äußerungen unserer großen
Alkoholiker, z. B. Böcklins, über ihr Verhältnis zum Wein anhört!), es
klingt wie diereinste Harmonie, ein Vorbild einer glücklichen Ehe. Warum
ist das Verhältnis des Liebenden zu seinem Sexualobjekt so sehr anders?
Ich glaube, man müßte sich, so befremdend es auch klingt, mit
der Möglichkeit beschäftigen, daß etwas in der Natur des Sexualtriebes
selbst dem Zustandekommen der vollen Befriedigung nicht günstig ist.
Aus der langen und schwierigen Entwicklungsgeschichte des Triebes
heben sich sofort zwei Momente hervor, die man für solche Schwierig-
keit verantwortlich machen könnte. Erstens ist infolge des zweimaligen
Ansatzes zur Objektwahl mit Dazwischenkunft der Inzestschranke
das endgültige Objekt des Sexualtriebes nie mehr das ursprüngliche,
sondern nur ein Surrogat dafür. Die Psychoanalyse hat uns aber ge-
lehrt: wenn das ursprüngliche Objekt einer Wunschregung infolge von
Verdrängung verloren gegangen ist, so wird es häufig durch eine un-
endliche Reihe von Ersatzobjekten vertreten, von denen doch keines
voll genügt. Dies mag uns die Unbeständigkeit in der Objektwahl,
den „Reizhunger“ erklären, der dem Liebesleben der Erwachsenen
so häufig eignet.
Zweitens wissen wir, daß der Sexualtrieb anfänglich in eine
große Reihe von Komponenten zerfällt — vielmehr aus einer solchen
hervorgeht —, von denen nicht alle in dessen spätere Gestaltung auf-
genommen werden können, sondern vorher unterdrückt oder anders
verwendet werden müssen. Es sind vor allem die koprophilen Trieb-
anteile, die sich als unverträglich mit unserer ästhetischen Kultur
erwiesen, wahrscheinlich seitdem wir durch den aufrechten Gang unser
Riechorgan von der Erde abgehoben haben; ferner ein gutes Stück
der sadistischen Antriebe, die zum Liebesleben gehören. Aber alle
solche Entwicklungsvorgänge betreffen nur die oberen Schichten der
komplizierten Struktur. Die fundamentellen Vorgänge, welche die
Liebeserregung liefern, bleiben ungeändert. Das Exkrementelle ist
allzu innig und untrennbar mit dem Sexuellen verwachsen, die Lage
der Genitalien — inter urinas et faeces — bleibt das bestimmende
1) G. Floerke, Zehn Jahre mit Böcklin. 2. Auflage, 1902, S. 16.
Jahrbuch für psychoanalyt, u. psychopathol. Forschungen. IV, 4
50 Sigm. Freud.
unveränderliche Moment. Man könnte hier ein bekanntes Wort des
großen Napoleon variierend sagen: die Anatomie ist das Schicksal.
Die Genitalien selbst haben die Entwicklung der menschlichen Körper-
formen zur Schönheit nicht mitgemacht, sie sind tierisch geblieben,
und so ist auch die Liebe im Grunde heute ebenso animalisch wie sie
es von jeher war. Die Liebestriebe sind schwer erziehbar, ihre Erziehung
ergibt bald zuviel, bald zu wenig. Das, was die Kultur aus ihr machen
will, scheint ohne fühlbare Einbuße an Lust nicht erreichbar, die Fort-
dauer der unverwerteten Regungen gibt sich bei der Sexualtätigkeit
als Unbefriedigung zu erkennen.
So müßte man sich denn vielleicht mit dem Gedanken befreunden,
daß eine Ausgleichung der Ansprüche des Sexualtriebes mit den An-
forderungen der Kultur überhaupt nicht möglich ist, daß Verzicht und
Leiden sowie in weitester Ferne die Gefahr des Erlöschens des Menschen-
geschlechtes infolge seiner Kulturentwicklung nicht abgewendet werden
können. Diese trübe Prognose ruht allerdings auf der einzigen Ver-
mutung, daß die kulturelle Unbefriedigung die notwendige Folge gewisser
Besonderheiten ist, welche der Sexualtrieb unter dem Drucke der
Kultur angenommen hat. Die nämliche Unfähigkeit des Sexualtriebes,
volle Befriedigung zu ergeben, sobald er den ersten Anforderungen der
Kultur unterlegen ist, wird aber zur Quelle der großartigsten Kultur-
leistungen, welche durch immer weiter gehende Sublimierung seiner
Triebkomponenten bewerkstellist werden. Denn welches Motiv hätten
die Menschen, sexuelle Triebkräfte anderen Verwendungen zuzuführen,
wenn sich aus denselben bei irgend einer Verteilung volle Lustbefriedi-
gung ergeben hätte? Sie kämen von dieser Lust nicht wieder los und
brächten keinen weiteren Fortschritt zustande. So scheint es, daß
sie durch die unausgleichbare Differenz zwischen den Anforderungen
der beiden Triebe — des sexuellen und des egoistischen — zu immer
höheren Leistungen befähigt werden, allerdings unter einer beständigen
Gefährdung, welcher die Schwächeren gegenwärtig in der Form der
Neurose erliegen.
Die Wissenschaft hat weder die Absicht zu schrecken noch zu
trösten. Aber ich bin selbst gern bereit zuzugeben, daß so weittragende
Schlußfolgerungen wie die obenstehenden auf breiterer Basis auf-
gebaut sein sollten, und daß vielleicht andere Entwicklungsrichtungen
der Menschheit das Ergebnis der hier isoliert behandelten zu korrigieren
vermögen.
Die Symbolschichtung im Wecktraum und ihre
Wiederkehr im mythischen Denken.
Von ®tto Rank (Wien).
„Manche Dichter geraten unter dem
Malen schlechter Charaktere oft so ins
Nachahmen derselben hinein, wie Kinder,
wenn sie träumen zu pissen, wirklich ihr
Wasser lassen.‘ Jean Paul.
Auf Grund der Forschungen Freuds gilt uns der Traum nicht
nur seinem latenten Inhalt nach als Wunscherfüllung (halluzinatorische
Befriedigung), sondern sozusagen auch ‚‚funktional!)“, indem in ge-
wissem Sinne alle Träume als Bequemlichkeitsträume aufzufassen sind,
die der Absicht dienen, den Schlaf fortzusetzen, anstatt auf die Ein-
wirkung eines, sei es äußeren, sei es somatischen oder psychischen
Reizes zu erwachen, ‚Der Wunsch zu schlafen, auf den sich das be-
wußte Ich eingestellt hat und der nebst der Traumzensur dessen Bei-
trag zum Träumen darstellt, muß so als Motiv der Traumbildung
jedesmal eingerechnet werden und jeder gelungene Traum: ist eine
Erfüllung desselben“ (Traumdeutung, 3. Aufl., 8. 170). Es ist darum
auch kein Zufall, daß gerade jene Träume, welche die Bequemlichkeits-
funktion am deutlichsten wırksam zeigen, sich meist auch inhaltlich
ohneweiters als offenkundige Wunscherfüllungen verraten, wie z. B,
die Durstreizträume. Sie können dies aber merkwürdigerweise nur dann
offenbaren, wenn die Bequemlichkeitsfunktion scheitert, also das
Erwachen die Folge ist, wodurch die spezifische Qualität des Reizes
festgestellt werden kann, auf den der Traum reagierte. Nun gibt es
verschiedene Arten von Träumen, die fast immer zum Erwachen des
!) Über den weiteren Geltungsbereich dieses Begriffes vgl. man die Arbeiten
H. Silberers im Jahrbuche I und II,
4*
52 Otto Rank,
Schläfers führen und die uns — jede in ihrer Art — direkte Einblicke
in den Vorgang der Traumbildung und Traumfunktion sowie ihres
gegenseitigen Verhältnisses gestatten, welche sonst nur auf mühseligen
Umwegen zu erreichen oder gänzlich verwehrt sind. Trotzdem haben
es die Psychoanalytiker bis jetzt versäumt, von dieser schätzenswerten
Eigentümlichkeit der Weckträume ergiebigen Gebrauch zu machen.
Freud beschränkte sich in seiner umfassenden Darstellung der Gesetze
des Traumlebens auf den Nachweis, daß auch die während des Schlafes
auftretenden (äußeren und somatischen) Reize, die zum Erwachen
führen können, in eine Wunscherfüllung verarbeitet werden, deren
andere Bestandteile die uns bekannten psychischen Tagesreste sind.
„Die aktuelle Sensation wird in den Traum verflochten, um ihr die
Realität zu rauben (8. 170).‘“ Ist jedoch der (somatische) Reiz so groß,
daß er nach realer Befriedigung verlangt, so kann der Traum, seiner
Funktion als Hüter des Schlafes nicht länger gerecht werden, der
Träumer erwacht und vermag nun den Reiz abzustellen. In der ‚‚Traum-
deutung“ finden sich einige solcher Beispiele, an denen gezeigt ist, wie
gewisse Weckträume, die scheinbar nur Reaktionen auf störende Reize
darstellen, doch ihren eigenen Wert als psychische Aktion haben,
deren Motiv die Wunscherfüllung und deren Material die Erlebnisse
des Vortages abgeben (8. 165). Ein solcher Durstreiztraum, den
ich an mir selbst erfahren habe, sei als Einführung in die zu behandelnden
Probleme vorangestellt.
Traum Nr. 1.
„Ich bin in der Nacht mehrmals mit heftigem Durstreiz im Halb-
schlummer so weit erwacht, daß ich mir dunkel bewußt war, ich hätte
am Abend vergessen, mir wie gewöhnlich ein Glas Wasser aufs Nacht-
kästchen zu stellen. Ich sagte mir, die Beschaffung des Wassers sei jetzt
mit großen Unannehmlichkeiten verbunden, und schlief also wieder ein,
Da träumte mir, ich gehe in einem Kurorte auf der Straße; da kommt
ein Mann, der Wasser zu verkaufen hat. Ich frage ihn, was es kostet: er
sagt, ein großes Glas 10 Kreuzer, ein kleines 5 Kreuzer: ich sage: Alkd
geben sie mir ein kleines. Er reicht es mir und ich gebe ihm ein 10 Heller-
stück (= 5 Kreuzer); er war aber unzufrieden damit, da es so wie 6 Kreuzer
hätte kosten sollen (1 Kreuzer nach Wiener Usus ‚Trinkgeld‘). Ich
trinke es in vollen Zügen aus, merke aber sogleich, daß es ungeheuer salzı
und bitter ist!) (etwa wie Karlsbader Wasser: Kurort!). Im Gehen van;
‘) Einen ganz ähnlichen Traum vom
Freud (l. c. 8. 91), „etruskischen Aschenkrug“ berichtet
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 83
. ich wie an einem Büfett an der Straße vorbei, wo auf einer Tafel (Plakat)
der Name ‚Biliner‘ steht. Ich sage mir: Ach so, das war ein Sauerbrunn,
darum hat es so schlecht geschmeckt. Mit dem salzigen und brennenden
Geschmack im Schlunde erwache ich nun, habe heftigen Durst, erhebe
mich aus dem Bette, hole mir ein Glas Wasser und stürze es auf einen
Zug hinunter.‘
Deutung: Ich waram Abend im Theater, wo ich heftigen Durst ver-
spürte, aber kein Wasser bekommen konnte, obwohl man es dort bezahlen
muß (1 Glas 2 Kreuzer — 4 Heller). Ich sah beim Büfett nach, wo
verschiedene exotische Getränke standen und angeschrieben waren
(„Biliner“), die ich alle nicht mochte. Nur Wasser konnte ich nicht
bekommen, worüber ich mich einen Moment lang ärgerte, indem ich
mir sagte, daß es schon eine Unverschämtheit sei, Wasser überhaupt
zu verkaufen, aber eine noch ärgere, nicht einmal dieses herzugeben.
Widerwillig trank ich also das schlechte Bier.
Zu Hause legte ich mich offenbar mit nicht völlig gestilltem
Durst und unvollkommen abreagiertem Ärger nieder, erwachte dann
mehrmals infolge des Reizes, war aber zu bequem, aufzustehen und
mir Wasser zu holen. Also trat der Traum in seine Funktionen der
Wunscherfüllung und der Hütung des Schlafes und täuschte mir einen
erquickenden, wenn auch teuer erkauften Trunk vor (Traumgedanke:
die verkaufen das Wasser im Theater so teuer, als ob es ein kostbares
Getränk, ein Sauerbrunn, wäre). Aber der Durstreiz ist zu heftig, um
mit dieser halluzinatorischen Befriedigung gestillt zu sein. Der Trunk
stillt den Durst nicht, er vermehrt ihn im Gegenteil: ich erwache und
muß nun wirklich trinken. Die Funktion des Traumes ist gescheitert.
Der Traum, der mir die Schlafstörung ersparen sollte, ist zum Weck-
traum geworden, der mich zwingt, das Bedürfnis zu befriedigen und
mir auf diese Weise das ungestörte Weiterschlafen ermöglicht. Daß
das Vergessen des gewohnten Nachttrunkes neben dem Bett eine
Symptomhandlung und also Folge des kleinen und eben deshalb
nicht abreagierten Ärgers wegen des Wassers im Theater war, halte
ich für sehr wahrscheinlich, zumal ich das Wasser auf dem Nacht-
kästchen fast nie benutze und mir sehr wohl gedacht haben kann, daß
ich es diese Nacht um so eher werde entbehren können, als ich doch
bei dem heftigen Durstreiz im Theater auch hatte darauf verzichten
müssen. Der Traum, der lange genug seiner Funktion treu zu bleiben
versucht, belehrt mich dann wie in einer trotzigen Aufwallung eines
Besseren. Trotzdem also das somatische Element im Vordergrund
des Trauminhaltes steht, ist der nicht zu unterschätzende psychische
54 | Otto Rank.
Anteil schon im Zusammenhang des Traumes mit dem psychisch
motivierten Vergessen gegeben!), das gleichsam zu seiner Korrektur
den Durstreiz so heftig zu steigern vermag, daß er das Erwachen und
damit die Korrektur der Unterlassung herbeiführt?). Dieser Fall zeigt
aber auch im Sinne der Freudschen Auffassung, wie zum Zwecke
der Traumbildung ein gerade nicht aktueller Wunsch geweckt wird
(S. 171). Einer der Wünsche, die diesem Traume zugrunde liegen,
ist nämlich der, ein lästiges Übel durch einen Kurgebrauch in Karls-
bad zu bekämpfen. Daher der mir bekannte und keineswegs angenehme
Geschmack des Wassers im Traume, das visuell als ‚‚Biliner‘‘ dargestellt
ist, und der Schauplatz des Traumes in einem Kurort. Das Karlsbader
Wasser wird tatsächlich getrunken, ohne den Durst zu löschen und muß
teuer bezahlt werden, obwohl es einem keinen Genuß bietet. Doch versteht
es die Wunscherfüllungstendenz im Traume das ‚‚teuere‘‘ Theater-
wasser zu einem verhältnismäßig noch billigen Kurmittel zu verwenden.
Hat uns dieser Durstreiztraum gezeigt, in welchem Maße der Weck-
traum Einblicke in die Struktur und Tendenz der Traumbildung ge-
stattet, so soll ım folgenden auf eine ganz spezielle und uns besonders
wertvolle Eigentümlichkeit gewisser Weckträume hingewiesen werden.
Sie zeigen uns nicht bloß die Wunscherfüllungstendenz und den Be-
quemlichkeitscharakter ganz offen, sondern sehr häufig auch eine völlig
durchsichtige Symbolik, da nicht selten ein Reiz zum Erwachen führt,
dessen Befriedigung in symbolischer Einkleidung im Traume
bereits vergeblich versucht worden war. Insbesondere ist dies bei jenen
körperlichen Bedürfnissen der Fall, deren unzeitgemäße Befriedigung
seit der Kindheitserziehung als anstößig gilt und auch so empfunden
wird: also bei den exkrementellen und späterhin in ähnlicher Weise
bei den sexuellen. Die letzten führen zu den Pollutionsträumen, die ja
in der Regel mit einer unverhüllt sexuellen Situation und dem Erwachen
ag ir m Bilenee Weise diese „Weckträume“ am Schluß des
ne nel ng 5 Sinne Sohat
ee he ‚ uns also direkte Einblicke in die Symbol-
!) Über den Zusammenhang des Traumes mit Symptomhandlungen vgl.
meine Mitteilungen im Zentralblatt für Psa re;
.> . hr
gang, Heft 5 (Februar 1912). ahrgang, S. 450 ff., II. Jahr-
?) Ich möchte damit für diesen Traum ni i
A nicht strikte behaupten, daß di
een er körperliche Bedürfnis zu ihren Zwecken DRIN nk
einem Harndrang-Wecktraum bei Freud (S. 158), daß sie es BE
zweifellos bis zu einem ewisse 4 ;
verwendet haben. P n Grade verstärkt und jedenfalls in ihrem Sinne
Die Symbolschiehtung im Wecktraum usw. 50
bildung und Symbolbedeutung gewähren, habe ich an einzelnen Bei-
spielen zu zeigen versucht!). Der eigentümliche Charakter der Pollutions-
träume gestattet uns nicht nur gewisse, bereits als typisch erkannte,
aber doch heftig bestrittene Sexualsymbole direkt durch die restlose
Funktion des Traumes zu entlarven, sondern vermag uns auch zu
überzeugen, daß manche scheinbar harmlose Traumsituation nur das
symbolische Vorspiel einer grob sexuellen Szene ist, die jedoch meist
nur in den relativ doch seltenen Pollutionsträumen zu direkter Dar-
stellung gelangt?), während sie oft genug in einen Angsttraum umschlägt,
der gleichfalls zum Erwachen führt. Das gleiche gilt nun auch für die
von den Reizungen des Darmausganges und der Blase ausgelösten
Träume. Denn auch diese meist ängstlichen Träume, das Bett zu be-
schmutzen, sind den Pollutionsträumen analog zu nehmende Ent-
ladungsträume, die wie diese undeutlich beginnen und sich in dem
Maße deutlicher fortsetzen, als der Trieb stärker wird. So träumt z. B.
eine Frau zur Zeit, als sie wegen einer Darmstörung in ärztlicher
Behandlung steht, von einem Schatzgräber, der in der Nähe einer
kleinen Holzhütte, die wie ein ländlicher Abort aussieht, einen Schatz
vergräbt. Ein zweiter Teil des Traumes hat zum Inhalt, wie sie ihrem
Kinde, einem kleinen Mäder], das sich beschmutzt hat, den Hintern
abwischt. Verrät uns dieser Traum unverhüllt den von Freud im
Unbewußten aufgedeckten und völkerpsychologisch reichlich belegten
Zusammenhang von Gold und Kot?), so zeigt ein anderer von
!) Ein Traum, der sich selbst deutet. Jahrbuch, II. Bd., 1910. — Zum
Thema der Zahnreizträume. Zentralblatt, I. Jhg., S. 408 ff. — Ein Stiegentraum.
Mitgeteilt bei Freud, Traumdeutung?, 8. 217 ff. — Aktuelle Sexualregungen
als Traumanlässe. Zentralblatt, II. Jahrgang, Heft 8.
?:) Vgl. dazu besonders den ‚Traum, der sich selbst deutet“ (l. e.).
®) Zu den von Freud in seiner Abhandlung über: Charakter und. Anal-
erotik (Kl. Schr., IL, S. 132 ff.) eingestreuten Belegen seien hier einige nach-
getragen. Eduard Stucken, der in den „Astralmythen‘“ (Leipzig 1896 bis
1907) mit seinen mythologischen Gleichungen (siehe z. B. S. 262 IV: Exkre-
mente — Rheingold = Sperma) den symbolischen Gleichungen Stekels (Die
Sprache des Traumes, 1911) vorausgeeilt ist, hat (S. 266 ff.) einige derartige
Überlieferungen zusammengestellt. So das deutsche Märchen vom Goldesel
(Tischehen deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack, Grimm: Kinder-
und Hausmärchen, Nr. 36), der auf das Wort „Bricklebrit‘“ anfängt Gold zu
speien von hinten und vorne, daß es ordentlich auf die Erde herabregnet. —
Deutlicher noch im Pentamerone (aus dem Neapolitanischen übersetzt von
F, Liebrecht, S. 18): ,„. . . er war aber noch nicht 100 Schritte vorwärts-
gekommen, als er auch schon von dem Grauen abstieg und sogleich sagte: „Are
cacaurre‘; und kaum hatte er den Mund geöffnet, als auch schon Langohr anfing
56 Otto Rank.
Dr. Sachs (Zentralbl. f. Psa. 1, 414) mitgeteilter Traum die Verwertung
der sprachlichen Zweideutigkeit zum Zwecke der verhüllenden Wunsch-
und Befriedigung der Bequemlichkeitstendenz. Der Träumer,
füll
ee Nacht das Bett zu
der es wegen einer Erkältung vermeiden will, bei
Perlen, Rubine, Smaragde, Saphire und Diamanten, alle so groß wie die Wal-
nüsse, von hinten von sich zu geben. Anton sperrte das Maul weit auf,
starrte die herrliche Ausleerung, den prächtigen Abgang und den kostbaren
Durchfall des Eseleins an und füllte mit großer Herzenslust seinen Quersack
mit den Edelsteinen voll. — „Und wenn dem König Midas“, heißt es bei
Stucken weiter, „welcher Eselsohren hatte, jeder Bissen, den er aß, zu Gold
wurde —, er also Gold spie „hinten und vorne“, wie das deutsche Märchen
sagt, — so erklärt sich das dadurch, daß er eine Eselsgottheit war, daß er eben
Eselsohren hatte.“ Es ist in der Tat auffällig, daß Midas, dessen Eselsohren
als Rest einer ursprünglichen theriomorphen Bildung aufzufassen sind (v. Roschers
Lexikon), nach Ovid (Metam. 11, 85 bis 193) seine Gabe, alles durch Berührung
mit seinem Körper in Gold zu verwandeln, zunächst dem Wunsch entsprechend,
an wertlosen Dingen erprobt und daß ihm erst beim Essen (vgl. Tischchen
deck dich und Goldesel) das Törichte seines Wunsches klar wird. — Stucken
bringt in diesen Zusammenhang auch die Sage von Ehüd (Richter 3, 12 bis 29),
der den Moabiterkönig Eglon bei Überreichung eines Geschenkes in der Sommer-
laube mit dem Schwert durchbohrt, ‚daß der Mist von ihm ging‘. Die Höflinge
sind über das lange Ausbleiben des Königs nicht erstaunt und schämen sich nach
ihm zu sehen, da er in der kühlen Kammer zu sitzen pflegte, um seine Notdurft
zu verrichten, was Stucken mit seiner Goldeseleigenschaft in Zusammenhang
bringt. — Diese Beziehung scheint übrigens so allgemein anerkannt gewesen zu
sein, daß sie in einer sprichwörtlichen Redensart ihren gemeinsamen Niederschlag
gefunden hat. Eisenmenger führt in seinem „Entdeckten Judentum“ (I, S. 550)
folgendes hebräische Sprichwort an: „Der Kot der Maulesel Isaaks ist besser
als das Silber und Gold des Abimelech‘. Auch Shakespeare ist dieses alt über-
lieferte und tiefwurzelnde Gleichnis geläufig, wenn er im „Cymbeline‘‘ (III, 6)
den Arviragus die beleidigende Bezahlung von seiten Imogens mit den Worten
zurückweisen läßt:
„Eh’ werde alles Gold und Silber Kot,
Wie’s denn auch ist und dem nur kostbar scheint,
Der Kot als Gott verehrt.“
Aus dem Alten Testamente ist hier noch zu erwähnen die sonderbare
Geschichte von den Philistern (1. Sam., 5 und 6), die „groß und klein heimliche
Plage an heimlichen Orten kriegten“ (5, 9) wegen Entführung der Bundeslade, und
die Plage durch Opferung goldener Ärsche (6, 4; 6, 17) abzuwenden sche
(Die Hämorrhoiden werden noch bei uns vom Volke als „goldene Ader‘‘ bezeichnet.)
Aber nicht nur der Eselskot, sondern der tierische Mist überhaupt, ebenso
wie auch gewisse Mineralien, meist Kohlen, werden mit dem Koktbarsiin was
der Mensch kennen gelernt hat, in Verbindung gebracht (Gold — Edelst eine
im Pentamerone). So wird besonders der Pferdemist in den Sagen oft in Gold
verwandelt und daraus erklärt sich auch seine glückbringende Bedeutung, an
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 87
verlassen, ist im Traume in scheinbarer Fortsetzung seiner Tages-
beschäftigung bemüht, einen Zeitungsausschnitt (Zeitungspapier!) in ein
Buch zu kleben. ‚Er geht aber nicht auf die Seite, was mir großen
Schmerz verursacht.‘“ Das mit der Zunahme des Stuhldranges erfolgende
die schon die alten Völker glaubten. So begegnet dem Kyros, in dem Augen-
blick, da er den Entschluß faßt, von Astyages abzufallen, ein persischer Sklave,
Roßdünger in einem Korbe tragend, was dem Kyros als gutes Vorzeichen aus-
gelegt wird, da Roßdünger Reichtum und Macht bedeute (Nicol. Damasec. fr. 66 bei
Müller III, 400). — In einem Zigeunermärchen (Wlislocki Nr.42) läßt der Teufel eine
Frau mit einem Ziegenbock niederkommen, der alles Gold im Hause auffrißt und
es an anderem Ort wieder von sich gibt. — Nach Rochholz (Schweizer Sagen, 174)
verwandelt sich ein vom Teufel geschenkter goldener Becher in Pferdemist. Und
ebenda (S. 334) heißt es, daß Pferdemist oft bei Hexenmahlzeiten in der Gestalt
von Leckerbissen aufgetragen (Essen — Verlegung nach oben; vgl. Midas,
Tischlein deck dich) oder als Geschenk von Zwergen zu Gold umgekehrt wird. —
Andere Male werden ekelhafte und schädliche Tiere ganz in Gold verwandelt, wie
z.B. bei Weckenstedt (Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Bräuche,
Graz, 1880) derselbe Drache, der aus Kot Gold macht, auch Läuse in Gold ver-
wandelt (S. 389). Daher die Traumregel (Nr. 14, S. 467): Wenn man von Läusen
träumt, so wird man viel Geld erhalten. — Geradezu auf den Traum, von dem wir
ausgingen, ist jedoch die Regel 8 anwendbar: Wenn man träumt, daß einem jemand
einen Topf Unrat über den Kopf ausgießt, so steht einem ein großes Glück bevor.
Eine bedeutende Abschwächung und Entstellung erfährt diese Identi-
fikation des insbesondere mühelos gewonnenen Goldes (Midas, Goldesel)
mit dem Esels- und Pferdemist durch Übertragung auf andere Tiere, insbesondere
Vögel, bei denen die anstößige Ausscheidung auch als Eierlegen aufgefaßt werden
kann. So in der Sage: Die Alrune und der Schneider (Rochholz, Nr. 267). Der
arme Schneider legt dem wunderlichen Tier den einzigen Spartaler unter den
Bauch und morgens liegen 100 neue Taler auf der Streu. Der Schneider ist nun
reich und braucht nicht abends erst Mist stehlen zu gehen, um seinen kleinen
Acker düngen zu können. Das Gold gibt er gleich aus, vergißt aber, den erst-
gelegten Taler zu behalten; die Zauberkraft versiegt, er wird ärmer als zuvor
und stirbt Hungers (Essen!). Hierher gehört auch die von Stucken angeführte
indische Legende: It is said that a certain king having caused a number of
wild birds that vomiked gold to take up their quarters in his own house, after-
wards killed them from temptation. — Am deutlichsten zeigt sich die Ent-
stellungstendenz, die aber doch den ursprünglichen Zusammenhang nicht völlig
zu verwischen vermag, in der bei Rochholz (II, S. 34) mitgeteilten Sage vom
Lädeligugger-Xaveri von Tägerig, der vom Teufel ein sonderbares Tier erhält,
dem man alle Abende ein kleines Geldstückchen unterlegen mußte, wie man
den Legehühnern immer ein Ei läßt, das dann über Nacht zu einem ganzen
Haufen gleicher Münzen anwuchs. Trotz dieses direkten Hinweises auf die
Analogie mit dem Eierlegen drängt sich doch der ursprüngliche Zusammenhang
in dem Namen des sonderbaren Tieres durch, das „Geldschießer‘ genannt
wird. Bemerkenswert ist auch, daß der Mann dann an einem langwierigen und
58 ‚Otto Rank.
"Erwachen, das den Träumer von der Realität des Schmerzes im, Unter-
leib überzeugt und ihn nötigt, seinem Vorsatz: nicht auf die Seite zu
gehen, untreu zu werden, ist uns als direkte Bestätigung für die indirekte
Darstellungsweise und Sprache des Traumes sehr wertvoll. Der Psycho-
analytiker wäre gewiß auch ohne diese direkte Bestätigung im Verlaufe
der Traumanalyse zu dieser Deutung gelangt, aber das im Erwachen
sich offenbarende Scheitern der Traumfunktion überhebt ıhn nicht
nur der Deutung dieses Details, sondern beseitigt auch jeden Zweifel
an der Zulässigkeit und Richtigkeit des symbolischen Deutungsver-
fahrens. Erweist sich so der Wecktraum für den Schläfer als unwill-
kommene Störung, so ist er dem Psychoanalytiker ein willkommener
Beweis für die Anwendbarkeit der empirisch gefundenen Symbol-
bedeutungen auch auf jene Traumgebilde, die nicht zum Erwachen führen
und also keinen direkten Einblick in die somatischen Quellen und
psychischen Vorgänge der Symbolbildung gestatten.
Wir wollen uns im folgenden mit Ausschaltung aller anderen
Weckträume auf eine bestimmte Gruppe, nämlich die mit dem Harn-
drang in Verbindung stehenden, einschränken. Der sogenannte ‚„‚Harn-
seltsamen Übel erkrankt „und ebenso eigentümlich und geldfressend waren
die Mittel, die ihm die Ärzte dagegen verordneten. So mußte er z. B. täglich
10 Pfund Anken aufessen, also einen ganzen Marktkübel, und dazu eine Flasche
Lebertran trinken.“
Endlich ist noch als typische Verbindung die von Gold und Kohlen
zu erwähnen, die offenbar auch einer Milderungstendenz entsprungen ist. Die
‘ Kohle eignet sich zum Ersatze des Kotes zunächst wegen ihrer dunklen Farbe
und der als Gegensatzcharakter der Verhüllung dienenden Härte, Ebenso er-
leichterte diese Verknüpfung die Tatsache, daß die Kohle einmal als- völlig wertlos
und unverwendbar galt, während wir heute ein kostbares Gut in ihr erblicken,
dessen allmähliche Verringerung wir uns vergeblich aufzuhalten bemühen. Eine
Reihe solcher Sagen, in denen die Verwandlung von Kohlen in Gold erzählt wird,
berichtet Zingerle in seiner Abhandlung: Kohlen und Schätze (Germania,
Bd. VI, S. 411). Direkt an die Midassage erinnert eine von Vernalecken (Mythen
und Bräuche des Volkes in Niederösterreich, Wien, 1859) mitgeteilte Überlieferung
wonach ein Mädchen alle Kohlen, die es berührte, in Gold verwandelt (Kohlen
in Gold auch bei Veckenstedt, S. 359). Daselbst findet sich auch der Hinweis,
Redensarten, besonders der Geschäfts- und Börsensprache, Niederschlag ge-
funden hat. (Von einem Kapital; N;
Pitalisten, der au enblicklich kein RI RT;
hat, sagt der Fachmann: „er ist verstopft‘) Pre Mall uflBagie
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 99
reiztraum‘“ ist ein so allgemeines Erlebnis, daß er seit jeher die Auf-
merksamkeit nicht nur der Traumforscher auf sich gelenkt hat. Auch
ist seine in hohem Maße durchsichtige und stereotype Symbolik längst
erkannt und ausführlich beschrieben. Wenn wir uns dennoch der Mühe
unterziehen, dieses Gebiet vom psychoanalytischen Standpunkt zu
beleuchten, so geschieht es nicht nur zu dem Zwecke, die vielfach
angefochtene symbolische Arbeitsweise und Deutungstechnik des
Traumes gleichsam vom Material selbst demonstrieren zu lassen,
sondern auch weil wir erst auf Grund unserer psychoanalytischen
Erfahrungen die bereits der Antike völlig geläufige Tatsache der Sym-
bolik psychologisch verstehen und in ihrer vollen Bedeutsamkeit für
das Seelenleben des einzelnen und der Völker würdigen können.
Schon Hippokrates vertrat die Auffassung, daß im Traume
eine Umwandlung innerer Sensationen in symbolische Vorgänge statt-
finden könne, und nach seiner Meinung bedeutet es eine Störung der
Blase, wenn man von Fontänen und Brunnen träumt!). Am ein-
gehendsten von allen Traumforschern hat sich R. A. Scherner in
seinem Buche: Das Leben des Traumes (Berlin 1861, 8. 187 fg.) mit
der Symbolik des Harndrangtraumes beschäftigt. Und wenn er auch
in der ausschließlichen ‚Leibessymbolik‘ befangen den reichen psy-
chischen Anteil am Traumleben und an der Symbolbildung übersieht,
so sind uns seine Ausführungen doch gerade bei diesem vom organischen
Reiz beeinflußten Material als Vorstudie interessant genug zur Mitteilung,
„Der Harnreiztraum ist eine der allergewöhnlichsten Traum-
bildungen der Nacht, begleitet stetig die Ansammlung des Harns
in der Harnblase und gibt die symbolischen Gebilde dafür. Frauen
liefern die ausgebildetsten Formen dieses Traumes, teils wegen ihrer
leicht aufregbaren Phantasie, teils wegen der Begünstigung der Harn-
sammlung in der weiblichen Blase. Die meisten Traumerzählungen
der Frauen sind voll symbolischer Schilderungen für diesen organischen
Reiz, obwohl bei der bisherigen Unkunde über das Traumleben sie sich
des natürlichen Grundes nicht bewußt sind.
„Das allgemeinste Symbol dieses Traumes ist das Wasser, ent-
sprechend der organischen Flüssigkeit der Harnblase. Weil aber die
1) Diese sowie eine Reihe anderer interessanter Angaben entlehne ich
der kürzlich erschienenen Arbeit von Ellis: Die Welt der Träume, deutsche
Ausgabe von Kurella, Würzburg, 1911 (S. 89 ff. und $. 167). — Zum Thema
der „vesikalen‘ Träume vergleiche man noch in desselben Autors: Geschlechtstrieb
und Schamgefühl (3. Auflage, Würzburg, 1907) die Ausführungen $. 262 ff.
60 Otto Rank.
Harnblase im Zustande größeren oder geringeren Dranges viel Harn
enthält, so entspricht dem unmittelbar das allbekannte Bild von der
großen Menge des Wassers in Strömen, Flüssen, Teichen, bei Über-
schwemmungen u. dgl., wobei die Träumerin als Zuschauerin usw.
mit interessiert erscheint. Weil sich die Nerven, auf welche der Druck
des Wassers in der Harnblase wirkt, in Erregung befinden, sowie weil
sie die Neigung haben, den angesammelten Harn zum Ausströmen zu
bringen; so ist es zumeist das Bild des brausenden, Wellen schlagenden,
hochflutenden, die Ufer zu überschreiten suchenden Wassers, welches
die Träumerin zu sehen meint. Und weil endlich der starke Harndrang
die entsprechenden Nerven in peinliche und widrige Aufregung versetzt,
so ıst die Malerei des hochflutenden Wassers stetig von Gefahrszenen
begleitet, d. i. die Träumerin steht am Ufer des Stromes oder auf einer
Brücke und sieht darin Menschen und Tiere mit den Wellen kämpfen,
worüber ıhr Gemüt die heftigste Angst erfährt; oder irgend eine ihrer
geliebten Personen fällt ins Wasser hinein, bei den Müttern (stehende
Form) das Kind. ... So z. B. im Traum einer alten Dame ($. 192).
Diese träumt, sie sehe einen Strom sehr angeschwollen und schon fangen
die Wellen an über die Ufer herauszutreten: sie sucht nach ihrer kleinen
Tochter (welche beiläufig unter die Erwachsenen zählt), um sie von
der durch die Überschwemmung gefährdeten Straße zu holen. Sie
findet sie, hebt sie auf und trägt sie zwischen beiden Handtellern,
(alles wörtlich nach der Erzählung) ins Zimmer; wie sie aber dort das
Kind niedersetzen will, ist es nur ein bißchen Flüssigkeit zwischen den
Händen, anstatt des Kindes, was sie sehr verwundert; obzwar sie trotz-
dem das. Gefühl der Freude dabei hat, als ob sie wirklich ihr Kind
Beer hätte. Analyse: die schließliche Auflösung des Kindes ‚‚zu
Wasser ist die schon oben behandelte schließliche nackte Objektivierung
des wirksamen Nervenreizes und dessen, was damit zusammenhängt;
hier also des Wassers in der Blase.
RR nen Untergang ist von der Phantasie adäquat
genden Harnbedürfnis und dem angemessener heftiger
Nervenregung gesetzt....
“ a a en 3 Zuschauerinnen bei Gefahrszenen,
a. uck des Bedürfnisses, als wenn die Phan-
= eibet als die in Gefahren Befindlichen malt; der stärkste
arndruck aber zeichnet sich durch den Untergan AN in W
sp Schwebenden, sei es der Träumer a: a A
sehr geliebtes Wesen, und steht offenbar in den Gefahrträumen
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 61
der Mutter das bedrohte Kind der Selbstgefahr der Mutter an Inten-
sität gleich. |
„Der gelindere Harndrang weckt nur gleich gelindere Bilder. Man
geht in starkem Regen, oder es gießt wie mit Kannen, man ist dabei
vor dem Regen geschützt oder nicht; man badet oder watet in seichtem
Wasser, gelangt dabei mit dem Körper nur so tief in die Flut, als die
Höhe der Blasenlage im menschlichen Körper ist.....
„Die Häufigkeit der Harnreizträume bewirkt es, daß die Phantasie
auf diesem Gebiete eine große Mannigfaltigkeit der Darstellung ent-
faltet. Oft sehen wir im Traume einen Hund über den Platz springen,
sein Anlauf von der Zaunecke zeigt deutlich seine symbolischeBedeutung;
oder der Junggeselle träumt (wörtlich nach der Traumtatsache), ihm
sei plötzlich ein kleines gewickeltes Kind gebracht worden, er lege es
zu allem andern unnützen Zubehör auf den Ofen; regelmäßig kommt
die Aufwärterin, um es zu nähren; sie tut es, inzwischen begegnet dem
Säugling das Allernatürlichste, und der Strahl trifft den Träumer,
die Aufwärterin wirft das Glas mit der Milch um und sie fließt heraus. .,..
Auch die Aktion des Biertrinkens steht oft für Harnreiz, inwiefern
dem Biertrunke diese Bedürfnisverrichtung zu folgen pflegt (8. 196)... .
‚„„...Oder es versetzt uns der Harnreiz mitten in einen fürstlichen
Palasthof, worin der Springbrunnen und sein rundes Wasserbassin
unser Augenmerk fesselt (rundes Bassin für Blase, springendes Wasser
für Entleerung der Blase).
„Bei den Männern schlägt der stärkere Harndrang stets in die
Reizung der Geschlechtssphäre und deren symbolische Gebilde über;
aber auch bei Frauen begegnet Ähnliches, wegen der unmittelbaren
Verbindung von Harn- und Geschlechtsorganen wie beim Manne so
beim Weibe....der Harnreiztraum ist oft der Repräsentant des Ge-
schlechtstraumes zugleich“ (S. 192).
Auf die Ähnlichkeit des Harnreiztraumes mit dem sexuellen
Reiztraum, die besonders bei einem Vergleich der Pollutionsträume
mit den von nächtlichem Bettnässen gefolgten Träumen auffällt, haben
dann Moll (Lib. Sex. I, S. 552) und besonders Ellis (Geschl. Trieb,
S. 262 £.) hingewiesen, der die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen
sexuellen und vesikalen Träumen ausführlich bespricht, Tatsächlich
scheinen in vielen Fällen von der Pubertät an die Pollutionsträume
frühere enuretische Träume abzulösen!) oder neben solchen einherzu-
gehen, was für die Freudsche Auffassung der Enuresis nocturna als
!) Vgl. den Stiegentraum (Traumdeutung, 3. Auflage, S. 219).
62 Otto Rank.
einem pollutionsartigen Vorgang spricht (Dex. Theorie, 1905, S. 43 unten).
So teilt Alfred Adler, der in seiner „Studie über Minderwertigkeit
von Organen“ (1907) auf die spätere Symbolik (Schwimmen, Baden,
Bootfahren) der ursprünglich enuretischen Träume hingewiesen hat
(S. 79), unter seiner interessanten Kasuistik einzelne derartige Fälle
mit: von besonderem Interesse ist der eines 26 jährigen Mannes (Fall 35,
8. 88), der in den nicht seltenen Pollutionsträumen vom Urinieren
träumt.
Auf den Zusammenhang des Bettnässens mit vesikalen Träumen
hat (nach Ellis) schon A.P. Buchan in seiner 1816 erschienenen Schrift:
Venus sine concubitu (p. 47) aufmerksam gemacht. Auch Ries hat in
einem Artikel über Enuresis nocturna (Monatschr. f. Harnkrankheiten
1904) darauf hingewiesen. Nach Adler, der dem Thema zuerst von
psychoanalytischer Seite näher getreten ist, stellt sich in der Kindheit
der Traum des’ Enuretikers im Sinne Freuds äls primitive Wunsch-
erfüllung nach ungebundener Organbetätigung dar (S. 79). Auch Ellis
(Träume $. 90) anerkennt den vesikalen Traum in seiner einfachsten
Form als Freudschen Wunschtraum von infantilem Typus. Während
aber Ellis meint, daß derartige nicht zur Blasenentleerung führende
Träume auch bei Personen vorkommen können, die in der Kindheit
nicht an Enuresis nocturna gelitten haben (Welt der Träume, S. 89 £.),
erlauben die späteren vesikalen Träume Erwachsener nach Adler
„die sichere Diagnose überstandener Enuresis“ (S. 79). Dies trifft auch
bei der Person zu, deren vesikale Träume der folgenden Untersuchung
zugrunde liegen. Das heute voll erwachsene, körperlich und psychisch
gesunde Mädchen, deren Interesse für ihr eigenes Traumleben ich die
Sammlung und offenherzige Mitteilung der schönen Beispiele verdanke,
hatte, soweit sich feststellen ließ, in ihrem 5. Lebensjahr noch das Bett
genäßt und berichtet aus ihrem 14. Lebensjahr noch einen Traum
von rein infantilem Typus (sie glaubt auf dem Topf zu sitzen), der mit
Bettnässen endet und mit einem Schamgefühl verknüpft ist, wie wir
Pr De He auf sexuellem Gebiete anzutreffen gewohnt sind. Es ist hier
2 a, daß bei ‚einer großen Anzahl von Menschen die
z ee ar viel stärker mit Schamgefühl besetzt sind
infantilen Belkin di ee nn ustvollen rät
energischeren Verdrän e. een He: nn dadurch bedingten
und hervorragend das Ki a RR pen es
Ausspruch eines kaum dreiä = ann auf deren Erfolg ist, zeigt der
eijährigen Buben, der, wegen seines braven
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 63
Verhaltens belobt, sogleich spontan hinzusetzt, er habe auch das Bett
nicht naß gemacht und damit das Lob auf diese Leistung einzuschränken
sucht. Als man ihn ein andermal fragt, warum er das Bett naß gemacht
habe, entschuldigt er sich damit, daß er sagt, er habe geglaubt, daß er
das Topferl da habe, was auf einen (Bequemlichkeits-) Traum hin-
zudeuten scheint. Etwas Ähnliches finden .wir auch bei unserer Träu-
merin, die im Alter von fünf Jahren den gleichen typischen Traum
vom Sitzen auf dem Nachttopf hatte und dabei ins Bett näßte, während
sie in ihren späteren Träumen oft genug in bezug auf ihre jetzige Zimmer-
reinheit den alten infantilen Stolz verrät, der sich im erwachsenen
Leben als besonders ausgeprägter Ehrgeiz äußert.
Da in der Serie von Harndrangweckträumen, die im folgenden
mitgeteilt ist, auch die von Scherner angegebenen Symbole fast voll-
zählig zu finden sind, so muß hier schon nachdrücklich hervorgehoben
werden, daß wir auf Grund unserer psychoanalytischen Einsichten an
der organischen, lediglich den Leibreiz und sein Organ widerspiegelnden
Symbolbildung Scherners nicht festhalten können, sondern dem
psychischen Anteilan der Symbolbildung die ihm gebührende Beachtung
schenken müssen. Nicht etwa aus theoretischer Voreingenommenheit,
sondern aus der Erfahrung, die uns eines Besseren belehrt hat. Die
anscheinend rein aus dem Organreiz hervorgehenden Traumbildungen
lassen bei entsprechender Vertiefung den bedeutsamen psychischen
Anteil des unbewußten Seelenlebens erkennen, das in den allermeisten
Fällen auch hier die Triebkraft für die Traumbildung liefert, während dem
aktuellen Vorstellungs- und Erinnerungsschatz sowie den somatischen oder
äußeren Reizen nur das Material zum Aufbau der Traumgebilde ent-
stammt. Ja, in manchen Fällen, besonders wo es sich um kompliziertere
Träume handelt, sieht man oft deutlich, wie ein nach den Freudschen
Mechanismen des Unbewußten aufgebauter und deutbarer Traum
durch einen in der typischen Symbolik ausgedrückten Harnreiz unter-
brochen und nach der oft noch im Halbschlaf erfolgenden Abstellung
des Reizes ruhig weiter geträumt wird. Diese typische Harnsymbolik
ist nicht gut denkbar ohne den zumindest in der Kindheit erfahrenen und
psychisch verknüpften und überlagerten Blasenreiz. Doch sind die
Fälle, in denen er aktuellerweise den Traum im Dienste der Bequem-
lichkeitstendenz hervorruft, zu unterscheiden von denen, wo er, im
Verlaufe eines aus rein psychischen Quellen stammenden Wunschtraumes
hervorgerufen, durch sein Übermächtigwerden als Störer wirkt und
sich durch die halluzinatorische Befriedigung oder die Warnung vor
64 Otto Rank.
dem Gewährenlassen nicht abstellen läßt. Ob das zur Symbolisierung
verwendete psychische Material infantiler oder aktueller Herkunft
ist, ergibt jeweils die Deutung; doch wird entsprechend der infantilen
Wurzel dieser Träume in der Enuresis nocturna immer auch ein Anteil
vom infantilen Material stammen, rezentes Material aber, wenn es
sich darbietet, mit besonderer Vorliebe verwendet werden, weil es der
Verleugnung des eigenen Kinderfehlers und des unbequemen Be-
dürfnisses besonders gut dient; in dieser Absicht wird sehr häufig das
Bedürfnis und dessen Verrichtung im Traume einer andern Person
zugeschrieben, mit besonderer Vorliebe einem Kinde, was auf den
eigenen Rückfall ins Infantile hinweist. Unsere Träumerin, die als Kin-
derfräulein reichlich Gelegenheit hatte, an ihren kleinen Pfleglingen
derartige Vorkommnisse zu erleben und zu rügen, bedient sich natürlich
besonders gern dieser rationalisierenden Verhüllung ihres eigenen
Bedürfnisses, die in genialer Weise auch in der später zu besprechenden
Traumzeichnung im gleichen Sinne verwendet ist.
Mit dem von Scherner gänzlich vernachlässigten, von der
Psychoanalyse aber in so weitem und besonderem Ausmaße gewürdigten
psychischen Anteil an der Traum- und Symbolbildung hängt es auch
zusammen, daß wir bei keinem der mitgeteilten Träume eine vollständige
Deutung geben können, sondern uns immer nur auf einzelne für die
vorliegende Untersuchung interessante Details beschränken müssen.
Denn infolge der vorwiegend psychischen Quellen der Symbolbildung
zeigen die meisten vesikalen Träume eine ganze Reihe von Elementen
anderer Herkunft, worauf bereits Jung gelegentlich der Analyse
eines Urindrangtraumes!) hingewiesen hat. Auf Grund der Freud-
schen Auffassung der Enurese als infantiles Sexualsurrogat konnte
A u 2 g zeigen, dab sie auch im Traumleben des Erwachsenen gern als
ze nn _ RR a des Geschlechtstriebes verwendet
den achte arte hi i ern nn ii un a Drug al
® ; bei manchen dieser Träume auch damit zusammen-
zen teen, a der int an und 1
FR a en noc e® den Reiz gestört ist;
hervorgerufen wird, vermuten, ernde ea gen vB
. Pilsen /höng N an er Schlaf morgens nicht mehr tief genug
ERAABRT u können. Aus dieser Annäherung an den Wach-
‘) L’analyse des reves. L’annde {
ü psycholo $
2) Jahrbuch I, S. 170, ychologique, 1909, p. 165.
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 65
zustand erklärt sich auch das häufige Hineinspielen von Gedanken
und Bemerkungen in den Traum, die manchmal schon dem Halbwach-
bewußtsein angehören!), sowie anderseits die Tatsache, daß unsere
Träumerin oft im Halbschlaf das Bedürfnis verrichten und dann sogleich
wieder einschlafen und weiterträumen kann.
Unsere Untersuchung ermöglicht uns also, die von den alten und
neueren Traumforschern, besonders von Scherner, bereits gekannte
Tatsache typischer Harndrangsymbole bei psychoanalytischer Deutung
der Träume nicht nur zu bestätigen, sondern auch durch das Scheitern
der Bequemlichkeitsfunktion vom Traum direkt erweisen zu lassen.
Die gebührende Beachtung des wesentlichen psychischen Anteils an der
Symbolbildung und der dabei verwendeten Mechanismen gestattet
uns aber auch, die allgemein menschliche Bedeutung dieser Symbolik
breiter zu fundieren, und nötigt uns damit, sie in den rein psychischen
Gebilden der Einzel- und Volksseele, wo sie gänzlich losgelöst vom
organischen Faktor erscheint, im selben Sinne anzuerkennen und so
wieder ihre im Traumleben erkannte Bedeutung zu stützen und zu
vertiefen.
In der folgenden Traumserie, die im Verlaufe eines längeren
Zeitraumes gesammelt wurde, sind die typisch wiederkehrenden Symbol-
elemente durch den Druck ausgezeichnet. Wir beginnen mit einem Bei-
spiele, in welchem die Träumerin die sie im Schlafe störende Empfindung
im Traume ihrem kleinen Pilegling zuschreibt, wie sie sie in den
nächsten Beispielen auf die der Erziehung zur Zimmerreinheit in hohem
Maße bedürftigen Hunde überträgt. |
Traum Nr. 2.
„Ich hatte den Robert auf meiner Hand sitzen; er hat fort pisch-
pisch und a-a gerufen. Plötzlich hat er mir auf die Hand gewischerlt,
mir hat gegraust und ich habe ihn fallen lassen. Ich habe geschimpft, bin
darüber aufgewacht und mußte auf die kleine Seite gehen.“
Der zirka dreijährige Robert, mit dem sie sich tagsüber beschäftigt
hat, ist tatsächlich noch nicht völlig zimmerrein, da er manchmal
bei Tage die Hose und bei Nacht das Bett naß macht; die im Traum
geschilderte Szene hat sich nie abgespielt, das Grausen deutet aber
darauf hin, daß ihr möglicher Eintritt befürchtet worden war. Ander-
!) Inzwischen ist im letzten Halbband (III, 2) des Jahrbuches Silberers
Arbeit über die Schwellensymbolik erschienen. Man vergleiche dort auch das
Eisenbahnfahren als Schwellensymbolik wie in manchen unserer Beispiele.
Jahrbuch für psychoanalyt. u, psychopathol. Forschungen. IV. B)
66 Otto Rank.
seits ist anzunehmen, daß die urethral-erotischen Vorgänge!) bei dem
Kleinen in der Träumerin unbewußterweise die lustvolle Erinnerung
an ihre eigenen Urinspielereien geweckt haben, die sich dann im Traum
unter dem Drucke der seitherigen Verdrängung nur in der Abwehrform
(Grausen) äußern können. Das Schimpfen entspricht einem Atfekt
des Ärgers, offenbar darüber, daß durch diese unbewußte Lustrepro-
duktion die Blase zur Entleerung angeregt wird und die Träumerin
diese Störung des Schlafes mit in Kauf nehmen muß,
Traum Nr. 3.
„Ich ging durch eine schmutzige und sehr kotige Gasse, die
wie vom Regen naß war und sah dort ein kleines Kind mit einer
alten Frau gehen. Das Kind machte ein schmerzliches Gesicht, als ob es
ein körperliches Bedürfnis hätte, und schaute sich öfter um, als hätte
es etwas verloren (es hat auch wirklich etwas verloren). Es war, als hätte
es sich vor mir geniert auf die Seite zu gehen. Als das Kind schon
den Boden schmutzig gemacht hatte und seine Hosen ganz nab
geworden waren, dachte ich mir: Warum läßt sie denn das Kind nicht auf
die Seite gehen? Dann hat sie ihm doch die Hosen herunter gelassen und
ich wachte auf mit dem Bedürfnisse auf die Seite zu gehen.“
Wie beim früheren Traum ist auch hier eine Wiederbelebung der
eigenen kopro- und urophilen Neigungen im Gefolge der Kinderpflege anzu-
nehmen. Da sich die Träumerin mit ihrem Pflegling identifiziert, so ist
ihre Pilegerin im Traume die alte Frau, die in Wirklichkeit jetzt etwa ihrer
Mutter entspräche, welche sie als kleines Kind so betreut hat, wie sie selbst
jetzt ihren Schutzbefohlenen. Wie im vorigen Traum, so ist auch hier die
Lusterweckung durch die Kinderpflege darin angedeutet, daß die
Träumerin einem urinierenden Kinde zusieht und dabei selbst zum
en gebracht wird. Anderseits sucht die Bequemlichkeitstendenz
en ER einmal geweckten Harndrang erst durch
Ali El n a ei ; m Mr beseitigen und so den Schlaf zu
der Ärger über das km ni en u ee kg Ke;
schluß, den Reiz abzustellen, in u % EN a N jan
warum läßt sie denn das Kind nicht a 1 Kunze, ri,
die Reduktion der Traumpersone Bi Seite gehen. — Führb man
Träumerin konsequent durch, so A in Airbag GR
ln en i j 2 angt man unter Berücksichtigung
zur Auffassung, daß das Fu Ki Bien Rue u ee
ee De. ın n feuchte Genitale symbolisiert
: rethralerotik (Jahrbuch II, S. 409 f£.).
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 67
(ebenso wıe die nasse ‚‚Gasse‘‘). Diese Darstellung, der wir noch öiter
begegnen werden, zeigt der folgende Traum deutlicher und bereits in
Verbindung mit der dazugehörigen sexuellen Phantasie, was deutlich auf
den psychischen Ursprung dieser Symbolisierung hinweist, die durchaus
nicht im Schernerschen Sinne als Abbildung des Organs aufzufassen ist,
Traum Nr. 4.
„Frau 8. hat eine Vorladung bekommen vor die französische Kom-
mission wie zum Unterrichte ihres Kindes und hat mich ersucht, mit dem
Mäderl einschreiben zu gehen. Da es schon zu spät zur Einschreibung
war, habe ich mich geniert hineinzugehen und habe unten vor dem
prächtigen Haus an einem Wasser gewartet, bis das Kind herunterkommt.
{ch war froh, daß man sie angenommen hatte. Wir gehen dann weiter und
kommen zu einer Art Brunnen (ohne Wasser) am Wasser, wo eine Katze
rings herum läuft; das Mädchen streichelt sie und sagt, es ist ihre Katze.
Ich sage dann, es ist schade, daß du den Hut nicht auf hast, sonst könnten
wir auf die Kärntnerstraße spazieren gehen. Sie wollte zwar so
gehen, aber ich sagte, so kannst du nicht gehen, dort ist es zu elegant,
da geht man nicht mit bloßem Kopfe. Sie hat es bedauert und wie
wir ein Stückchen weiter gehen, fängt es an zu spritzen, erst große
Tropfen, und ich sage: ‚Na also, jetzt können wir ohnehin nicht gehen,
auch wenn du den Hut hättest, weil es ja regnet.‘ Ich bin dann auf-
gewacht und mußte auf die Seite gehen.“
Sie hatte längere Zeit vor dem Traume tatsächlich das sechs- oder
siebenjährige Mäder! der Frau 8. in die Schule begleitet. Der Traum
ist jedoch eine offenkundige Prostitutionsphantasie (einschreiben,
französisch, Kärntnerstraße, elegant, Vorladung) in der ‚die Kleine“
im Sinne Stekels als Symbol des Genitales erscheint!). Ähnlich erscheint
!) In einem andern ihrer Träume, der in Indien spielt, heißt es noch
deutlicher am Schluß: ‚‚Ich bin dann mit meiner Schwester auf einer Bahn
bergab gefahren (vgl. Traum Nr. 15) und komme an ein Haus, wo auf indisch
Abort darauf steht. Ich gehe hinein, werde aber durch irgend etwas abgehalten:
An einer Kasse sitzt nämlich eine Frau (vielleicht sollte das die Klosettfrau sein),
der ich erst hätte zahlen sollen. Inzwischen hat sich aber meine kleine
Schwester (die in Wirklichkeit schon erwachsen ist) schon vor der Tür aus-
gemacht. Ich schimpfe sie recht zusammen, besonders da auch ein junger Mann
hineinkommt und gerade in die Pfütze tritt. Sie entschuldigt sich aber, indem
sie sagt: Ich habe es nicht mehr ausgehalten, worüber ich im Traum sehr lachen
mußte. Ich erwachte dann und mußte auf die Seite gehen. Im Wachen mußte
ich auch noch darüber lachen, denn der Ausspruch: Ich habe es nicht mehr aus-
gehalten, waren ja eigentlich meine eigenen Worte und es war ja wirklich auch
‚meine kleine Schwester‘, die auf die Seite gehen wollte.‘ Die Träumerin deutet
damit an, daß ihr diese Umschreibung für das weibliche Genitale bekannt sei.
5*+
68 Otto Rank.
dann nochmals die Katze als Symbol des Genitales (‚das Mädchen
streichelt sie und sagt, es ist ihre Katze“). Der Regen ist ein typisches
Symbol für Urinieren und Harndrang. Der Traum zeigt uns einen
unbewußten Sexualwunsch in. inniger Verknüpfung mit dem Harn-
drang, welcher Zusammenhang uns noch beschäftigen wird.
Traum Nr. 5.
Bruchstück aus einem langen und komplizierten Traum: Auf dem
Wege zum Bahnhofe begriffen, kann sie sich von einem Hunde (Symbol
einer Person), der sie unaufhörlich verfolgt, nicht befreien. Der Hund
läuft ihr bis zum Waggon nach, „macht sich die Coupetür auf und
will mich nicht weglassen. Ich versuche ihn zwischen der Tür einzu-
quetschen und er macht sich schon an, so daß eine Pfütze im
Coup& war. Ich wache dann auf und muß wirklich auf die kleine Seite
gehen, lege mich dann wieder schlafen und träume, daß ich auf einer Wiese
ins Wasser gehe, um zu baden... .. sr
Der Traum, dessen vollständiger Text und Deutung weit über
den Rahmen dieser Arbeit hinausginge, soll nur die Übertragung des
Harndranges auf den Hund zeigen. Auch in diesem aus allerlei psychi-
schem Material; aufgebauten Traum ist der Harndrang gewiß nicht
der Traumanlaß gewesen, sondern er wurde im Verlaufe des Traumes
geweckt, der nach seiner Abstellung seinen ungestörten Fortgang
nahm wie in
Traum Nr. 6,
einem erotischen gefärbten Eifersuchtstraum, an dessen Schluß ein Dackel
das Zimmer beschmutzt, worüber sie sich sehr ärgert und auf-
regt, infolgedessen erwacht und selbst auf die kleine Seite gehen muß.
Es folgt nun eine Reihe von Träumen, in denen gleichfalls der
Harndrang zu dominieren und als Traumerreger zu fungieren scheint,
wo aber doch der psychische Anteil bald mehr, bald minder deutlich
hervortritt und der Traum sich zur bildlichen Darstellung durchaus
nicht einer Symbolisierung des Reizes oder seines Organs bedient,
sondern nur gewisse zur Funktion gehörige Vorstellungen des
Träumers in sprachlicher oder gegenständlicher Einkleidung darstellt.
Traum Nr. 7.
Ich komme mit einigen Kolleei '
H \ ginnen, Studentinnen, von einem
ne zurückkehrend, auf dem unser Wagen im Kot (lehmiger Boden)
stecken geblieben ist, zu einer Reihe von Klosetten, wo wir uns die
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 69
Schuhe vom Kot reinigen wollen. Ich öffne zu diesem Zweck eines nach
dem andern, kann aber keines benutzen, da alle verunreinigt sind und es
in ihnen ganz naß ist. Ich erwache also und muß auf die kleine Seite
gehen.‘“
Die Deutung dieses Traumes, die nicht vollständig mitgeteilt
zu werden braucht, führt bis auf die infantilen kopro- und urophilen
Spielereien mit den Schulkolleginnen und Spielgefährtinnen, denen
das spätere aus der Verdrängung dieser Neigungen hervorgegangene
Reinlichkeitsbedürfnis gegenübergestellt wird. Die nassen Klosette
stellen einerseits eine Warnung vor der ehemaligen Enuresis nocturna
dar, die sich ja im Anschluß an ein im Traume auf dem Topf oder
Klosett verrichtetes Bedürfnis einstellte, anderseits dienen sie als
Abschreckung vor der Benutzung des Klosetts der Bequemlichkeits-
tendenz, welche die Verrichtung des Bedürfnisses zu verhindern oder
zu verzögern sucht. Entsprechend dem stärker werdenden Reiz führt
jedoch gerade die Unmöglichkeit der Befriedigung im Traume zum
Erwachen, womit allerdings die Funktion des Traumes gescheitert,
aber dafür die seit der Kindheit gefürchtete Enuresis vermieden ist.
Traum Nr. 8.
Schluß eines Traumest): „Es hat angefangen zu regnen und ich
sage: ‚Ich muß laufen, damit ich nicht naß werde.‘ Bei den anderen
war es, als ob sie nicht naß geworden wären, nur bei mir war es so und
ich spürte schon, daß ich am Kopfe naß werde. Ich laufe also
und laufe und wie ich zu Hause im Zimmer angekommen bin, erwache
ich und mußte auf die Seite gehen. — Schon früher ist in dem Traume
das Nasse vorgekommen; so wollte ich mir Rosen anstecken und sah,
daß sie naß waren; auch, glaube ich, hat es mich im Traume gemahnt,
auf die Seite zu gehen, bevor ich nach Hause laufe.‘
Hier setzt der Traum für den beginnenden Harnreiz den be-
ginnenden Regen, und zwar ganz deutlich im Sinne der Gefahr, naß
zu werden, also als Furcht vor der Enuresis. Die Eile (laufen), die
Verlegung der Nässe von unten nach oben (Kopf) und das Zimmer,
in dem man die Notdurft verrichten kann, zeigen das Sträuben gegen
ein enuretisches Vergehen. Das Zimmer vertritt in anderen Träumen
!) Leider hat die Träumerin manchmal nur den auf den Harndrang bezüg-
lichen Teil des Traumes notiert, da sie nur für diesen Interesse hatte und auch
nur dafür ein solches beanspruchen zu können glaubte. Doch werden uns gerade
die wenigen vollständig überlieferten Texte die weitreichende Bedeutsamkeit
des psychischen Materials und die sekundäre Funktion des Harndranges aufs
deutlichste zeigen.
70 Otto Rank.
deutlicher als hier den Stolz auf die erworbene ‚Zimmerreinheit”
(vel. Beispiel Nr. 14); in diesem Sinne ist auch die Traummahnung
zu verstehen, vor dem Nachhausegehen die Notdurft zu verrichten.
Die symbolische und so gar nicht reale Bedeutung des Regens offenbart
sich hier in der naiven Bemerkung, daß nur die Träumerin naß ge-
worden sei und die anderen Leute nicht.
Neben dieser mit Stolz verbundenen Vermeidung der beschämen-
den Enuresis erweist sich als zweite bedeutsamere Determinante des Regen-
symbols die Bequemlichkeitstendenz. Das Regnen stellt, ähnlich wie die
anderen typischen Symbole des vesikalen Traumes, nicht wie Seherner
meinte, die Funktion oder das Organ dar, sondern besagt im Sinne der
Bequemlichkeitstendenz und Wunscherfüllung: Ich uriniere (regne, schiffe,
strahle) ja schon, ich brauche also nicht aufzustehen. Daraus erklärt sich
auch das beständige Wiederholen der Symbolik (in besonders gehäufter
Weise im Beispiel 18), solange der Traum seine Funktion noch nicht
aufgegeben hat; es entspricht dem kontinuierlichen Charakter des
Dranges und sucht diesen — ähnlich wie den Sexualdrang im Pollutions-
traum — so lange durch symbolische Ersatzbildungen zu befriedigen,
als es nur möglich ist. Das Aufgeben dieser Tendenz, die einer bestän-
digen Aufrechterhaltung der Verdrängung entspricht, muß das Herein-
brechen der realen Anforderung und damit das Scheitern der Be-
quemlichkeitsfunktion zur Folge haben. Dieses Festhalten an der
Symbolbefriedigung zeigt besonders deutlich der folgende
Traum Nr.9.
„Ich gehe mit meiner Mutter, die eine Laterne träst. 15
ae bergab zu einer Unterhaltung. Plötzlich entschließe ich Fr nicht
a i zu gehen und setze meinen Weg allein fort. Ich gehe längs eines
In en ken, en und begegne meiner Schwester
e m ungen Manne geht. Ich gehe mit ihr weit d |
plötzlich: Ich glaube, es fängt an zu regnen. Und schon fä ee
zu spritzen. Ich wollte aber noch nicht man East er Br
nn ei ee zu gießen. Wir flüchten unter 2 ee
ER ein bellender Hund den Eintritt verwehren will, und cha von
aus dem Regen zu, ın der Erwartung, daß der Platzregen
RR we lehrreiche Traum zeigt uns die Regensymbolik deswesen
eutlich als Wunscherfüllung, weil mit dem stärker et
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 71
Harndrang auch die Intensität des Regens (erst stilles Wasser, dann
spritzen, gießen, schütten, Platzregen) zunimmt, gleichsam als wollte
die Träumerin die mit dem Anwachsen des Dranges näher rückende
Bequemlichkeitsstörung durch die immer stärker betonte Intensität des
Urinierens beruhigen. Je heftiger der Drang wird, desto stärker uriniert
sie (symbolisch), um nur nicht aufstehen zu müssen (dasselbe drückt die
später reproduzierte Zeichnung aus). Daß der Bequemlichkeitswunsch
in der Tat diesen Traum beherrscht, ergibt sich ja aus der Schlußbe-
merkung, daß die Träumerin trotz der zum Scheitern der Traumfunktion
führenden Dringlichkeit des Bedürfnisses noch immer nicht aufstehen
will und also noch im Wachen an der Bequemlichkeitstendenz festhält.
Die Nachdrücklichkeit dieses Festhaltens offenbart sich aber bereits
im Trauminhalt selbst, wo dem stärker werdenden Harndrang außer der
Symbolbefriedigung auch noch zweimal der direkte Bequemlichkeits-
wunsch entgegengestellt wird. Einmal, wo es beim Beginn des Regens
heißt: „ich wollte aber noch nicht zurückgehen“ (1. e. aufstehen), und das
zweitemal, wo der Drang schon mächtig ist, in der Tröstung, daß der
heftige Platzregen bald aufhören werde. Das Festhalten am Symbol
ist sehr hübsch und geistreich in dem Unterstellen unter das Haustor,
als der „Regen“ stark wird, und im Abwartenwollen desselben an-
gedeutet. Die Mutter mit dem Licht geht vielleicht auf frühinfantile
Enuresis und ihre Abgewöhnung durch die vorsorgliche Mutter zu-
rück. Die „Schwester“ als Genitalsymbol und der junge Mann weisen
auf die Erotik.
Ganz ähnlich gebaut und aufzufassen ist der
Traum Nr. 10.
„Auf einem Ausfluge fragte ich zwei Weiber um den Weg, den
sie mir auch zeigten. Ich sagte zu ihnen: ‚Mir scheint es wird regnen,
es wird ja ganz finster‘ und sie antworteten: ‚Ja, es scheint so.‘ — Dann
ging ich den Weg, den sie mir gezeigt hatten, und schon fing es plötzlich
stark zu regnen an; ich ging zur Station zurück, um nach Hause zu
fahren. Auf der Station mußte ich auf den Zug warten, konnte ihn.
aber nicht erwarten und wachte auf mit dem Bedürfnisse, auf die
kleine Seite zu gehen.“
Wieder finden wir hier den Beginn eines Regens, und zwar den
plötzlichen Beginn eines starken Regens, was im Hinblick auf den
kurzen Traum sowie auf das Nichtmehrwartenkönnen auf ein starkes
Bedürfnis, respektive auf die als Reaktion auf den Reiz erfolste
Traumbildung hinweist. Das Befragen der Weiber (i. e. Klosettfrauen)
73 Otto Rank.
um den Weg (nach dem Anstandsort) ist gleichfalls typische Klosett-
symbolik. Die Bemerkung: Mir scheint, es wird regnen, klingt wie Er-
mahnung: Mir scheint, ich muß auf die Seite gehen. Die „Reise“
scheint hier wieder deutlich mit dem unangenehmen, aber unvermeid-
lichen Aufstehenmüssen in Zusammenhang gebracht, wie im nächsten
Traum, der ausschließlich in der Reisesymbolik spricht.
Traum Nr. 11.
„Ich befand mich mit K. auf der Reise. Der Zug ist stehen geblieben
und er sagte, er müsse schauen gehen, was da draußen los ist, stieg aus,
ließ mich allein und kam nicht mehr zurück. Ich blieb mit dem ganzen
Gepäck zurück und wartete immer. Der Kondukteur fängt an zu pfeifen,
ich denke mir, er ist noch nicht da, und gehe schauen, sehe ihn aber nicht.
Der Zug setzt sich schon in Bewegung und da ich allein drin war und
Angst hatte weiterzufahren, ohne zu wissen wohin, rief ich einem vorbei-
kommenden Kondukteur zu: ‚Bitte schnell, stehen bleiben! Ich muß
ja noch aussteigen.‘ Der Zug war aber schon im Fahren und wir sind
' eine hübsche Strecke gefahren, als ich wieder einen Kondukteur sah und
ihm sagte, ich müsse dringend aussteigen. Der Zug ist dann lang-
samer gefahren, so daß ich ausspringen konnte. Ich erwachte dabei
und mußte auf die kleine Seite gehen.‘
Das Aussteigenmüssen, das zuerst durch die Abwesenheit des
Begieiters, dann durch die Bewegung des Zuges verhindert, schließlich
aber so eilig und dringlich gemacht wird, vertritt hier deutlich das
Aufstehenmüssen, dessen bequeme Verzögerung („wir sind eine hübsche
Strecke gefahren‘) offenbar durch den energischen Entschluß aus dem
Bett aufzuspringen endlich überwunden wurde. Daß erst der Be-
gleiter aussteigt, um zu schauen, was draußen los ist (wie die Deutung
ergibt, um etwas zu verrichten, wozu gewöhnlich ein Vorwand gebraucht
wird), ist ein besonderes Raffinement der Bequemlichkeitstendenz,
die den Harndrang und dessen Befriedigung gern einer andern Person
zuschiebt, damit der Träumer ungestört weiter schlafen könne.
Wie dieser Traum ausschließlich die Symbolik des Fahrens
a Da a Bas Jabolik Terwendten, 20 zen di
eiihel Ba chwımmen auf dem Meer in
gleicher Bedeutung.
Traum Nr. 12.
„Ich bin im Meere geschwommen, mit ei SEN
PT vommen, einer Leichtiskeit, ü
- ich mich ‚gewundert habe (da ich ja in Wirklichkeit nicht re
ann). Ich bin immer weiter hinaus ins hohe Meer geschwommen
Die Symbolschiehtung im Wecktraum usw. 13
und hatte Angst unterzugehen. Doch beruhigte ich mich, als ich all-
mählich wieder ins seichte Wasser und endlich ans Land kam. Ich sollte
dann in Begleitung eines Herrn zu dem Feste in den Kurpark gehen, in
den man über eine Brücke gelangte. Da er nicht warten wollte, bis ich
angezogen war, sollte ich ihm dorthin nachkommen. Ich suchte unter
meinen Kleidern nach meinem Portemonnai, um mir das Geld für die
Eintrittskarte vorzubereiten. Doch hatte ich kein Kleingeld bei mir
und ersuchte eine Dame, mir 10 Heller zu leihen; doch auch sie hatte
kein Geld bei sich. Schließlich fand ich aber doch bei mir die 10 Heller
und wollte damit über die Brücke zum Feste gehen. Als ich die Brücke
betrat, von wo ich das Fest schon sehen konnte, erwachte ich und mußte
auf die Seite gehen.‘
Hier finden wir zum erstenmal die Symbolisierung des Harndranges
durch den Aufenthalt im Wasser (schwimmen, ertrinken); das Naßwerden
hängt einerseits mit der Angst vor der Enuresis zusammen, wie ander-
seits die Fülle des Wassers in dem früher dargelegten Sinne der
Wunscherfüllung dient. Das Geld für die Eintrittskarte bezieht sich
auf den Besuch des Klosetts, in das der Eintritt hier in Wien tat-
sächlich 10 Heller beträgt, und die Dame vertritt auch hier wieder,
zum Teil wenigstens, die Klosettfrau. Das ‚‚Fest‘‘ werden wir in einem
andern Traume ebenfalls an der Stelle finden, wo man das Klosett
erwarten würde (vgl. die ‚Unterhaltung‘ im Beispiel 9). Es führen von
hier Erinnerungen in die Pubertätszeit, wo auf Festen das Entfernen
zu einer unaufschiebbaren Besorgung besonders peinlich (vor den Herren)
empfunden wurde, und aus der Analyse anderer Träume läßt sich diese
Scham auf eine infantile Periode der Ungeniertheit vor den Gespielen
zurückführen. Eine Reihe von Elementen des Traumes und seinen
Beziehungen zu Erlebnissen bleibt natürlich unerklärt.
Traum Nr. 13.
„Ich bin am Meere auf einem Kahn gefahren. Auf einmal erhebt
sich ein großer Wind, das Schiff beginnt zu schaukeln, so daß ich schon
mein Kleid eingetaucht hatte und naß war. Vom Kahne hat sich schon ein
Floß losgemacht und wir wollten ihm nach, um es zu fangen; da fängt das
Schiff sehr stark zu schaukeln an, wir sind hoch in die Höhe gegangen
und dann wieder tief hinunter. Wir befanden uns in einer großen Gefahr.
Wir waren schon ganz naß und ich habe mir schon die Röcke von
rückwärts in die Höhe gehoben. Da wurde in der Ferne ein großes Schiff
sichtbar und der Matrose hat hinübergewunken, damit wir hinkommen
können. Wie wir schon fast beim Dampfer sind, taucht unser Schiff wieder
unter. Ich greife dabei ins Wasser und erwische eine Ansichtskarte mit
der Akropolis von Athen. Wir kommen dem großen Schiffe immer
74 Otto Rank.
näher, steigen endlich aus und in das große hinein. Der Matrose sagt,
wir sollen uns rückwärts auf die Bank setzen, da ist es nicht so frei, da
erreicht einen das Wasser nicht so.Wir haben uns dann rückwärts gesetzt,
wo ein Fräulein in meiner Nähe stand und mich immer anlachte. Ich sage,
daß ich da eine Karte gefunden habe aus Athen, wo ich auch war (ich war
aber nicht dort) und daß darauf steht: Alba Denk. Ich frage, ob sie
vielleicht ihr gehört. Sie sagt ja. Wir sind dann weiter gefahren und das
oroße Schiff hat auch noch furchtbar im Sturme geschaukelt. Plötzlich
bin ich aufgewacht und mußte auf die Seite gehen.“
Wir finden hier das „Schiffen“ am Meer und die große Gefahr
des (infantilen) Naßwerdens, vor der man sich zu retten sucht. Das
Anwachsen des Sturmes sowie das entsprechende Größerwerden des
Schiffes (Umsteigen ins große Schiff) verstehen wir als funktionale
Darstellung des wachsenden Reizes (vgl. die Zeichnung) im Sinne der
Bequemlichkeits- und Wunscherfüllungstendenz. Das Wort ‚Denk‘
deutet die Träumerin als eine Selbstmahnung, daran zu denken, daß
sie auf die Seite gehe und nicht das Bett nässe; einem ähnlichen Merk-
wort werden wir in einem andern ihrer Träume begegnen (Nr. 22).
Doch hat die ganze Episode von der Ansichtskarte Beziehungen zu
meiner Person, der diese Träume wertvoll sind. Die Verbindung: Alba
Denk zeigt den gleichen Rhythmus wie mein Vor- und Zuname; außer-
dem ist „Denk“ die letzte Silbe des Namens der Straße, in der ich
wohne, und der gleichfalls denselben Rhythmus aufweist. Beweisend
für diese Beziehung wird aber die Tatsache, daß ich der Träumerin
von meiner Griechenlandreise eine Ansichtskarte aus Athen (Akropolis)
geschickt hatte und darauf meine ständige Wiener Wohnung (Simon-
denkgasse) als Absenderadresse angegeben hatte. Im Traum gehört
diese Karte einem andern Mädchen, der also ihre Eifersucht gilt und
die einen, dem meinigen gleichklingenden Namen trägst (Heirat). Doch
rächt sie sich dafür, indem sie der andern vorhält, daß sie mit mir in
BE nn 2 liche Benin mitgemacht babe
BEA Auch Ho: ar Lee 2 \ als Beispiel dienen, wie ‚hoch-
Reiz hervorgegangenen re Wo Hi en
Bla. . age auigebaut seın können. Davon
dern rollende Dilakmg nen egriff ‚geben, ohne daß jedoch
8 Im einzelnen geliefert werden kann.
Traum Nr. 14.
„Ich war in einem Restaurant und h
abe Ch
Ich bestelle nachher noch ein Glas Punsch (es sollte le re
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 75
Da kommt der Kellner mit der Bemerkung zurück, daß vom Punsche
keine Flasche offen ist, es ist nur ein „Anpischen‘ da und stellt ein
gefülltes Wasserglas vor mich hin. Ich habe darauf gesagt: ‚Also ja, so
lassen’s es halt da.‘
Ich wache dann im Halbschlafe auf und hatte das Verlangen, auf
die kleine Seite zu gehen. Ich wollte jedoch weiter schlafen, da es mir
unbequem war, aufzustehen, hatte es aber schon sehr dringend
und mußte doch aufstehen, das Bedürfnis verrichten.
Dann legte ich mich wieder nieder und träumte weiter: Ich war
von einer Reise zurückgekommen und wollte ein Kabinett bei T.
beziehen, wo ich tatsächlich einmal gewohnt hatte. Da es aber nicht zum
Einziehen hergerichtet war, lud mich die Dame, die das andere Zimmer
bewohnte, ein, bei ihr zu schlafen und auch die paar Tage bei ihr zu
bleiben, bis das Zimmer fertig ist. Ich habe es dankend angenommen.
(Es kam nun irgend eine Liebeserklärung von ihr, das habe ich aber
vergessen.) Am nächsten Morgen wache ich auf und sage, ich möchte doch
schauen, ob das Zimmer schon fertig ist, und ging halb gekleidet mit meinen
Sachen in das Kabinett. Es war darin eine große Wirtschaft, nicht zusammen-
geräumt; Malter, Schotter und Bretter sind darin herumgelegen. Da ist
das Dienstmädchen gekommen und hat gesagt: ‚Fräulein, Sie wollen jetzt
schon einziehen, es ist ja nicht zusammengeräumt. — Ich sagte, ja. —
Da kommt ein Rauchfangkehrer, stößt sie weg, sie macht dann die Tür
von draußen zu und er klopft dann auch von draußen wieder an. Er
bittet vielmals um Entschuldigung, daß noch nicht zusammengeräumt
ist, und sagt: ‚Sind Sie nicht böse, Fräulein, ich bin noch nicht dazu-
gekommen, da ich keine Zeit hatte, ich werde schon rein machen und
auskehren. Dann hat er sich höflich empfohlen, hat seine Geräte abgelegt
und zu arbeiten begonnen. Ich bin wieder zu der Dame zurück und habe
sie nochmals ersucht, daß sie mich noch einen Tag dabehalten möchte.‘
Tagesanknüpfung: Die Träumerin hatte dem kleinen Robert
gedroht, wenn er sich noch einmal anpischen (!) wird, so wird sie
ihm die Nase hineintauchen und ihn so zimmerrein machen, wie
man es jungen Hunden zu tun pflegt!). Sie hatte auch geraten, ihm
abends nichts mehr zu trinken zu geben. Der Traum zeigt deutlich
die Wiederbelebung ihrer eigenen infantilen Neigung zum Bettnässen;
denn im Traume trinkt sie eben gerade sehr viel, sagt sich aber dabei
schon, daß das zu nächtlichem Harndrang (,‚Anpischen‘‘) führen wird.
Zu Anpischen fällt ihr außer der Tagesanknüpfung der Badeort
Pistyan ein, welches Wort die klangliche Umkehrung des ersten
darstellt. Sehr hübsch schildert sie das Wehren der Bequemlichkeits-
!) Vgl. den ähnlichen „Traum der sich selbst deutet‘ (Jahrbuch II),
welcher auch die noch zu besprechende Verknüpfung von Pollution und Urin-
drang zeigt.
76 Otto Rank.
tendenz gegen das Aufstehen und in diesem Sinne scheint das erste
Traumstück auch zu sagen: siehst du, das kommt davon, wenn du
abends so ‚viel trinkst, dann mußt du aufstehen, denn sonst ist ein
„Anpischen“ da. Die „Rückkehr von der Reise‘“ stellt die Befriedigung
über die Erledigung des unangenehmen Geschäftes und der Rückkehr in
das bequeme Bett dar, wie in mehreren anderen Beispielen. Der zweite
Teil des Traumes bringt eine erotische (homosexuelle) Wunscherfüllung,
die uns zur Annahme nötigt, daß nicht der Harndrang, sondern diese
unbewußte erotische Wunschregung die Traumbildung veranlaßt hat.
Wäre .der Harndrang der Traumerreger, so hätte ja die Träumerin
nach Abstellung desselben keine Veranlassung weiter zu träumen.
So scheint aber der Mechanismus dieser Traumbildungen der zu sein,
daß eine unbewußte erotische Wunschregung sich zunächst auf dem
Wege der Regression in der infantilen (Pollutions-) Form der Urethral-
erotik zu befriedigen sucht, was aber die Blase zur wirklichen Ent-
leerung reizt. Dann kehrt die noch unbefriedigte libidinöse Regung
zur homosexuellen Mädchenfreundschait zurück, um schließlich ın
dem typisch männlichen Sexualsymbol des Rauchfangkehrers zu einer
heterosexuellen Befriedigungsphantasie zu streben. Doch hat der
Rauchfangkehrer hier neben seiner männlichen Sexualfunktion des
„Auskehrens‘“ auch noch die, daß er das Zimmer rein (Zimmerrein)
macht. Die Träumerin gibt also am Schluß des Traumes ihrem Stolz
darüber Ausdruck, daß sie nicht mehr das „Anpischen“ hat, sondern
bereits „‚zimmerrein‘ ist.
Der hier vermutete Mechanismus vom primären erotischen Wunsch,
der sich zuerst regressiv in der infantilen Form der Exkretionslust
zu befriedigen sucht und dann nach erfolgter Harnentleerung, die
natürlich für das reife Sexualempfinden keine adäquate Befriedigung
mehr darstellt, sich der eigentlich erotischen Wunschphantasie zur
Befriedigung zuwendet, läßt sich im folgenden, ebenfalls zweiteiligen
Traum an der Hand der Symbolik ein Stück weit im Detail verfolgen
und verstehen.
Traum Nr. 15.
1. Ich bin mit einem Mädchen auf ei '
gefahren; ganz schmales tiefblaues Wacıer ee Kinn
Gras bedeckt waren. Sie hat schlecht gelenkt und das Fahrzeu töncht Bi ER
Seite, wo ich gesessen bin (zur Spitze zu), ins Wasser unter San 1 Hin t ni
Wasser war und sie war oben. Ich bin aber dann obwohl i h ni ht
schwimmen kann, hervorgetaucht und sah in der Ferne Sn großes Viadukt:
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 77
ich dachte mir, daß ich dort Rettung finden werde. Ich habe mich dann
wieder auf das Schiff gesetzt und bemerke beim Zurückschauen, daß das
Mädchen in einem andern Schiffe ruhig weiterfährt. Wie ich in die Nähe
des Viadukts komme, hat sich das Wasser immer mehr gesenkt, bis
schon keines mehr da war; ich war froh, daß ich schon wieder auf Grund
war. Es war aber nur eine Insel, ein Fleck, wo ich auf die Seite gehen
konnte, und dahinter war wieder Wasser. Jetzt sah ich dort auch eine
Frau mit einem kleinen Buben wie auf einem Felsen sitzen, die Blumen
(wie zum Verkauf) in der Hand hatte. Ich habe gesagt, ich möchte auf
die Seite gehen und sagte ihr noch: Schnell, schnell, wo ist das, ich kann
nicht mehr weit gehen. Sie hat darauf gesagt, ja, da ist kein Haus, da müssen
Sie nach rückwärts gehen und hat mir gezeigt, wo ich auf die Seite gehen
soll; und ich bin nach rückwärts gegangen. Da wachte ich dann auf und
habe mir noch im Halbschlaf gedacht: Deshalb bin ich ins Wasser gefallen,
weil ich habe auf die Seite gehen müssen; das Untertauchen war die Angst,
der Drang und Schmerz durch das Verhalten und das war dann die Rettung —
ich habe mich aufs Trockene gerettet. Die Rettung hat bedeutet, daß
ich aufwachen soll, weil ich auf die Seite gehen muß. Ich habe schon lange
im Traum Schmerzen gespürt, konnte aber nicht aus dem Traum erwachen;
es sollte gerade an dieser Stelle sein, wo ich auch im Traum schon auf die
Seite muß.
Ich bin dann aufgestanden, auf die Seite gegangen, habe mich nieder-
gelegt, sogleich weiter geschlafen und habe wieder geträumt.
II. Dann ist ein Freund K. gekommen und hat gesagt: Wir sind jetzt
reisefertig, die Sonne scheint so schön, jetzt müssen wir gehen, jetzt fahren
wir nach Venedig. Wir sind dann ein Stückchen aufeinem großen Dampfer
auf dem Wasser gefahren, der dann anhält und K. sagt: Wir müssen jetzt
aussteigen. Es war aber noch nicht das Meer, sondern wie ein Vorfluß.
K. führt mich auf einen hohen steilen Berg hinauf, der mit Grün bedeckt
war. Ich sagte: Da hinauf sollen wir und habe mich sehr geplast. Ich sagte
dann noch: Ach, gewiß sollen wir da hinauf, damit ich das Meer nicht sehe
und nicht seekrank werde. Ich habe K. dann nicht mehr gefunden. Oben
komme ich dann zu einem großen Wasser und da waren viele Schiffe, die
so ausgeschaut haben wie die Schaukeln und auch so im Kreise angeordnet
und oben angehängt waren. Die Sonne hat dabei so schön geschienen.
Ich begegne dann einen bekannten Herrn, der mich fragt, was ich da mache
und ob ich allein bin. Ich sage: Nein, mein Begleiter kommt gleich nach
(das habe ich mir aber nur gedacht, da ich ja nicht wußte, wo K. ist). Ich
setze mich dann dort in ein Schiff, das lange gestanden ist; es hat ein biß-
chen geschaukelt und ist dann ein bißchen gefahren. Der Herr hat sich auch
hineingesetzt und wir haben miteinander gesprochen. Dann kommt wieder
eine Haltestelle, wo alle aussteigen mußten; es hat geheißen, wir müssen um-
steigen. Dann sind wir an eine Stelle gekommen, wo eine Art Tramwayhaus
stand, dabei viele Kinder. Dort gingen Schienen bergab wie eine Rutsch-
bahn und Sessel darauf, auf die man sich setzen mußte. Es hat auf einmal
furchtbar angefangen zu regnen. Neben mir ist eine frau gesessen,
die genau so einen Hut hatte wie ich; ich dachte mir, sie sitzt vorn und
78 Otto Rank.
ich werde nicht so naß werden wie sie. Auf einmal läutet es und es
geht an. Wir sind über die Schienen hinuntergefahren auf das Meer (erst
war es ja oben gewesen und nun war es wieder unten), das riesig groß war.
Ich habe ein bißchen Angst bekommen, denn K. ist noch nicht gekommen.
Unten treffe ich eine bekannte Dame mit einem älteren Herrn. Ich dachte
mir: Die geht mit so einem alten Herrn; sie wird übrigens auch nicht viel
jünger sein. Sie fragt mich, wo ich hinfahre, und ich sagte: N ach Rom. Sie
sagte, sie fahren nach Venedig. Ich sagte: Da war ich schon voriges Jahr und
habe davon erzählt. Er sagte: Sie wagen so allein zu fahren. Ich sagte darauf:
ich weiß nicht, wo der Herr so lange bleibt. Wir sind dann lange auf dem
Schiff gesessen; erhat Champagner und Speisen auftischen lassen und mich
auch eingeladen. Dann hat er erzählt, daß er eine Bekanntschaft hatte
und wo er diese Dame kennen gelernt hat. Er ist schon nicht mehr mit ihr
gegangen, aber sie ist wieder von ihm schwanger geworden (er gebrauchte
dafür einen andern Ausdruck, etwa niedergefallen). Er sagt: Ich bin ihr
Freund, sie hat es sehr gut bei mir, wir werden weiter zusammen gehen.
Sie sind dann fortgefahren bei schönem Sonnenschein. Ich habe fort auf K.
gewartet und gedacht: Ich bin so allein. Dann bin ich erwacht.‘“
Schiff, Wasser, Untertauchen mit dem Fahrzeug und Schwimmen
kennen wirschon aus früheren Träumen, ebenso die Gefahr und Rettung
„auis Trockene“; ferner das hier in der Darstellung durchs Gegenteil
(Geruch) als Blumenfrau geschilderte, aber doch als Klosettfrau be-
handelte Weib. Die im Halbschlaf versuchte Erklärung des Traumes
ist bei aller Rationalisierung doch sehr lehrreich und eine schöne Be-
stätigung der keineswegs erkünstelten symbolischen und funktionellen
Bedeutung der Traumbilder.
Der Umstand, daß auch hier nach Abstellung des Harnreizes
in erotischen Wunschphantasien weiter geträumt wird, weist mit aller
Deutlichkeit darauf hin, daß in diesen Träumen eine erotische Wunsch-
regung aus dem Unbewußten in letzter Linie als Traumerreger wirkt,
da ja sonst die Psyche keine Veranlassung hätte, nach Abstellung des
Reizes unmittelbar weiter zu träumen. Diese sexuelle Regung sucht
sich zunächst, entsprechend dem von Freud dargelegten Mechanismus
der Traumbildung (Traumdeutung VII), regressiv zu befriedigen
indem sie auf die infantile, seither infolge der Erziehung sufgegchenn
und auf dem Wege der „organischen“ Verdrängung überrandeha
erogene Ausnutzung der Exkretionsfunktion zurückgreift. Dadurch
wird die im Laufe der Nacht gefüllte Blase zur Auslassung des Urins
gereizt und die Folge ist die Störung des erotischen Wunschtraumes
durch das Aufstehen und die Verrichtung des Bedürfnisses ia
Bequemlichkeitstendenz — auch im Sinne der Wunscherfüllun
solange als möglich zu verhindern sucht. N eben den STR.
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. vs
der Schlafstörung und des Aufstehens sowie dem physischen Schmerz,
der mit der Retention des Urins verbunden ist, muß dieses Zurück-
halten, wie schon in der Kindheit, auch jetzt noch eine angenehme
Empfindung im Gefolge haben, da die Träumerin auch bei Tage gern
die Verrichtung des kleinen Bedürfnisses unter allerlei rationalistischen
Vorwänden bis zum äußersten Moment aufzuschieben sucht. Auch
würde sie sonst nicht so häufig Harndrangträume produzieren, die bei
ihr, wie festgestellt werden konnte, nicht vom abendlichen Genuß
größerer Flüssigkeitsmengen abhängen. Erfährt man überdies, daß die
Träumerin auch relativ häufig durch Pollutionsträume im Schlafe
gestört wird, ja, daß Harndrang und Pollution oft ineinander übergehen
(vgl. Beispiel Nr. 17 und 18), so gewinnt unsere Auffassung an Sicherheit.
Im vorliegenden Beispiel wird das besonders deutlich dadurch, daß
auf den ersten Teil, der durch seine Regression in die infantile Erotik
(vgl. auch das Fahren mit einem Mädchen) den Harndrang immer
intensiver werden läßt, ein zweiter Teil folgt, worin mit Verwendung
derselben Symbolik gleichsam die psychosexuelle Unterfütterung
des Traumes nachgetragen wird. Es wird nur jetzt die ganze Meeres-,
Schiff-, Reise- und Regensymbolik im Sinne der erotischen Wunsch-
erfüllung (Hochzeitsreise) verwendet, ähnlich wie im folgenden Bei-
spiel. Wir dürfen daraus schließen, daß auch schon bei der Bildung des
ersten Traumteiles die Triebkrait aus dem Sexuellen und Unbewußten
beigesteuert, aber zunächst von dem geweckten, gesteigerten und
endlich auf Abstellung drängenden Reiz überdeckt wurde und nun zum
Vorschein kommt. Wie andere Male die Zweiteilung des Traumes
einer logischen Relation Ausdruck gibt, der Traum also gleichsam in
ein vorderes Stück und einen Nachsatz zerlegt wird, so erscheint er
hier in anderer Richtung in eine obere und untere Hälfte zerspalten,
die wir mit Hilfe der gleichen Symbole wieder aufeinanderpassen
können. Auf die Detailanalyse können wir uns hier nicht einlassen ;
es seien nur einige identische oder gegensätzliche Symbolbedeutungen
und -verwertungen der beiden Traumstücke angedeutet. In der vesi-
kalen Auffassung der Seereise ist ein Mädchen ihre Begleiterin, was
auf die infantilen Urinspielereien hinweist, während in der erotischen Auf-
fassung ein Mann sie geleitet. Dem verschiedenen Sinne dieser Objekte
entspricht es, daß die erste Reise schlecht abgeht, mit Gefahr verbunden
ist („‚sie hat schlecht gelenkt“), während die zweite zum Teil wenigstens
angenehmer verläuft. Die psychische Identität der beiden Begleitpersonen
zeigt sich noch darin, daß auch der Freund gegen die unbewußte
80 Otto Rank.
Wunscherfüllungstendenz (Heirat) verschwindet, weil das Mädchen
im ersten Teil verschwinden mußte, um die ungenierte Besorgung
des Geschäftes zu ermöglichen. Im ersten Teil senkt sich in der Nähe
des Viaduktes das Wasser immer mehr, bis es ganz trocken wird und
sie auf die Seite gehen kann, dahinter ist aber wieder Wasser. Im
zweiten Teil findet sich ein ähnliches Element an der Stelle, wo man
von dem Tramwayhäuschen — Klosett wie in Nr. 19) bergab auf das
Meer fährt, das zum Teil oben, zum Teil unten liegt und durch den Berg
getrennt ist, wie im ersten Traumstück durch die Insel, auf der sie ihre
Notdurft verrichten konnte. Die Frau, ‚die genau so einen Hut hatte“
wie die Träumerin, ist natürlich mit ihr auf Grund des Heiratskomplexes
(Frau) identisch. Wenn sie dennoch von der Träumerin scharf differen-
ziert erscheint, so liegt das darin, daß sich die Träumerin wohl gerne
als verheiratete Frau betrachten möchte (Hochzeitsreise), jedoch ohne
die unangenehmen Folgen dieses Schrittes auf sich zu nehmen. Die
vielen Kinder bei der Haltestelle deuten ja an, welches Schicksal der
Ehefrau sie vermeiden möchte. Sie will die Hochzeitsreise auch mit
dem zweiten Herrn, den sie kennen lernt, machen, möchte aber nicht
so „naß“ werden wie die Frau mit den vielen Kindern, d. h. nicht
gravid werden. Zum Überfluß ist dieser Gedanke noch in den Gestalten
des älteren Liebespaares kontrastiert; denn da nimmt der freigebige
und noble Herr die Verantwortung für die gefallene Geliebte auf sich.
Es wird also hier vollkommen deutlich, daß die Symbolik des Naß-
werdens im ersten Teil als Befürchtung der Enuresis, im zweiten Teil
als Befürchtung der Gravidität aufgefaßt ist!). Kennt man außerdem
die von Freud aufgedeckte unbewußte Bedeutung des ‚Rettens“
im Sinne des Kindermachens, so ergibt sich die weitere Parallele, daß
auch im Rettungssymbol, das im ersten Teil nur der Gefahr des Bett-
nässens zu gelten scheint, doch — wie der zweite Teil zeigt — bereits
die sexuelle Bedeutung mitschwingt, die sich, losgelöst vom Organreiz,
als solche oifenbart. Indem wir diese Parallelisierung und Diffe-
renzierung von vesikalen und Geburtsträumen, die sich
oft in weitgehendem Maße der gleichen Symbolik bedienen,
= späteren Besprechung hervorheben, sei darauf hingewiesen, daß
eg ‚Wege ermöglichte Wiedervereinigung (Synthese)
umschichten zu einem zusammengehörigen Ganzen
‘) Diese beiden Bedeutungen zeigt auch ein und dasselbe Symbol in dem
von Freud gedeuteten Traum seiner Patientin Dora, (Bruchstück einer Hysterie-
analyse, Kl. Schr., 2. Folge, S. 55 ££.). ar
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 8ı
den Einwendungen zu begegnen vermag, welche in den vesikalen
Träumen das allgemein geforderte erotische Wunschmotiv aus dem _
Unbewußten sowie überhaupt die psychischen Mechanismen im Sinne
Freuds vermissen. Gewiß zeigen nicht alle Fälle so deutlich wie dieser
die Zerreißung des erotischen Wunschtraumes durch den infolge der
Regression intensiv gewordenen ÖOrganreiz und die Verteilung des
vesikalen und sexuellen Anteils auf zwei gesonderte Schichten; aber
dieses seltene Beispiel läßt uns wenigstens vermuten, daß eine solche
Unterfütterung des scheinbar nur vom Organreiz ausgehenden Traumes
auch in den Fällen vorhanden und bis zu einem gewissen Grade durch
die Einfälle bei der Analyse zu erschließen sein dürfte, wo sie weniger
deutlich oder gar nicht im Trauminhalt Ausdruck finden konnte. |
Unter den hier entwickelten Gesichtspunkten dürfen wir auch
den folgenden, gleichfalls zweiteiligen, Traum betrachten, dessen
sexueller Teil leider nicht erhalten ist; doch dürfen wir uns mit Rück-
sicht auf das vorige ausführlicher besprochene Beispiel mit der bloßen
Andeutung begnügen.
Traum Nr. 16.
„Ich bin auf dem Meere gefahren, da fängt es an zu regnen
und der Kapitän sagt mir, daß ich aussteigen muß, da wegen des Regens
sechs Tage kein Schiff mehr geht. Ich dachte: Gott, was soll ich jetzt
machen! Aber er hat mir ein Hotel empfohlen, wo ich gut aufgehoben
sein werde. Ich will also aussteigen, erwache aber dabei wirklich und
muß aus dem Bette steigen, um auf die kleine Seite zu gehen.“
„Ich bin dann gleich wieder eingeschlafen und habe weiter geträumt,
Am Morgen dachte ich mir gleich, wie schön das stimmt mit dem Regen,
und jetzt glaube ich auch daran, daß in meinem großen Traum (siehe
Jahrbuch II) der Regen richtig gedeutet ist.“
Der zweite Teil des Traumes, den sie nach dem Einschlafen
weiter träumte, aber nicht notiert hat, ist eine offenkundige Verlobungs-
phantasie, die in ihrem Elternhause spielt, und dies macht es wahr-
scheinlich, daß diese Seereise, die nach näherer Angabe nach Venedig
geht, im zweiten Traum im Sinne einer Hochzeitsreise weitergesponnen
und interpretiert (gerechtfertigt) wird, wofür auch das Hotel spräche,
Darf man in ‚„funktionaler‘* Anlehnung an den regressiven Charakter
dieser Träume hier eine Umstellung der beiden Traumstücke vornehmen
und das zweite voranstellen, so läge dem Traum eine Verlobungs-
und Heiratsphantasie zugrunde (Hochzeitsreise, Hotel), wo nur an
Stelle des Koitus am Schluß das Urinieren eingesetzt wäre.
Jahrbuch für psychoanalyt, u. psychopathol. Forschungen. IV. 6
82 Otto Rank.
Hervorhebung verdient noch die häufig wiederkehrende funk-
tionale Darstellungstechnik dieser Weckträume, die hier besonders
deutlich ausgeprägt ist. Das „Aussteigen“ aus dem Fahrzeug nımmt
im Sinne der Bequemlichkeitstendenz das notwendige Aussteigen aus
dem Bett vorweg, das unangenehme Aufstehen wird durch die Un-
annehmlichkeiten der Seereise symbolisiert. Doch ist zu erwähnen,
daß die typischen Seereisen einerseits einer eindrucksvollen Er-
innerung an eine solche, anderseits dem Wunsche nach Wiederholung
derselben Ausdruck geben und daß sie erst seit dem mächtigen Ein-
druck des Meeres in den vesikalen Träumen des Mädchens diese Rolle
spielen. Doch kommt: der Schiffsreise vor allem sprachsymbolische
Bedeutung zu, da hierzulande für das Urinieren der Ausdruck ‚‚schiffen“
gebräuchlich ist, dessen Sinn die Träumerin kennt und der diese in
der Sprache festgehaltene Symbolisierung als allgemeines Gebilde
kennzeichnet. Auch die typische Regensymbolik, besonders des be-
ginnenden Regens, für den fühlbar werdenden Harndrang, ist sprachlich
darin angedeutet, daß der Ausdruck ‚‚schiffen“, besonders in der Stu-
dentensprache, auch auf heftigen Regen angewendet wird.
Die erste deutliche Verschmelzung (Identifizierung) des lust-
betonten Urinierens nach entsprechender Retention mit dem Sexual-
genuß zeigt der folgende Pollutionstraum.
Traum Nr. 17.
Sie spielt zuerst im Zi mmer mit einem Hund, der sich unanständig
benimmt, indem er ihr auf den Rücken kriechen will. Dann liegt sie mit
dem Hund im Bett und hat eine Pollution, worüber sie furchtbar zornig
ist und den Hund hinausjagt; im Bett bemerkt sie, daß es naß ist. In
der Küche, wohin sie den Hund gejagt hat, sieht sie bei ihrer Tür eine
Lache, in die dann der Hund auch noch hineinwischerlt, so daß sie
noch größer wird (vgl. dazu die später besprochene Zeichnung). Dienst-
mädchen und Herr schlagen deswegen Lärm, sie wacht davon auf und
muß auf die kleine Seite gehen.
Tags vorher hatte sie tatsächlich in der Küche vor ihrer Tür
eıne von vergossenem Wasser herrührende Lache gesehen, was — im
Gegensatz zum Traum — den Herrn, der daran achtlos vorbeiging,
sowie auch das Dienstmädchen, die sie den ganzen Tag über nicht
wegputzte, ziemlich kalt ließ, die Träumerin aber unmäßig geärgert
hatte, so daß sıe wegen dieser Schlamperei Lärm schlug. Ist uns schon
diese affektive Reaktion aus dem infantilen Schuldbewußtsein ver-
ständlich (man könnte glauben, sie habe es gemacht), so weist der Hund
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 83
der die Lache vergrößert (i. e, eigentlich macht), deutlich darauf hin, daß
die Träumerin sie in diesem genanten (von genieren) Sinn aufgefaßt hatte.
Daß der Hund das außerhalb ihres Zimmers macht, demonstriert den Stolz
aufihre eigene Zim merreinheit, wobeinatürlich die wirkliche Lache eine
entsprechende Anknüpfung für die Lokalisation geboten hat. Die Nässe
im Bett verbindet das Bettnässen und das sexuelle Naß (Pollution), wie in
einem bei Freud mitgeteilten ‚‚Stiegentraum‘ (Traumdeutung, 3. Aufl.,
S. 219), und weist damit auf die tiefer wurzelnde Analogisierung der
beiden lustvollen Vorgänge hin!), Nur tritt hier im Gegensatz zu früher
besprochenen Träumen nicht zuerst der Harndrang und dann die
sexuelle Phantasie auf, sondern offenbar ist hier der sexuelle Reiz so
heftig, daß er sich zunächst ohne den Umweg über die frühinfantile
Regression zu befriedigen sucht. Es gilt jedoch für alle diese Fälle die
mir auch von Prof. Freud bestätigte Erfahrung, daß die Träumer
sich häufig in der Lokalisierung der Pollution täuschen. |
Eine Pollution in Verbindung mit dem Harnreiz zeigt auch der
Traum Nr. 18.
„gs war ein Häuschen am Meer und vis A vis ein Ankunftshaus.
Es hat geregnet und ich bin mit einem Herrn und seinen Kindern
bei Nacht dort hineingeflüchtet, wo wir auch geschlafen haben. Der Herr
ist dann aufgestanden und hat sich mit dem einen kleinen Kind, das wie
das andre im Hemd war, zum Wasser hinuntergestellt. Ich bin dann
auch aufgewacht und der Herr sagt, wir sollen schon aufstehen, ich und
das andere Kind, Wie ich in die Höhe schaue, sehe ich dort einen jungen
Mann, der herumgesucht hat, und ich wollte aufstehen und ihn fragen,
was er hier sucht und ob er nicht Herr W. sei. Ich wollte erst nicht
aufstehen, weil es mir unbequem war, bemerke aber dann, daß der
Boden in unserem Häuschen wie in einem Schweinestall ganz naß war.
Ich will also doch wirklich aufstehen, greife das Kind an und bemerke,
daß es ein ganz nasses Hemd hat und kotig ist, sich also angemacht
hat. Ich wollte aber noch immer nicht aufstehen; da hat das
Kind gesagt, es mußschon aufdie Seite gehen und ich habe gesagt,
es soll ein bißchen warten. Es hat aber nicht gewartet, sondern
ist davongelaufen in die Ankunftshalle. (Häuschen!) Ich bin dann auf-
gestanden, habe mich durch die Leute durchgedrängt und bin das Kind
suchen gegangen. Ich komme auf einen Hof, wo mir ein Misthaufen auf-
fällt und eine Frau die Hühner gefüttert hat; ich frage sie, ob sie nicht
ein kleines Kind laufen gesehen hat. Sie sagt: Ja, es ist nach rückwärts
1) Auch in ihrem „Traum, der sich selbst deutet“ (Jahrbuch II), tritt die
Pollution nach einer Reihe infantiler Urinreminiszenzen (Hund, Freundin, kleines
Kind, iulu usw.) auf.
6*
84 Otto Rank.
gelaufen, und ich habe mir gedacht, die hat ihr gewiß gezeigt, wo da
eine Toilette ist. Ich komme dann weiter zu zwei Mistha ufen in eine
Art Scheune und sehe dort eine Tür und noch eine Tür und schaue,
ob da nicht darauf steht Toilette. Auf den Türen ist aber nichts gestanden,
ich bin also aufs Geratewohl hineingegangen und dachte, daß es ein
Klosett sein wird, wo ich das Mädchen drin finden werde. Wie ich die
Tür aufmache, sehe ich drinnen junge Mädchen tanzen; ich denke mir,
da ist eine Tanzunterhaltung, wo ist denn aber da der Abort.
Ich gehe dann eine Stiege hinauf durch eine andere Tür und nehme dort
Wäsche von einem Strick auf den Arm und gehe wieder das Kind suchen.
Da blicke ich durch ein Tor (ich habe nicht mehr recht zurückgetroffen)
und sehe schon die Stadt (Hamburg) beleuchtet und denke mir, das
Kind wird schon dort sein. Ich gehe dann hinaus, habe aber die Kleine
nicht mehr gefunden. Dann war ich plötzlich mit K. im Wasser, wir
haben verkehrt, aber W. hat mich weggerufen und wir sind auseinander
gekommen. Ich war dann plötzlich mitten am dunkelschwarzen
Meer in einem großen schwarzen Dampfschiff allein. Ich habe mich
fort umgeschaut (wie auf der Straße heimlich nach einer Toilette), habe
aber niemand gesehen und dachte, ich müßte da verkommen. Plötzlich
hat das Wasser Wellen geworfen, das Schiff ist mit der Spitze ins
Wasser hinuntergetaucht und ich hatte schon Angst vor der Ge-
fahr. Wie ich schon ins Wasser komme, habe ich noch tief aufgeatmet
und bin dann erwacht, gleichsam um mich vordem Ertrinken zu retten.
Ich mußte auf die kleine Seite gehen.“
Auch ın diesem Traum, den wir fast ausschließlich von dem
immer heftiger und dringender werdenden und in immer raffinierterer
Weise beschwichtigten Harndrang beherrscht sehen, taucht schließlich
doch, wenn auch nur vorübergehend, der sexuelle Reiz auf und be-
friedigt sich in einer Pollution. Die typischen Symbole der infantilen
Unreinlichkeit sind hier mit einer seltenen Vollständigkeit und Offen-
heit beisammen. Die Bequemlichkeitstendenz macht sich besonders
deutlich bemerkbar und von ganz ausgesuchter Raffiniertheit ist der
Ausweg der Träumerin, die endlich, als gar keine Beschwichtigung
mehr nützt, doch aufsteht Ei aber auch nur im Traume. Das Kind,
das sich naß macht, ıst natürlich sie selbst in der bereits überwundenen
Kindheitsperiode der exkrementellen Lustgewinnung und wie sie dieses
Entwicklungsstadium Jin ihrem aktuellen. Wachleben längst über-
wunden hat, so erscheint das Kind auch im manifesten Traumtext als
der ihr zur Reinlichkeitserziehung anvertraute Pileglıng. Symbolisch
vertritt die „Kleine“ hier wieder ihr Genitale, das sich ja tatsächlich
Eon BE aNeR) Die Wäsche, die Sie im Traume vom Strick nimmt,
bar zum Trockne n. hängt, dient zum Ersatz (Wunsch-
gegensatz) für das benäßte Hemd. Herr W., durch dessen Rufen sie
Die Symbolschichtung im Weektraum usw. 89
im sexuellen Genuß gestört und wieder zur Verrichtung ihres Bedürfnisses
geführt wird, tritt schon zu Beginn des Traumes als Abspaltung vom
Vater der Kinder (Herr) auf der Suche nach einem Klosett auf, wie
später das Kind und dann die Träumerin selbst auf der Suche nach
dem Kind (Rationalisierung) und schließlich auf dem Schiff nach einem
Klosett. Die Angst vor der Gefahr wird sich in gleicher Weise auf das
Bettnässen wie auf die sexuelle Gefahr (Konzeption) beziehen, durch
die man Kinder bekommt und auch das ‚‚Retten‘ wird in gleicher
Weise doppelsinnig zu nehmen sein. Auch Hamburg symbolisiert als
Hafenstadt Meer und Wasser wie auch den libidinösen Komplex
(Jungfernsteg), da sich für die Träumerin erotische Reminiszenzen
an diese Stadt knüpfen.
Wenn auch nicht direkt eine Pollution, so doch deutlich sexuelle
Beziehungen zeigen die beiden folgenden Beispiele.
Traum Nr. 19,
wo es sich ebenfalls um Liebesabenteuer und Eifersucht handelt. Sie ist
die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen, kommt früh auf den Hof geschlichen
und wird von der Tante angerufen, worauf sie wie zur Ausrede sagt:
Ich bin nur heraus auf die Seite gegangen. Dann geht sie ins Haus,
zieht sich aus, legt sich nieder und wird vom Sohn der Tante, ihrem Cousin,
überfallen. Sie wehrt sich, wacht darüber auf und muß auf die kleine
Seite gehen.
Dieser sexuelle Überfall und die Abwehr haben sich tatsächlich
in ihrer Pubertätszeit im Hause der Tante ereignet, wo sie auch — im
Alter von 15 Jahren — das letzte sie tief beschämende Bettnässen hatte.
Der Traum zeigt also deutlich die Verdichtung und Übereinander-
lagerung des infantilen und des sexuellen Naßwerdens, sowie die Furcht
und Abwehr beiden gegenüber.
Dieselben Traumen aus der Pubertätszeit liegen dem folgenden
Traum zugrunde, der einen rezenten Anlaß in ein hübsches sprachliches
Symbol kleidet.
Traum Nr. 20.
„Ich war zu Hause und habe mich schlafen gelegt. An der Wand sehe
ich einen Nachtfalter (eine Alpe) herumkriechen. Ich habe mich darüber
geärgert und mich davor gefürchtet, wie überhaupt vor solchen Tieren,
und will ihn wegjagen. Er ist aber nicht weggegangen und da habe ich ihn
mit der Hand ein paarmal geschlagen und da ist er auf einmal groß
geworden, wie eine Fledermaus und hat ausgesehen wie eine Nachteule.
Da habe ich wieder danach geschlagen und es fliegen auf einmal riesig viele,
86 Otto Rank.
ein ganzer Schwarm, verschieden großer blauer Schmetterlinge auf, ein paar
Tausende, die im Licht geglitzert haben. Sie schwärmten um mich
herum und ich hatte Angst und deckte mein Gesicht mit einem Taschen-
tuch zu, so daß ich sie aber sehen konnte, denn der Anblick hat mir sehr
oefallen. Sie sind immer wieder in die Nähe meines Gesichtes geflogen
gekommen und wollten sich hereindrängen. Ich habe sie endlich verscheucht
und mich mit der Decke ganz zugedeckt. Dann bin ich eingeschlafen.
Noch im Halbschlai habe ich mir träumend gedacht, jetzt bin ich froh,
daß die Schmetterlinge nimmer da sind und ich ruhig schlafen kann.
Ich bin dann aufgewacht, mußte auf die kleine Seite gehen,
und habe wieder weiter geträumt.
Ich war bei der Tante und sah den Cousin beim Birnbaum stehen.
Wir neckten uns und er hat mich angeschaut. Ich gehe dann hinein, mache
aber die Türe nicht ganz zu. Zwei junge Männer, die mich gesehen hatten,
kommen durch die Gasse in den Hof und haben durch eine Ritze der
Tür hineingeschaut. Wie ich fertig war, bin ich herausgegangen
zum Gemüsegarten, wo ich mir eine Rose abpflücken wollte. Inzwischen
sind mir aber die auf der Erde liegenden Birnen aufgefallen und unter dem
Gemüse die Gurken. Wie ich aber nach den Gurken und Birnen greifen
will, sind es lauter Schlangen. Ich bin erschrocken und packte sie bei
ihren kleinen Geweihen fest an, um sie zu töten; doch sie sind zerbrochen
wie Luftbäckerei und nur die Bröseln sind übrig geblieben.“
Die Träumerin hatte am Abend vor dem Traume eine Unter-
haltung besucht und war dort Gegenstand der Aufmerksamkeit
von seiten vieler Herren gewesen; darunter hatte sich ein auffallend
großer besonders um sie bemüht. Die landläufigen physiologischen
Erklärungen der Traumphänomene würden nun ohne weiters annehmen,
der für das Mädehen ungewohnte und lange intensiv auf ihre Sehnerven
einwirkende Anblick des hell erleuchteten Festsaales habe noch im
Schlafzustand fortgedauert und in den zahllosen Schmetterlingen
Ausdruck gefunden, wie dies z. B. Wundt (Grundzüge der physiolog.
Psychologie II. Bd. 2. Aufl., 1880, 8. 363) für die subjektiven PER,
empfindungen behauptet hat. Er sagt: „Eine wesentliche Rolle spielen
ferner, wie ich glaube, bei den Traumillusionen jene subjektiven Ge-
sichts- und Gehörsempfindungen, die uns aus dem wachen Zustand
als Lichtchaos des dunklen Gesichtsfeldes, als Ohrenklingen Ohren-
sausen usw. bekannt sind, unter ihnen namentlich die subieiligen
Netzhauterregungen. So erklärt sich die merkwürdige Neigung des
Traumes, ähnliche oder ganz übereinstimmende Objekte in der M ehr-
zahl dem Auge vorzuzaubern. Zahllose Vögel, Schmetterlin
Fische, bunte Perlen, Blumen u. del. sehen wir ae uns RAR...
Hier hat der Lichtstaub des dunklen Gesichtsfeldes phantastische
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 87
Gestalt angenommen, und die zahlreichen Lichtpunkte, aus denen der-
selbe besteht, werden von dem Traume in ebenso vielen Einzelbildern
verkörpert, die wegen der Bequemlichkeit des Lichtchaos als bewegte
Gegenstände angeschaut werden. Hierin wurzelt auch wohl die große
Neigung des Traumes zu den mannigfachsten Tiergestalten, deren
Formenreichtum sich der besonderen Form der subjektiven Licht-
bilder leicht anschmiegt.‘“ Ohnedaß wir die Möglichkeit und Berechtigung
dieser Auffassung damit bestreiten wollten, möchten wir doch den
psychischen Anteil an der Traumbildung hier in den Vordergrund stellen,
den uns die in der Traumdeutung bereits etwas geübte Träumerin
spontan nahebringt. Ja, sie berichtet den Traum nur, um diese eigene
Deutung, die ihr sehr viel Spaß macht, bewundern zu lassen. Sie sagt:
Ich hatte heute diesen Traum (wobei sie zunächst nur den ersten Teil
erzählt) von den vielen Schmetterlingen, die mich umschwärmten und
ich bin gestern abend wirklich von vielen Herren umschwärmt
worden, und scherzhaft fügt sie auch gleich hinzu: Es waren gewiß
auch viele recht leichte Falter und flatterhafte junge Männer darunter,
wovon sie aber ausdrücklich den einen großen, der sich besonders
um sie bemühte, ausnehmen möchte. Daß die Falter im Traume gerade
zu ihrem Gesicht wollen, scheint in diesem Zusammenhang auf Kuß-
phantasien hinzudeuten und ist möglicherweise auch eine Verlegung
nach oben. Denn der eine Falter, der groß und zu einem Vogel wird,
erweist sich als unzweifelhaftes Penis- und Erektionssymbol, wenn
man den zweiten Teil des Traumes als Ergänzung heranzieht, wo eine
ähnliche Verwandlung der Birnen und Gurken in Schlangen stattfindet,
die dann beim Angreifen wie Luftbäckerei zusammenfallen, was auf den
aus dem Zustand der Erektion in den Normalzustand zurückgekehrten
Penis hinweist. Der Umstand, daß diese Symbolik mit der trau-
matischen Pubertätsszene zusammengebracht wird, legt die Vermutung
nahe, daß sie damals das erigierte Glied des erregten Attentäters ir-
gendwie gespürt und so mit dem seltsamen Phänomen der Erektion
bekannt geworden war. Auch hier führt der sexuelle Reiz im Zusammen-
hang mit dem Lichteindruck des Abends (,‚zündeln“) zur Blasenent-
leerung und im zweiten Teil des Traumes kann das Hineingehen ins
Zimmer, wo sie etwas besorgt und dabei durch eine Ritze belauscht
wird, ebensowohl die Besorgung eines Bedürfnisses, wie etwas Sexuelles
(Onanie? abpflücken) bedeuten; gibt doch gerade die Verrichtung der
körperlichen Bedürfnisse den Kindern die erste und reichlichste Ge-
legenheit zur Befriedigung ihrer sexuellen Schaulust.
88 Otto Rank.
Seine Herkunft aus sexuellen Komplexen verrät auch der folgende
„Harndrang“-Wecktraum.
Traum Nr. 21.
„Ich habe mich gedehnt und geräkelt und unser Dienstmädchen
fragte mich, was ich habe. Da kommt der Student von drüben, der das
bemerkt haben muß, und ich habe mich wieder so gedehnt. Er sagt: Fräulein,
was haben Sie? Und er setzt gleich hinzu: ‚Ich weiß schon, was sie haben,
Sie sind zu fett‘ und greift mir an die Brüste (er hat damit gemeint, es
fehlt mirein Liebhaber). Wie er das sast, fallen die Kleider von mir ab
und ich stehe mit offenem Haar da, das mir den ganzen Körper wie ein
Mantel bedeckte und ich spürte, wie es mich am Geschlechtsteil kitzelte.
Dasagter: Ach Fräulein, sind Sie lieb! und fängt mich an zu küsse n. Dann
sprachen wir vom Zimmer und er sagte, er werde mir ein schönes Zimmer
besorgen. Ach, sagte ich, ich fahre bald weg. Er aber erwidert: Also dann,
wenn Sie zurückkommen; auch soll es sehr elegant sein. Wenn man so reich
ist wie Sie! Ach, sage ich, wenn man auch reich ist! Ich begnüge mich mit
einem einfachen Zimmer (in Wirklichkeit wünsche ich mir ein elegantes).
Er sagt: ‚Bei meiner Tante wäre eines. Übrigens lassen wir das jetzt gehen,‘
ruft er plötzlich aus, fällt mir zu Füßen und küßt mir so von unten
herauf den Körper. Da habe ich auf einmal bemerkt, daß das Wasser
schon bis zu unserem Fenster reichte; es hat wie ein Meer ausgeschaut.
„Gott,“ sage ich, Sie können ja jetzt nicht hinüber gehen in Ihre Wohnung.‘
Er aber küßt mich fort leidenschaftlich weiter und das Wasser steigt
noch höher bis zu den Scheiben. Ich wandte den Körper weg, stieß ihn
mit beiden Händen an den Schultern weg und sagte: Bitte, lassen Sie mich
los, das Wasser kommt schon. Da wachte ich auf und mußte auf die
Seite gehen.‘
Wieder eine rein sexuelle Szene, die nur am Schluß an Stelle der
sexuellen Befriedigung die urethrale bringt, die im Anfang des Traumes
überhaupt nicht, später im Kitzel des Genitales, der aber zunächst
wohl den sexuellen Reiz bedeutet, dann im Zimmer (zimmerrein;
Absteigequartier) und schließlich im Wasser angedeutet ist, das aber nicht
ins Zimmer dringt (Zimmer—rein), sondern nur bis zu den Scheiben.
Der Schluß macht den Eindruck einer Phantasie von Koitus interruptus,
was ja dem sexuellen Sinn der Befürchtung, naß (= gravid) zu werden,
voll entspräche. Aus begreiflichen Gründen sind derartise Details
der hier mitgeteilten Traumdeutungen nicht zu arifizieren gewesen;
doch handelt es sich ja hier immer um die gleichen und allem
Komplexe, die durch ihre häufige Wiederkehr in verschiedener Ein-
Br Anger ia ım einzelnen nicht immer beweisbaren
Die Symbolsehichtung im Wecktraum usw. 89
Der nächste und letzte Traum dieser Reihe, dessen vollständige
Deutung hier nicht einmal annähernd versucht werden kann, soll uns
nochmals im Gegensatz zu den relativ einfachen ersten Beispielen die
hohe Kompliziertheit dieser ‚„vesikalen‘‘ Träume vor Augen führen.
Traum Nr. 22.
„K. ist zu mir gekommen und hat gesagt: Wir fahren auf die Todes-
insel. Ich war gar nicht überrascht und bereit mitzufahren, da ich wußte,
daß er zur Kur hinfahre. Während ich mich anziehe, erzählt er mir, daß
er gestern mit dem Sohn und der Tochter des Herrn P. oben auf der Todes-
insel war, wo es sehr schön war. Die Tochter sei ausgerüstet gewesen und
hatte ein Gewehr umhängen. Ich habe im Traum das Bild vor mir gesehen,
wie sie gegangen ist, mit hohen Schnürstiefeln (Nagelschuhen) und dachte
mir (ironisch): Na, die muß aber herzig ausgeschaut haben. Ich dachte
mir dabei noch, mir hätte es sicher besser gepaßt, wenn ich das Gewehr
gehabt hätte. Wir gingen dann weg zur Haltestelle, die in einer Gasse
meiner Heimatstadt lag. Die Gasse ging bergauf und die Wagen von der
Insel kamen da heruntergefahren!). Erst Elektrische und von der Ferne
sahen wir.auch einen Einspänner kommen, worauf ein Bub gesessen ist;
bei diesem Wagen sagte K. ausdrücklich, der kommt auch von der Todes-
insel. Er sagte dann: Wir werden da hier in diesen Wagen einsteigen, da
sind wir allein und nicht unter so vielen Leuten. Als er vor uns stehen blieb,
kamen aber gleich wieder Elektrische und der Einspänner stand zwischen
ihnen, so daß man keinen Zutritt hatte. Wir haben uns darüber geärgert,
er dürfte es bemerkt haben und fuhr nach vorn auf.den Ring, wo ein Stand-
platz war. Dort sind wir eingestiegen und der Bub mußte auf den Bock
steigen. Wir haben ihm gesagt, daß wir auf die Todesinsel fahren. Wir sind
gefahren und kommen dann zu einem breiten Graben. Dort stand eine
Art Leiterwagen, in dem ein häßliches krokodil- und schildkrötenartiges
Tier von der Größe eines Pferdes eingespannt war. In dem Wagen stand
ein langer dürrer, häßlicher Mann. Wir steigen dann aus und wie das Tier
uns näher kommen sieht, paßt es schon auf, als wollte es uns fressen. Ich
sehe dann auf den Mann und wundere mich, wie der aussieht! I&h fürchte
mich auch vor dem Tier. K. erwiderte: Es wird nichts machen, wir gehen
nicht in die Nähe. Wie wir dort stehen, fängt der Mann an, sich in dem
Schlamm, der sich in dem Graben befand, herumzuwälzen (es war ein Sumpf
mit Schilf usw.); er hat sich dabei schmerzlich gewunden und das Tier
auch. Dann ist er tot liegen geblieben und ich sage: Der Mann liegt schon
tot. Und K. sagt: Ja, das muß so sein. Wir sind dabei selbst schon im Graben
gegangen, aber noch auf Sand und Steinen. Dann kam aber schon ein
fußhohes Wasser, durch das wir gewatet sind. Da kommt ein dem
früheren ähnliches Tier, das ein Haus hatte wie einen Kahn, so daß man
nur seinen Kopf heraussah. Ich fürchtete mich wieder und sagte: Da kommt
!) Dieses Bild des Herunterfahrens kehrt in diesen Träumen öfter wieder.
90 Otto Rank.
wieder so ein Tier. K. sagte: Ich weiß schon, wie man diese Tiere bändigt.
Wie es auf mich loskam, nahm es K. beim Kopfe und steckte ihn in die
Öffnung seines Hauses hinein, aus dem er nicht so leicht heraus konnte,
So waren wir erlöst und sind wieder weiter gegangen. Da sehe ich in der
Ferne ein riesig großes Wasser und frage: Ist das noch die Donau?
K. sagt: Nein, ein See. Dann gehen wir weiter im Wasser, das uns
schon biszum Halsreichte, als plötzlich viele solche Tiere geschwommen
kommen, von denen eines nach mir schnappt und mich beim Arm packt,
so daß ich seine Zunge spürte. K. fand jedoch eine Rute im Wasser, mit
der er auf die Tiere losschlug, so daß sie schnell fortliefen und wir rasch
durch die ganze Menge hindurchkamen. Da habe ich gesagt: Ich kann schon
nicht mehr laufen, ich muß auf die Seite. Aber nur schnell, hat K.
gesagt, dort drüben kann man schon gehen. Wir kamen auch wirklich
bei einem Haus an (vom Wasser direkt kam man in ein Vorhaus) und da
sagte K.: Pardon, ich muß da hineingehen. Es waren mehrere Türen
nebeneinander und ich hab® mir gedacht: Ich gehe auch hinein (K. hat
mich direkt dazu aufgefordert). Ich gehe dann in die dritte Tür daneben
hinein, sehe aber, daß es nur für Männer ist. Ich habe mich aber nieder-
geknutscht und das Geschäft verrichtet, da ich mir dachte, es wird
doch momentan niemand kommen, da sind ja nicht so viele Leute. Ich
bin auch gleich heraus und wartete auf K., sehe aber dann die mittlere,
zweite Tür zurückgeschlagen und auf der innern Seite stand: Saal Dr.
Merk. Ich dachte mir, was soll das bedeuten, gewiß heißt das, da darf nur
der Dr. Merk hinein. Da kam K. heraus, ich schaute mich um und sah zwei
alte Frauen im zweiten Raum und dachte mir: Ach, das ist gewiß für
Damen und die eine von ihnen sagte mir es auch. Ich erwiderte ihr: Ich
danke, ich brauche es nicht mehr. Dann sind wir weggegangen. Ich bin
aufgestanden und mußte auf die Seite gehen.
Dann legte ich mich wieder nieder uud träumte weiter: Ichkam von
der Reise zurück und wohnte bei L. Ich kam hin und sagte: Ich komme
wieder. Ich sah die Stiegen naß, über die es so heruntergeronnen ist;
auch sind Blumenstöcke darauf gestanden und Vögel sind herumgeflogen.
Ich dachte, was das wohl für Vögel seien. Ich habe dann einen kleinen
Zeisig gefangen und geküßt. „... .“
Der Traum zeigt zu Beginn eine Bifersuchtsszene, indem die Träu-
merin an Stelle des verspotteten Fräuleins P. den Ausflug auf die Todes-
insel mit Herrn K. macht, ähnlich wie im Beispiel Nr. 13 die Reise
' nach Athen, um das fingierte Fräulein ‚Alba Denk“ zu übertrumpfen
Merkwürdigerweise enthält auch dieser Traum einen Namen, den die
Träumerin wie das „Denk“ dahin deutet, daß ‚‚Merk“ sie meh darauf
zu merken, daß sie das Bett nicht naß machen soll. Doch ist A Rück-
sicht auf die Beziehung des ‚Denk‘ zu meiner Person und auf die
Klangähnlichkeit des Dr. Merk mit meinem Namen darauf zu schließen
daß auch hier Gedanken auf meine Person zugrunde liegen, In:
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 91
die Träumerin diese Vermutung ablehnt und höchstens gelten lassen
will, sie habe sich vorgehalten, den Traum für mich zu „merken“. Herr
K., der ihr den Hof macht (ihre Heimat, gemeinsame Fahrt, Hochzeits-
reise), hatte ihr am Abend gesagt, daß er vom Arzt (Dr. Merk, Kranken-
saal, Klinik) wegen eines Leidens an die See geschickt wurde, was sie
offenbar mit Rücksicht auf die lange Trennung sehr verstimmt hatte, und
ihre Eifersucht rege machte, da sie im Traume K. Ausflüge mit anderen
Mädchen vorwirft und schließlich selbst mit ihm reist (Wunscherfüllung).
Die Mitteilung von seinem Leiden muß aber auch einen uneingestandenen
Todeswunsch gegen ihn geweckt haben, der im Trauminhalt deutlichen
Ausdruck gefunden hat (der sterbende Mann; Saal Dr. Merk). Wie
sonst das Wasser in der zweifachen Bedeutung des Urins und des
Fruchtwassers (Sexualakt, Konzeption, Geburt), so tritt es hier in der
doppelten Bedeutung von Urin und Totenfluß (Styx) auf). Deswegen
erscheint auch die Sexualität (Hochzeitsreise) nicht in positivem
Sinne, sondern in der Abwehrform der Angst (vor den häßlichen Tieren).
Diese und ähnliche Tiere bedeuten, wie wir aus verschiedenen anderen
Beispielen wissen, bei der Träumerin regelmäßig Sexualtiere, wie auch
der folgende Geburtstraum zeigt, der sich auch sonst in dem bereits
angedeuteten Sinne der gleichen Symbolik bedient wie die vesikalen
Träume.
Traum Nr. 23.
„Ich stehe mit Herrn K. und noch einem andern jungen Mann am
Vier eines großen Wassers, aus dem plötzlich ein großes häßliches Tier (wie
ein Affe mit dem Maul eines Frosches) kommt und mich in einen Abgrund
hinunterstürzen will. Die beiden stehen dabei, ohne mir zu helfen. Endlich
hat doch der junge Mann mit dem Stock danach geschlagen, so daß es tief
untergetaucht ist, und hat zu mir gesagt, er wird mich retten, indem er mich
hinüber ans andere Ufer brinst. Er nahm mich dann auf den Rücken und
trug mich durchs Wasser?), wofür ich ihm unsäglich dankbar war, da ich
1) Vgl. in Stekels Buch: Die Sprache des Traumes (Bergmann 1911)
die Kapitel über die Todessymbolik.
2) In einem hochkomplizierten zweiteiligen Traum aus ganz anderer Zeit
kehrt die gleiche Phantasie in ganz ähnlicher Einkleidung wieder. Im zweiten
Teil wird sie, nachdem sie in einem Kur- oder Wallfahrtsort einen Sauerbrunn
getrunken und sich verirrt hat, von einem jungen Mönch dadurch „gerettet‘,
daß er sie auf seinem Rücken über das Meer trägt. Sie hat die Empfindung, als
befriedige er sich dabei sexuell und spürt am Genitale Nässe (Pollution). Dann setzt
er sie zu Boden und es tritt ein zweiter junger Mann (wie im obigen Traum Nr. 23)
auf, der sie wieder aus der Gewalt des Mönches erretten will, mit dem sie
aber doch schließlich weiter geht. Da beginnen in der Wallfahrtskirche die
u
99 Otto Rank.
mir schon früher voll Verzweiflung gedacht hatte, wie ich denn da hinüber-
kommen sollte. Zum Dank habe ich ihn dann drüben leidenschaftlich geküßt
und spürte im Traum, wie er den Kuß erwiderte. Ich sage dann aber, daß
ich zurück muß, weil K. auf mich wartet. Er sagt, das ist schwer; er habe
nur drei Kronen bei sich, das Durchwaten koste aber 9; der Eildampfer
gar 26 Kronen. Ich sage, ich habe auch noch einen Gulden und etliche Kreuzer
bei mir, was er aber für zu wenig erklärt. Plötzlich habe ich ein Kind
(von dem ich mir im Wachen dachte, es sei gewiß von dem Kuß gekommen).
Er sagt, einMönch wird mich hinübertragen und sich das Kind vorn anbinden.
Ich setze mich also dem Mönch auf den Rücken und wie er ins Wasser
hineingeht, wache ich auf. Ich gehe auf die Seite, habe aber kein so dringendes
Verlangen, daß ich sagen könnte, es hätte mich geweckt.“
In diesem interessanten und für die Differentialdiagnose von vesi-
kalen und Geburtsträumen so wertvollen Beispiel finden wir die gleiche
Symbolik wie in allen bisher mitgeteilten Träumen. Aber nicht nur aus
der Schlußbemerkung der Träumerin ergibt sich, daß hier der Harn-
drang in noch geringerem Maße als Ursache des Traumes anzusehen ist,
sondern auch aus der Analyse, die den Traum als Geburtstraum entlarvt.
Dazu wird einiges Material bereits genügen. Vor allem spricht die im
Traum erfolgende Geburt des Kindes, das offenbar aus dem Wasser
(Geburtswasser) kommt, diese Bedeutung des Traumes ziemlich un-
verhüllt aus. Die Zensur bedient sich aber dafür zur Verhüllung dieses
anstößigen (peinlichen) Inhalts der Einkleidung in die infantile Sexual-
Glocken zu läuten, von deren Lärm geweckt, sie bemerkt, daß sie das Läuten
an der Wohnungstür im Schlafe und im Traume gestört hatte. Es ist spät morgens
und sie geht wie gewöhnlich vor dem Aufstehen auf die Seite, ohne besonderen
Drang, der ja auch nicht das Wecken aus dem Traume verursacht hatte. —
Dagegen erinnert sie später einen früheren ersten Traum derselben Nacht
(sehr zeitlich am Morgen), wo sie mit einem verheirateten Mann ein Rendez-
vous am Wasser hat, dann mit ihm ins Hotel geht und dort ‚‚das erste war,
daß sie vom Stubenmädchen Wasser für die beiden Rosen verlangte (eine rote
und eine weiße), die er mir überreicht hatte“. Im Hotel wird sie von ihrem
Bruder überrascht, der mit ihrem Begleiter Händel beginnt und an ihm zum
Mörder wird. Dann liegt sie mit der Mutter im Bette und sieht die Polizei
kommen, die den Bruder verhaften will. ‚Ich sage der Mutter, daß ich fort-
fahren möchte. Dann liege ich mit dem Bruder im Bette und sehe Blut (vgl.
die rote Rose). Dann stehe ich auf und er legt sich zur Mutter ins Bett (wie sie
selbst früher mit dem verheirateten Mann aus ihrer Heimat: dem Vater), wobei
ich mir dachte: Nein, so was, der schläft bei der Mutter. Dann BE ich
und mußte auf die Seite.“ — Einige Stunden später wird sie durch das Läuten
aus dem zuerst mitgeteilten Traum geweckt. Wir erkennen hier leicht lauter
infantile Sexualphantasien (Inzest), die zuerst tegressiv zum Harndrang und Er-
wachen, dann in aktueller Einkleidung zur Rettungsphantasie und Pollution führen.
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 95
theorie, die den Geschlechtsakt durch den Kuß ersetzt. An dieser Theorie
hatte die Träumerin tatsächlich bis zu ihrem 15. Lebensjahre fest-
gehalten und irischt die seither überwundene infantile Anschauung
zum Zwecke der Traumverhüllung auf. Weiß man, daß ihr am Vor-
abend der ihr unbekannte junge Mann des Traumes auf der Straße in
auffälliger Weise nachgegangen war und daß sie zur selben Zeit auf
ihren Verehrer K. wegen einer pekuniären Differenz schlecht zu sprechen
war, so verstehen wir den Traum als eine Entführungsphantasie mit der
sie sich dem neugewonnenen Verehrer zu- und von K. abzuwenden sucht.
Diese Phantasie scheint außer dem Geschlechtsverkehr (auf seinem
Rücken im Wasser reiten)!) und der daraus folgenden Geburt des
Kindes (aus dem Wasser) auch in leiser Andeutung auf die Hochzeit
(Reise) anzuspielen (Mönch —= Priester; sie hat auch etwas Geld bei
sich — Mitgift). Das böse, häßliche Tier, von dem sie der hilfreiche
Entführer befreit, ist eine Darstellung des ihr zurzeit abstoßend er-
scheinenden K., der sie in den Abgrund stürzen will. Ihre erotische
Neigung zu dem nur flüchtig auf der Straße gesehenen jungen Mann
wird auch bestätigt durch ihre eigene spontane Deutung, das Durchs-
Wasser-Tragen und -Waten besage vielleicht, daß sie sich gedacht habe:
der würde für mich durchs Feuer gehen (und mich nicht so schlecht
wie K. behandeln), was eine hübsche auf die Enuresis (Zündeln) zurück-
weisende Darstellung durchs Gegenteil auf Grund des anderweitig
bereits bedingten Traummaterials (Geburtswasser) ist. Das Rettungs-
symbol entspricht hier völlig im Freudschen Sinne dem Geburts-
komplex wie im folgenden und letzten Beispiel, das wir gekürzt wieder-
geben und das uns eine andere Differenzierungsform des Geburts-
traumes vom Harndrangtraum veranschaulichen soll.
Traum Nr. 24,
der aus derselben Zeit der Mißhelligkeiten mit K. stammt und die Ab-
neigung gegen ihn, die sie sich nicht voll einzugestehen vermag, deutlich
widerspiegelt. Es ist dies im ersten, von der. Träumerin leider nicht
notierten Teil des Traumes der Fall, der bloß ungern und flüchtig
erzählt wurde und von dem ich mir nur gemerkt habe, daß: er eine
Pollution enthielt, die der Träumerin mit großer Nässe verbunden
schien, sowie eine deutliche Abneigung gegen Herrn K. verriet. Der
1) Vgl. einen in vielen Details ähnlichen Traum bei Jung: Ein Beitrag
zur Psychologie des Gerüchtes (Zentralblatt für Psa. I. Bd., 1911, S. 81 £f.).
94 Ottc Rank.
weitere auf meinen Wunsch aufgezeichnete Teil des Traumes beginnt
auch mit den Worten;
„Ich lief ihm (K.) also davon und ging an einen Hafen, wo sehr viele
Schiffe standen. Ich stieg in eines der Schiffe ein und bemerke zu meiner
Überraschung, daß ein bekannter Herr A. (auf den eben K. ım ersten Traum
eifersüchtig war) auch einsteigt. Er wundert sich, daß ich auch da bin, und
fragt mich, wohin ich fahre. Ich sage nach Amerika. Er staunte noch,
daß ich eine so weite Reise unternehme, und dann kam es zur Fahrt. Das
Meer war so schön blau, die Fahrt herrlich und wir amüsierten uns köstlich,
als das Schiff plötzlich zu schaukeln begann. Ich hatte große Angst, hielt
mich bei A. an und dachte mir, das ist gewiß die Strafe Gottes, weil ich K.
so im Bösen verließ. Das Schiff hatte rückwärts ein Rettungsboot angehängt
und ich hoffte darin gerettet zu werden, aber das Wasser fing an immer
höher zu steigen, die Schiffe gingen schon unter und alle waren ertrunken.
Da sah ich am Land eine Bahnstation und meinte, wir können da hinüber-
springen und sind dann gerettet. A. wollte mich am Arm nehmen und mit
mir hinüberspringen, ich hüpfte aber allein hinüber und fühlte mich so
glücklich, daß wir gerettet waren. Auf der Seite, wo wir uns befanden,
war alles so schön grün und von ferne sah man ein herrliches Haus allein im
Grünen stehen. Herr A. sagte, das sei das Südbahnhotel und machte mir
auf dem Weg zu dem Haus einen Liebesantrag. Wir mußten über eine
Brücke gehen. Er freute sich schon sehr auf das Beisammensein und
küßte mich leidenschaftlich. Bevor wir zu dem Hause kamen, wachte
ich auf.“ |
Wir haben hier wieder eine in die typische Symbolik gekleidete
Entführungs-(Rettungs-)phantasie mit Liebesantrag, Hochzeitsreise,
Hotel, Küssen, die knapp vor der Pollution abbricht, welche bereits
ım ersten hier nicht mitgeteilten Vortraum erfolgt war. Da dieser
leider nicht erhalten ist, läßt sich nicht mehr feststellen, inwieweit er
dem Sexualempfinden der Träumerin adäguater war und darum eher
zur Pollution führte. Das Retten aus dem Wasser entspricht, wie die
Pollution im ersten Teil und die Hotelphantasie am Schluß, gleichfalls
Ce nur anders eingekleideten Geschlechtsakt und das Schaukeln
» Schiffes möchten wir in diesem Zusammenhange als die dazu-
a YA (die ii Pollution intendiert und vielleicht an-
a . eo hear) worden war) ansehen. Die Angst ent-
2: a # a und verdrängten Libido, da sie auf
wie im vori i r er iu a Kran ae ıhn zurückgeführt wird,
bie raum a ängstliche Empfindung, wie sie über das
große Wasser (Amerika: Sehnsucht) wieder zu f
K. zurü
werde. ückkommen
r *
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 95
So unvollständig, mangelhaft und hypothetisch die Traumanalysen
auch oft im einzelnen bleiben mußten, so glauben wir doch nicht nur aus
der Häufung der gleichen stets wiederkehrenden Symbole, sondern
auch aus der Eigenart mancher der mitgeteilten Beispiele die Bedeutung
und den psychischen Sinn der Symbolik im Wecktraum aufgezeigt
zu haben. Durch seine Funktion als Ersatz und Verhüter der infantilen
Enuresis sowie als Gewährer der urethralen Befriedigung (Pollution)
verrät uns der Traum oft genug den Sinn der zur verhüllten Darstellung
dieser Regungen und Vorgänge dienenden Symbole. Als besonderes
Ergebnis dieser Untersuchung möchten wir aber die auf Grund der
gleichen Symbolverwendung ziemlich weitgehende Ähnlichkeit der
vesikalen und der sogenannten ‚„Geburtsträume“ hervorheben, die doch
wieder, wie insbesondere die beiden letzten Beispiele gezeigt haben, bis zu
einem gewissen Grade scharf differenzierbar sind!). Wenn wir im Folgenden
diese beiden Bedeutungen der gleichen Symbole in schematischer
Sonderung wiedergeben, so soll damit nicht gesagt sein, daß das Symbol
entweder die eine oder die andere Bedeutung in einem speziellen Falle
haben müsse, sondern daß es wahrscheinlich in der Regel beide und ver-
mutlich noch eine Anzahl anderer Bedeutungen haben dürfte. Obwohl
in den sogenannten Geburtsträumen die andere Male nur vesikal ge-
brauchte Symbolik rein sexuell verwertet erscheint, zeigen uns doch
die mitgeteilten Beispiele, wie dasselbe Symbol gleichsam in zwei ver-
schiedenen Schichten eines und desselben Traumes diesen beiden
Bedeutungen entsprechen kann.
Die gleichen Symboldarstellungen, die im infantilen Sinne dem
vesikalen Traume zugrunde liegen, erscheinen im rezenten Sinne in
exquisit sexueller Bedeutung: Wasser = Urin = Sperma — Geburts-
wasser”); Schiff = ‚schiffen‘“ (urinieren) — Fruchtbehälter (Kasten);
naß werden = Enuresis = Koitus = Gravidität; schwimmen — Urin-
fülle = Aufenthalt des Ungeborenen; Regen = Urinieren = Befruch-
tungssymbol; Reisen (Fahren— Aussteigen) — Aufstehen aus dem
Bett = geschlechtlich verkehren (,‚tahren‘‘, Hochzeitsreise). Urinieren =
sexuelle Entleerung (Pollution). Diese entwicklungsmäßige psychische
!) Scherner kennt infolge der Vernachlässigung des psychischen Anteils
an der Symbolbildung diese Differenzierung allerdings nicht und nimmt also
häufig auch exquisite Geburtsträume als „Harndrangträume“,
2) Wir können hier eine der von Stekel (Die Sprache des Traumes, 1911)
aufgestellten „symbolischen Gleichungen‘ aus dem Material heraus direkt be-
stätigen.
96 Otto Rank.
Schichtung, die ein ursprünglich im infantilen Sinne gebrauchtes
Symbol späterhin mit der exquisit sexuellen Bedeutung verschmilzt
und überlagert, ist aber nur möglich, weil das Unbewußte nur eine Art
von Lust kennt (Libido) und die im Kindesalter erfahrene Exkretions-
Inst im weitesten Sinne (auch Enuresis usw.) einfach gleichsetzt der
später erfahrenen sexuellen Lust.
Die im Traumleben des Individuums aufgedeckte Symbolik ist
jedoch, wie wir bereits seit geraumer Zeit wissen und zu unserer Über-
raschung, aber auch zur großen Befriedigung, erkannt haben, keines-
wegs der Willkür des Träumers und seiner Psyche überlassen, sondern
kehrt in gesetzmäßiger Form und Bedeutung im unbewußten Seelen-
leben der anderen Individuen gegenwärtiger und längst vergangener
Zeiten wieder, so daß wir sie als völkerpsychologisches Gebilde ansehen
und würdigen dürfen. Es setzt sich aber diese typische Ausdrucksweise
des Unbewußten nicht nur über die Einzelseelen, Zeiten, Weltteile und
Völker, sondern auch über die damit aufs innigste verknüpfte Sprache
hinweg, die einmal diesem ‚psychischen Symbolbild auch lautlichen
Ausdruck verleiht, ein andermal bloß bildlichen. So wird aber die
Symbolik, ähnlich wie man das von der Musik behauptet hat, zu einer
weit auseinander liegende Rassen, Gebiete und Kulturperioden verbin-
denden und einander seltsam annähernden Zeichensprache. Es wird
daher nicht verwundern, wenn wir zu der kleinen Auslese aus dem
völkerpsychologischen Beweismaterial für unsere Symbolik die dis-
paratesten psychischen Gebilde, wie Mythen, Märchen, Sagen der
Kulturvölker und die Überlieferungen der Naturvölker, ebenso heran-
ziehen wie Glaube, Brauch und Sprache, ja selbst den unscheinbaren
und geringgeschätzten Witz der Beachtung in diesem Sinne würdig
finden.
Aus dem reichen Schatz dieser dem unbewußten Seelenleben
eigentlich entstammenden psychischen Bildungen kann im Folgenden
nur ein geringer Bruchteil in skizzenhafter Aneinanderreihung geboten
werden, der nur einen Begriff von der weitreichenden und allgemein-
gültigen Symbolik zu geben vermag, durch deren breite Fundierung
und psy chologisches Verständnis es uns anderseits erst möglich
geworden ist, eine Reihe volkskundlicher Überlieferungen von einer
neuen, bisher wenig beachteten Seite würdigen und verstehen zu
lernen. |
. Wenn wir den Reigen mit dem Witz eröffnen, so geschieht es
nicht nur deshalb, weil er das relativ einfachste und zugleich offen-
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw, 97
kundigste Phänomen dieser Art ist, sondern auch, weil wir erkannt zu
haben glauben, daß die ungeheuere Zahl von exkrementellen Witzen
uns Lust auf Kosten der seit der Kindheit verdrängten kopro- und
urophilen Neigungen auf dem Wege des psychischen Ersatzes (Sub-
limierung) verschafft. Es kann sich ja in diesen wissenschaftlichen
Blättern nicht darum handeln, durch eine vollzählige Sammlung dieser
zum großen Teil zotigen, manchmal aber in recht ergötzlicher Weise
menschliche Schwächen empfindlich treffenden Geschichten den Leser ab-
zustoßen oder zu belustigen. Doch sei es gestattet, wenigecharakteristische
Beispiele anzuführen, von denen jedes in seiner Art uns etwassagt. Daß
der Witz dabei, ganz wie der Traumt), die sprachliche Zweideutigkeit ganz
besonders bevorzugt, braucht wohl kaum ausdrücklich erwähnt zu werden.
Das erste Beispiel mag uns die typische Regensymbolik vorführen,
die überhaupt zu den verbreitetsten und durchgehendsten psychischen
Bildungen gehört. Direkt wie ein Gegenstück zu manchem der mit-
geteilten Regenträume klingt ein Witz, der einer in Wien bereits zur
mythischen Figur gewordenen Parvenuesgatiin zugeschrieben wird.
Sie soll für ihr Pferdegespann verschiedene Geschirre haben; ein ele-
gantes für Nachmittagsspazierfahrten auf dem Ring oder in den Prater
und ein schlechteres für nächtliche Fahrten vom und zum Theater
oder Ball. Wie besorgt sie um das schöne Geschirr ist, weiß die Anekdote
darin anzudeuten, daß sie bei Beginn eines Regens dem Kutscher
zurufen läßt: „Johann, holen Sie das Nachtgeschirr, es tröpfelt.‘
Von derselben Trägerin einer ganzen Reihe ähnlich anstößiger Anekdoten
erzählt man eine andere Geschichte, die dem mitgeteilten Traum Nr. 13
vom Champagner und „Anpischen“ voll entspricht. Bei einer bis in
die frühen Morgenstunden dauernden Festlichkeit ist sie an einem
Tische sitzend ein wenig eingenickt und wird in zarter Weise von
ihrem Nachbar durch geräuschvolles Hinschenken des Cham-
pagners in ihr Glas halb geweckt. Sie glaubt sich bereits zu Hause
in ihrem Bett und indem sie das Geräusch auf ihren sein erstes und
dringendstes Morgengeschäft verrichtenden Gatten bezieht, fragt sie,
seinen Namen flüsternd: Was, du stehst schon auf? — Auch in dieser
von einem boshaften Witzbold ausgeklügelten Situation wird der
Champagner mit dem ‚‚Anpischen‘“ identifiziert und zum Überfluß
ist das Ganze noch in eine Art traumhafte Einkleidung gebracht. Es ist
!) Vgl. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 2. ver-
mehrte Auflage. Fr. Deuticke, 1912.
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen, IV. 7
98 Otto Rank.
vielleicht nicht überflüssig zu- erwähnen, daß der Träumerin diese
Witze, die nur in gewissen Kreisen gemacht und kolportiert werden,
völlig unbekannt sind. Daß ihre Entstehung aber nicht bloß auf eine
gewisse Gesellschaftsschichte, Rasse oder Sprache beschränkt ist, mag
der folgende englische Scherz zeigen, dessen Kenntnis ich einer ge-
legentlichen Mitteilung von Ernest Jones verdanke. Eine auf die
frühere Königin von England bezügliche Scherzfrage, die sich wieder
des Wortgleichklangs und der Zweideutigkeit bedient, lautet: When
does the Queen reign (rain) over China? — Antwort: When she sits
on her chamber pot. — Eine direkte Einkleidung des Enuretikertraumes
findet sich in einem südslawischen Schwank mit dem Titel: ‚Vor
Schrecken‘). E
„Der Pascha nächtigte beim Begen. Als der Morgen tagte, da
lag noch der Beg und mochte nicht aufstehen. Fragt der Beg den Pascha:
„Was hat dir geträumt?“ — ‚Ich träumte, auf dem Minaret wäre noch
ein Minaret gewesen.‘ — ,„Uf, das wäre,‘ wundert sich der Beg. ‚‚Und
was hast du noch geträumt?“ — „Ich träumte,‘ sagt er, ‚‚auf diesem
Minaret stünde ein Kupferbecken, im Becken aber wäre Wasser.
Der Wind weht, das Kupferbecken wiegt sich. Ja, was hättest du
getan, wenn du dies geträumt hättest?“ — ‚Ich hätte mich vor
Schrecken sowohl bepißt als beschissen.“ ‚Und siehst du, ich habe
mich bloß bepißt.“ — Die beiden übereinander getürmten Minarete
sind als Symbol des männlichen Gliedes, das Becken als Glans sowie
als Harnblase und das Wasser als Urin so deutlich in dem auf grobe
Wirkungen berechneten Schwank ausgedrückt, daß jeder weitere
Kommentar unnötig ist.
Als Abschluß dieser Gruppe sei eine ganz ausgezeichnete Dar-
stellung wiedergegeben, die sich in dem oben angedeuteten Sinne, mit
Hinwegsetzung über das Verständigungsmittel der Sprache, bloß der
bildhaften Symboldarstellung bedient. In dem ungarischen Witzblatt
„Fidibusz“ erschienen vor längerer Zeit eine Reihe genialer Traum-
zeichnungen, die Dr. Ferenezi in Budapest entdeckt und Herrn
Professor Freud v2 Verfügung gestellt hat, der mir in liebenswürdiger
Weise eines der Blätter zur Veröffentlichung überlassen hat, auf welchem
eıne ganze Serie der mitgeteilten symbolise
hen Traumdarstellungen
verwertet ist. Es führt den Titel: pr
*) Mitgeteilt von F. S. Krauß
Nr. 697). Den Hinweis darauf verdanke
in Wien.
(Anthropophyteia, Band V, S. 293,
ich Herrn Prof. Ernst Oppenheim
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 99
Traum der französischen Bonne.
(A francia bonne Alma.)
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100 Otto Rank.
Dr. Ferenczi fügt dem Bild kurz hinzu:
‚‚Schönes Beispiel dafür, daß das Symbol nicht aus der Sprache,
sondern die Redewendungen vom Symbol abstammen. Im Ungarischen
gibt es keinen Ausdruck für Harnlassen, der ans Schiffen erinnert,
doch denkt sich der Zeichner den Urintraum voll mit Schiffen.“
Es könnte fast so anmuten, als hätte der Zeichner nicht nur das
reale Leben unserer Träumerin als Kinderfräulein wiedergeben wollen
und als wüßte er genau, daß gerade dieser Beruf zur Wiederbelebung
der infantilen Lustquellen besonders geneigt ist, sondern als wäre er
auch in ihr psychisches Leben so tief eingedrungen, daß er die gleiche
Symbolik so meisterhaft darzustellen vermag, wenn wir nicht eben
daran wären, ihrem typischen allgemeinmenschlichen Charakter auf
die Spur zu kommen. Die ersten zwei Bilder des Traumes entsprechen
unserem 3. Beispiel, wo die Frau mit dem der Harnentleerung bedüritigen
Kind durch eine nasse Gasse geht und die Träumerin sich wundert,
warum sie denn das Kind nicht auf die Seite lasse. Dem dem Stärker-
werden des Harndranges entsprechend stetigen Anwachsen und Steigen
des Wassers sind wir in mehreren Beispielen begegnet, ebenso dem ent-
sprechend größer werdenden „Schiff“ im Traum 13, wo die Träumerin
aus einem kleineren Boot auf ein Dampfschiff umsteigt und in Nr. 24,
wo das große Schiff ein kleines Boot angehängt hat. Auch den hohen,
geiahrdrohenden Seegang finden wir im 6. Bilde in dem die Segel füllen-
den und Wogen bildenden Wind angedeutet. Die geniale Konzeption
des Zeichners ging aber, wie das letzte Bild zeigt, auf die für den Me-
chanismus der Traumbildung hochbedeutsame Bequemlichkeitsfunktion.
Denn die Borne hört in ihren Schlaf hinein das Geschrei des vom
Harndrang geweckten Kindes und die Bequemlichkeitstendenz täuscht
ihr vor, daß sie das Kind bereits urinieren lasse. Je näher nun die Gefahr
rückt, daß sie durch das entsprechend der Zunahme des Harndranges
immer stärker werdende Gebrüll geweckt werde, desto mehr und mehr
läßt sie das Kind urinieren, damit es doch endlich befriedigt werde
und ihr Schlaf ungestört bleibe. Der Traum besagt also eigentlich —
ji an ds mibmuige Gesch der Bone ut Bl und 4 ande;
schlafen. Es ist nn ashlich E D Ye ee
Ba ä er r. F erenczi treffend bemerkt,
Sprache keinen Kane ef = ng =: N ee ae
IE 28 vi hat, daß also der Zeichner, selbst
Bellen zei 2 Knkerrage ee ä ® ıh m diese Sprachbrücke bekannt
enntnis, aber doch das richtige Ver-
Die Symbolschiehtung im Wecktraum usw. 101
ständnis für seinen witzigen Einfall bei seinen Lesern voraussetzen
konntel). Es erweist sich hier tatsächlich die unbewußte Symbolbildung
als der primäre, ihr sprachlicher Ausdruck als ein sekundär möglicher
aber nicht notwendiger Vorgang. Dürfen wir einen Schritt weit über
das vom Zeichner Beabsichtigte hinausgehen, also gewissermaßen seine
Leistung auch in einem Punkt im Sinne einer Deutung betrachten,
so können wir wohl auf Grund unserer Erfahrung am realen Traum-
leben die ganze Situation auf die Träumerin reduzieren, die, selbst
vom Harndrang im Schlafe gestört, ihn durch Identifizierung mit
dem Kinde in ıhre eigene Kindheit zurückprojiziert, woraus sich ver-
mutlich auch die ungeheure Größe des Wassers (im Vergleich zur kind-
lichen Kleinheit) hier wie in einigen unserer Beispiele erklären mag?).
Auch erkennen wir leicht, daß die auf erotische Wirkung berechnete
weibliche Figur des letzten Bildes der beim Leser durch das Thema
seweckten Sexualempündung Objekt und Abfuhr bietet?).
lüihe wir uns von dem auf allgemeine Wirkung berechneten Witz
dem weiteren in Sage und Mythus wiedergespiegelten Symbolmaterial
zuwenden, sei noch als Übergang an ein paar kleinen unscheinbaren
Beobachtungen auf die auffällige Konstanz und immerwährende spon-
tane Wiederkehr der wenigen primitiven Menschheitssymbole hingewiesen,
die insbesondere die Identifizierung des Regens oder des großen
Wassers mit dem Urinieren betreffen. So wird mir von verläßlicher
Seite die Beobachtung an einem 11/,jährigen, kaum der Sprache
mächtigen Kınd mitgeteilt, welches beim Fenster gehalten den Beginn
eines Regens sieht und dazu bemerkt: Himmi wawa (wawa war die
ihm geläufige Bezeichnung für urinieren). Einer freundlichen Mitteilung
des Herrn Dr. Karl Weiß in Wien verdanke ich die Beobachtung an
einem 21/,jährigen Mäderl, das beim ersten Anblick eines Teiches
verwundert fragt: „Wer hat das große Pischpisch gemacht?“ Kin
!) Dr. Ferenezi teilt mir auf meine Anfrage freundlichst mit, daß die
ungarischen Ausdrücke für urinieren etwa „wässern‘ und ‚„harnen‘‘ bedeuten
und daß das Wort „schiffen‘“ in Ungarn selbst unter den deutsch Sprechenden
wenig geläufig ist.
2) So konnte ich einmal auf der Straße ein kleines Mädchen beobachten,
das sich zur Befriedigung eines kleinen Bedürfnisses direkt in eine große Lache
setzte, als wollte es dieselbe als seine Leistung in Anspruch nehmen.
®) Die anderen Traumzeichnungen würden zeigen, daß der Zeichner —
wie ja bei jedem derartigen auf erotische Wirkungen berechneten Witzblatt selbst-
verständlich — der sexuellen Komponente immer entsprechende Anhaltspunkte
zu bieten sucht.
102 Otto Rank.
12jähriger Junge, der seine starken kopro- und urophilen Neigungen
zum Verdruß seiner Eltern und Erzieher in dem häufigen und auf-
dringlichen Gebrauch der diesem Kreise angehörigen obszönen Worte
verrät!), sagt, als er das Geräusch eines beginnenden Platzregens
hört: „Der Josef geht auf die kleine Seite.“ Josef ist ihr Kutscher, ein
kräftiger, riesenhafter Kerl, der ihm durch seine übermenschlichen
Organe und Leistungen riesig imponiert und dem er darum auch diese
Fülle und Kraft des Harnstrahles am ehesten zutraut, wobei gewiß
auch der Eindruck vom Strahlen der Pierde mitgewirkt haben mag.
Ein andermal findet er es in einem Briefe an einen Kollegen mitteilens-
wert, daß unlängst zu seiner und seiner Jüngeren Brüder größten Er-
heiterung, eben als sie im Begrifie waren zu einem gemeinsamen Urinieren
in den Garten zu gehen, plötzlich ein heftiger Regen einsetzte. Als er
die Sage vom Raub der Proserpina las, worin erzählt wird, daß Dis ın
der Nähe einer sizilianischen Stadt in die Erde gefahren und an dieser
Stelle plötzlich ein See entstanden sei, legt er sich dieses Wunder ganz
rationalistisch aus, indem er bemerkt, er werde halt dabei „gewischerlt“
haben. — Ganz in der gleichen Weise erklärt eine von F. Boas (In-
dianische Sagen, 8. 174) mitgeteilte Sage der Tlatlasikoalaindianer
die Entstehung der Seen und Flüsse durch das Wasserabschlagen
eines Menschen. In einer andern Sage ($. 238) entsteht beim Harnen
einer Frau ein großer Fluß, und ähnlich bewirkt in der „Edda“ (über-
setzt von Gering, 8. 362) Geiröds Tochter Gjalp das Anschwellen
des Flusses Wimur.
Auf Grund dieser symbolischen Verknüpfung lassen sich aber
1) Derselbe Junge fragt mich einmal mit überlegener Miene, ob ich wisse,
warum das Klosett mit 00 bezeichnet werde, und sagt mir, als ich auf seine Aus-
kunft neugierig gemacht es verneine, er habe jüngst in Münchhausens Seeabenteuern
gelesen, wie der Held nach seinem eigenen Bericht den Untergang des leck ge-
wordenen Schiffes dadurch verhindert habe, daß er sich mit seinem Allerwertesten
00 auf das Loch setzte und so das Eindringen des Wassers verhinderte. — "Die
beiden Nullen faßt der Junge als Symbol der Nates auf und will darin ach die
Signatur des Wortes Popo (nach Weglassung der beiden P) erkennen, wie er
überhaupt eine besondere Neigung besitzt, dieses Wort oder Bestandteile des-
selben aus allen möglichen anderen Buchstaben- und Wortfolgen mit verblüffender
ee herauszusehen. 02 Man vergleiche dazu unsere euphemistische
Ernie Betz dich auf deine vier Buchstaben (Popo). — Hierher gehört auch
= ng in einem Bande der „Anthropophyteia‘ abgedruckte Geschichte von
m Manne, der von einem entblößten Hintern träumt, aber eine falsche Nummer
in die Lotterie setzt, weil er die Nulle in d ’
e er Mitte ni ;
hatte (er setzt 77 statt 707). Itte nicht entsprechend eingesetzt
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 103
auch gewisse pathologisch erscheinende Sonderbarkeiten perverser
und geisteskranker Individuen verstehen. So findet sich bei Krafit-
Ebing (Psychopath. sex., 9. Aufl., 8. 80) der Fall (30) eines Studenten
der Medizin, der vor Mädchen sein Glied entblößte, die Flüchtenden
dann verfolgte, an sich drückte und mit Urin besprengte, was für ihn
offenbar im infantilen Sinne lustbetont und ein Ersatz des sexuellen
Aktes war. Derselbe Patient klagte über ‚„perverse Antriebe“, z.B.
sein Geld ins Wasser zu werfen, im strömenden Regen umher-
zulaufen. Sein Bruder litt an epileptischen Krämpfen. (Über die gleiche
Symbolik bei Epilepsie!) und Dementia praecox vgl. später.) Ein anderer
Patient Krafft-Ebings mit ähnlichen Urinperversionen hat einen
unwiderstehlichen Drang zur Marine. Auf diese Zusammenhänge mit
der Berufswahl haben Adler (l. ec.) und Sadger (Über Urethralerotik,
Jahrb. II) ausführlich hingewiesen.
Dem Mythus, der Sage, dem Volksglauben und der Sprache ist
die Analogisierung von Regen und Harn völlig vertraut. So bemerkt
Ehrenreich (Die allg. Mythologie, Leipzig 1910, 8. 140) bezüglich
des Regens, daß er „auffallend häufig als Exkret (Harn, Schweiß,
Speichel) eines himmlischen Wesens gefaßt‘‘ werde. So sehen bei-
spielsweise die Antillenbewohner im Regen den Harn und Schweiß
ihres Zemes (Ahnengottheiten), wie gleichfalls Ehrenreich (Die
!) Siehe auch Evang. Marei 9, 17 ff. „Einer aber aus dem Volke sprach:
Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen
Geist. Und wo er ihn erwischt, so reißt er ihn und schäumt und knirscht mit
den Zähnen und verdorret. Ich habe mit deinen: Jüngern geredet, daß sie ihn
austrieben und sie können es nicht. Er antwortete ihm aber und sprach: 0, .
du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich
mich mit euch leiden? Bringet ihn her zu mir. Und sie brachten ihn her zu
ihm. Und alsobald, da ihn der Geist sah, riß er ihn und fiel auf die Erde, und
wälzte sich und schäumte. Und er fragte seinen Vater: Wie lange ist es,
daß ihm dieses widerfahren ist? Er sprach: Von Kind auf; und oft
hat er ihn ins Feuer und Wasser geworfen, daß er ihn umbrächte [,,er fällt
oft ins Feuer und oft ins Wasser“. Evang. Matth. 17, 15]. Kannst du aber was,
so erbarme dich unser und hilf uns. Jesus aber sprach zu ihm: Wenn du
könntest glauben. Alle Dinge sind möglich, dem, der da glaubet. Und alsobald
schrie des Kindes Vater mit Tränen und sprach: Ich glaube, lieber Herr, hilf
meinem Unglauben. Da nun Jesus sah, daß das Volk zulief, bedrohete er den
unsaubern Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich ge-
biete dir, daß du von ihm ausfahrest, und fahrest hinfort nicht in ihn. Da
schrie er, und riß ihn sehr, und fuhr aus. Und er ward, als wäre er tot, daß
auch viele sagten: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand, und richtete
ihn auf, und er stand auf.‘
104 Otto Rank.
Mythen und Legenden der südamerikanischen Urvölker, 1905, 8. 15)
hemerkt. Daraus erklärt sich auch die häufige Anschauung, daß die himm-
lischen Lichtkörper urinieren (siehe Schwartz: Sonne, Mond und Sterne,
S.30fg.). Beweisend für die völkerpsychologische Grundlage der in unseren
Träumen verwerteten Symbolisierung des Urinierens durch Regnen
ist ein Hinweis Goldzihers (Der Mythos bei den Hebräern, $. 89)
auf die etymologische Abkunft des arabischen Gewitter- und Regen-
gottes, dessen Name, Kuzah, von der Bedeutung urinieren abge-
leitet ist, welches (speziell in bezug auf Tiere) dem entsprechenden
Verbum eigen ist. „Das Regnen ist hier im Mythos als ein Urinieren
aufgefaßt, was Kennern der mythologischen Phraseologie nicht fremd-
artig klingen wird. Dieser Umstand regt dazu an, das hebräische Wort
bül = Regen, dann Regenmond, in Verbindung zu bringen mit arabisch
bäla, jabülu, was urinieren kedeutet.”
Auf Grund dieser Symbolik läßt sich vielleicht auch das über die
sanze Erde verbreitete mythische Motiv der „magischen Flucht“
verstehen, das ist die Verfolgung durch einen Feind, die durch über-
natürliche Hindernisse verzögert zur schließlichen Errettung des angstvoll
Flüchtenden führt. Seit Laistner (Das Rätsel der Sphinx, Berlin
1889) die Auffassung geltend gemacht hat, daß eine Reihe mythologischer
Motive sich als Darstellungen unverstandener Alptraumerlebnisse
verstehen ließen, ist die Ableitung dieser ängstlichen Verfolgungen
aus dem Traumleben fast allgemein anerkanntt). So heißt es bei Wundt
(Völkerpsychologie, II. Band, Teil 2, 8. 109fg.): ‚Bei allen diesen
sei es selbständig entstandenen, sei es zugewanderten Motiven der
Bedrohung durch verfolgende Feinde und Ungeheuer und der wunder-
baren Rettung spielt übrigens der Angsttraum und seine Lösung,
dessen Bedeutung auch für die Vorstellung von Ungeheuern bereits
früher betont wurde, wiederum eine unverkennbare Rolle.“ Auf Grund
unserer Kenntnis der allgemein-menschlichen Symbolik sind wir viel-
leicht imstande, wenigstens ein Detail dieser „magischen Flucht“ zu
ea und damit dem zugrunde liegenden Angsttraum einen spe-
al Ja Fununkemen, Die magiche Acht wir. gerablih
die ganze Erde a an © die AD een
nten hat Ed. Stucken in seinen
1) Ehrenreich (l. e.,, S. 149): ‚‚Bei den N j
ans m ordamerikanern bilden di
fraummythen den integrierendsten Bestandteil der Mythologie Bei ve
Pima und Yuma bilden die Träume nach ihrer eigen ES?
Quelle der Mythologie.“ | en Angabe sogar die einzige
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 105
„Astralmythen“ $.606 zusammengestellt; vgl. dazu auch die bei-
gegebene Tafel 3): durch einen Wetzstein oder Messer, das sich
beim Zurückwerfen in einen steilen Berg verwandelt, den der Verfolger
erst übersteigen muß, mittels eines Kammes, aus dem ein undurch-
dringlicher Wald wird, und vermöge eines Tropfens Fischöl, das zu
einem ungeheuern See anwächst, der die weitere Verfolgung un-
möglich macht und so die Rettung bewirkt. Nun kennen wir den kleinen
Tropfen, der sich rasch in ein großes Wasser verwandelt, aus der Harn-
drangsymbolik und dürfen also diese bereits als Angsttraum aner-
kannte mythische Motivgestaltung als ängstlichen Wecktraum an-
sehen, der die Beschmutzung des Schlafenden glücklich verhütet.
Daß dieser Traum gern (wie z. B. bei Boas, S. 267 u. fg.) einem
weiblichen Wesen zugeschrieben wird, steht nicht nur in völliger Über-
einstimmung mit der bereits von Scherner gemachten Beobachtung, .
daß Frauen eher zu derartigen Träumen neigen, sondern weist uns
auch, wenn wir die Vorgeschichte dieser Flucht in Betracht ziehen,
aui das dem ganzen Traum zugrunde liegende erotische Motiv, dessen
Verfolgung uns jedoch zu weit von unserem Thema abbrächte. Unsere
Auffassung von dem mit unheimlicher Schnelle anwachsenden Tropien
Fischöls als Urinsymbol (auch in einem Fall Krafft-Ebings ver-
tritt das Öl den Urin) wird aufs Schlagendste bestätigt durch die bereits
erwähnte Version bei Boas, wo die Flucht des Mädchens dem Manne
durch den — Nachttopf angezeigt wird, was sonst absolut keinen
Sinn haben könnte. Durch diesen überraschenden Beweis ermutigt,
dürfen wir mit Rücksicht auf die dem Mythus zugrunde liegende sexuelle
Verfolgung des Mädchens durch den brünstigen Mann auch die anderen
„zauberkräftigen“ Elemente der magischen Flucht in sexualsymbolischem
Sinne auffassen. Der Wetzstein und das Messer sind typische Penis-
symbole, deren wunderbares und rasches Anwachsen uns aus zahl-
reichen einwandfreien Analysen als Bilder der Erektion geläufig sind!)
und der „Wald“ kann in diesem Zusammenhange nichts anderes als
die Schamhaare symbolisieren. Ehe man diese Deutung als willkürlich
und gesucht zurückweist, beachte man noch, daß wieder auf Grund
dieser Auffassung, und nur auf Grund derselben, ein sonst unverstandenes
Detail einen guten Sinn bekommt. Wie früher der Nachttopf als Rudi-
ment der ursprünglichen Bedeutung isoliert in der Sage steht, so erklärt
sich auch aus unserer Deutung, warum beı der zweiten Wunderhandluns
!) Bei Beziehung der mythologischen Traumerzählung auf einen Mann wäre
man versucht, an die durch Harndrang hervorgerufenen Morgenerektionen zudenken.
106 Otto Rank.
gerade ein Kamm zum Wald werden muß, wenn man diesen als sym-
bolische Darstellung des Haarwaldes auffaßt. Diese Bedeutung des
„Waldes“ können wir aber nicht nur aus Traumanalysen (vgl. Freud:
Bruchstück einer Hysterieanalyse, Kl. Schr. H, $.88)!), sondern
auch direkt aus verwandten mythologischen und dichterischen Bildern
(der „‚Liebesgarten‘“ und alle ihm entsprechenden Bilder) als allgemein-
menschliche bestätigen. Es sei nur eine finnische Überlieferung (Stucken
S. 335) erwähnt, wo Wipuns Behaarung grotesk-gigantisch als Be-
waldung beschrieben wird, wie auch sonst in den Kosmologien, welche
die Welt aus einem Menschen entstehen lassen, die Behaarung desselben
zur Bewaldung wird. Auch in Ovids Darstellung von der Verwand-
lung des Atlas in ein Gebirge entsteht aus den Haaren der Wald
(Metam. 4, 657). Dem Motiv der „magischen Flucht“ liegt also ein
sexueller Angsttraum zugrunde (sexuelle Verfolgung), der regressiv zum
vesikalen Wecktraum wird, ganz wie in den angeführten wirklichen
Träumen, wobei die fortwährende Verzögerung der Verfolgung und
damit des Erwachens der Bequemlichkeitstendenz entspricht. Unter-
stützend mag in diesen Fällen gewiß die physiclogische Tatsache mit-
wirken, daß ängstliche Empfindungen leicht zu Harn- und Stuhldrang
führen, obwohl es für den Traum noch zweifelhaft ist, ob in ihm die (sexuell
bedingte) Angst den Harndrang weckt oder der Harndrang die ängstliche
Empfindung (das Bett zu benässen) im Verlauf seines Anwachsens steigert.
In diesem Sinne hat Laistner (II, 232 u. fg.) eine Reihe von
Überlieferungen aufgefaßt, indem er ausführt: ‚‚Schweiß ist nicht das
einzige Naß, wodurch sich ein Angstzustand verrät oder das dem Alp-
traum gemäß wäre (vgl. I, 45); es ist der vom Alp geplagten Menschheit
nicht zu verdenken, wenn sie aus Rache die eigenen Schwächen ihm
aufbürdete und keine Verantwortung für die Spuren seines Besuches
übernahm. Sie erfand sogar einen Zauber, ihn an seiner angeblichen
Schwäche zu fassen (Wolf: Niederl. Sag., S. 346, Nr. 254; Lütolf,
2 ns ... Offenbar sitzt in krankhaft veränderten Ausscheidungen
pair Se Em ee ein Stück von ihm; das nämliche Mittel,
deshalb in ROHR in a ge San N
ee urg angewandt, um Kindern die Unreinlichkeit
‘) Dazu auch Riklin, Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen, $. 37:
„der Wald auf dem sogenannten Venusberg beim Weibe. “ Vgl d d i, B fe
bei der „magischen Flucht“. Einige Überlieferungen, ee
Instrument dem Vater die Flucht der von ihm se
zeigt, hat Riklin (l. c. S. 80£.) mitgeteilt.
in denen ein zauberkräftiges
xuell verfolgten Tochter an-
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 107
abzugewöhnen (Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube, $ 540).” So
erklärt sich die Vorstellung, daß „der Alp netzt (vgl. I, 49): wo der
Scherber steht, wird es naß am Boden; die Gongers auf Sılt hinterlassen
einen Floß salzigen Wassers in der Stube; der griechische Kalikantsaros
pißt in die Herdasche und in alle offenen Gefäße und wäscht sich mit
dem darin vorgefundenen Wasser den Körper. Wenn nun der Wilde Jäger
sich gleichfalls wäscht und die Wilde Jägerin zu eben diesem Zweck ihr
eigenes Wasser nimmt (Jahn, 8.17, Nr. 19; Bartsch 1, 7. 19, Nr. 8.
23, 2; Kristensen, Jyske Folkemnider 4, 146, Nr. 210), so scheint
dieser Zug, dem wir hier nicht weiter nachgehen können, mit dem von
den netzenden Hunden in Zusammenhang zu stehen, und wiewohl die
Auffassung, es habe eine naturmythische Zubildung zur Lursage vom
Wilden Jäger stattgefunden, durchaus zulässig wäre, müssen wir uns
doch bedenken, sie einzuräumen. Völlig zu der unreinlichen Gewohnheit
des Kalıkantsaros stimmt das Betragen der Hunde in vogtländischen
Sagen; es hat sich einer vor der wilden Jagd in einen Graben versteckt,
aber jeder der vorbeirasenden Hunde hält bei ihm an und hebt das
Bein auf, so daß seine Kleider noch lange ganz unbrauchbar waren
(Eisel $. 121, Nr. 313). Und ganz Übereinstimmendes wird aus Pommern
gemeldet (Hofer in Pfeiffers Germ. 1, 103). Auch an eine schwäbische
Sage ließe sich denken. Bei Ellwangen geht der Geist eines Jägers
um; ein junger Bursche rief ıhn einst bei seinem Spottnamen Hosen-
flecker und forderte zu trinken, er sei durstig, da erschien der Jäger
im höchsten Zorn mit einem Fäßlein, aus dessen Spundloch ein feuriges
Naß sich ergoß, und warf dann den Jungen mit solcher Wucht in den
Graben, daß er in der Frühe übel zugerichtet nach Hause wankte
(Birlinger 1, 13, Nr. 11).... Wenn Pferde krank und schweißtriefend
im Stalle gefunden werden, so heißt es, der Alp habe sie geritten: aus
der Erschöpfung, in welcher der Mensch vom Alptraum zu erwachen pilegt,
wird aufein Alperlebnis des erschöpiten Tieres geschlossen; die Sage weiß
dann vom Schaum des Schimmels, den der wilde Jäger reitet, zu be-
richten, er habe sich in Gold verwandelt (Jahn $. 12, Nr. 12)... .“
Haben wir so die für den Harndrang- und den ihm parallel ge-
schichteten Geburtstraum charakteristische Symbolbildung als all-
gemeinmenschliche erkannt, so dürfen wir sie endlich auch in einem be-
deutsamen und weitverbreiteten völkerpsychologischen Gebilde wieder-
erkennen, dassich uns im Verlaufe unserer Untersuchung wiederholt auf-
drängen mußte. Der herabströmende Regen, das stete Anschwellen
des Wassers, die damit verbundene Gefahr, die Rettung in einem der Größe
108 Otto Rank.
des Wassers entsprechenden Schiff: all das drängt zur Auffassung,
daß auch die Flutsagen mit einer tiefreichenden Schichte ihrer Be-
deutung in diesen psychischen Zusammenhang einzureihen sind. Es
icann sich hier nicht um eine eingehende Untersuchung all dieser
durch Zeit und Raum so weit getrennten Überlieferungen bei Kultur-
und Naturvölkern handeln, welche dem Gestaltungs- und Bedeutungs-
wandel dieses zum Teil hochkomplizierten Mythus im einzelnen nachgeht.
Wir kennen heute bereits gegen 200 verschiedene Flutsagen, die rein
stofflich schon eine eigene Bearbeitung erfordern würden. Wir wollen
uns hier damit begnügen, das ungeheuere Material auf Grund der er-
kannten Symbolik schematisch zu sondern und von den ziemlich gut
voneinander zu lösenden Schichtungen zwei dem Unbewußten an-
gehörige und darum bis jetzt nicht beachtete besonders hervorzuheben.
Wir betonen aber dabei nachdrücklich, daß wir die anderen Bedeutungen
keineswegs zu leugnen oder in ihrer Geltung zu beeinträchtigen suchen,
‚sondern sie für diesmal nur als längst und allgemein bekannt beiseite
lassen. Dazu gehört z. B. die späte ethisch-religiöse Tendenz, die dem
ursprünglichen Mythus — wie manche Parallelen bei den Natur-
völkern zeigen — völlig abgeht und die sich charakteristisch bis in
die Rationalisierung des Namens erstreckt, die aus der Sintflut, d. h.
der großen Flut (sint = groß, ungeheuer) eine „Sündflut‘“ als Strafe
Gottes gemacht hat. Auch wollen wir die Berechtigung der ethno-
graphischen Deutung, welche die Sage als Erinnerung an ein verheerendes
Naturereignis auffaßt, hier nicht näher prüfen, obwohl dieser Stand-
punkt, den für die babylonisch-biblische Sage noch Eduard Sueß (Das
Antlitz der Erde, Bd. 1, 8. 25 ff.) vertreten hat, von den Mythologen
bereits aufgegeben ist, welche diese Überlieferungen als echtes mythisches
Gut betrachten. 80 hält auch Wundt (l. ec. S. 457 ) es für „wenig wahr-
scheinlich, daß bei irgend einer dieser Sagen die geschichtliche Erinnerung
an ein einzelnes Naturereignis im Spiel gewesen sei, wie dies vielfach an-
genommen worden ist“, Wir stehen somit auf mythischem Boden,
m dessen Bereich das symbolische Denken Geltung besitzt. Wenn wir
he die Sagen Gh der großen, verheerenden Flut, aus der
Z Er ee - der Träumer) durch Rettung
den Harndrangträumen en h an ee.
x Erg ymbolik besser zu verstehen
slauben, so bestärkt uns in diesem anscheinend recht küh
ER nen Unter-
nehmen ein höchst beachtenswerter Umstand. Das gewaltige Material
der Flutsagen ist ein ziemlich disparates und VER Ih, a
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 109
ganz einfachen schmuck- und tendenzlosen Berichten, wie sie sich
besonders bei Naturvölkern finden, kennen wir hochkomplizierte
Bildungen, wie beispielsweise den biblischen Bericht, die in eine ganze
Schöpfungsgeschichte eingekleidet sind. Dazu kommen noch eine
Reihe von anderen Überlieferungen, die nicht unter dem Namen der
Flutsagen gehen, aber von den Mythologen mit Recht der gleichen
Gruppe zugerechnet werden, weil sie die gleichen Elemente wie die
Flutsagen, wenn auch in anderer Einkleidung, enthalten. Solche Über-
lieferungen sind insbesondere: der Aussetzungsmythus (Wundt:
Truhenmärchen) und die Verschlingungssagen. Nun stimmt es
auffällig mit unseren Wecktraumanalysen überein, daß diese beiden
den Flutsagen analogen Mythengruppen sich als symbolische Darstellun-
stellungen des Geburtsvorganges erweisen. Für die Verschlingungs-
mythen wäre dieser Nachweis an Hand des reichhaltigen von Frobenius
(Das Zeitalter des Sonnengottes, Berlin 1904, Bd. 1) gesammelten
Materials leicht im Detail zu erbringen. Doch mag hier eine schematische
Inhaltsangabe und Deutung dieser meist als Walüschsagen einge-
kleideten Überlieferungen hinreichen. Der Held wird entweder als
Knabe oder Erwachsener (manchmal auch mit seiner Mutter, seinen
Brüdern usw.) von einem ungeheuern Fisch verschlungen, ganz wie
in der biblischen Jonasage, und schwimmt eine Zeitlang im Fischbauch
aut dem Meere. Zur Stillung des Hungers beginnt er häufig das Herz
des Fisches abzuschneiden, entzündet ein Feuer in seinem Innern und
wird endlich von dem Ungetüm ans Land gespien oder gelangt durch
Anischlitzen des Bauches ins Freie. Frobenius hat diese zahlreichen
und mannigfach varüerten Überlieferungen, besonders mit Rücksicht
darauf, daß dern Helden meist infolge der großen Hitze im Innern des
Tieres das Haar (Strahlen) ausfällt, als Sonnenuntergangs- respektive
Aufgangssymbole betrachtet. Diesen himmlischen Ursprung des Mythos
hat jedoch bereits Wundt (l. ce, 244) abgewiesen, indem .er den
menschlichen Inhalt der Vorstellungen betonte (8. 262) und ihre Be-
ziehungen zum Truhenmärchen und zur Flutsage hervorhob. Auf
Grund unserer Kenntnis der Traumsymbolik und der infantilen Sexual-
theorien!) kann uns die Bedeutung dieses Verschlingungsmythos als
1) Dazu gehören: Die Befruchtung durch Verschlucken, das Gebären durch
Aufschneiden des Bauches (Rotkäppchen), durch Ausspeien (Kronos) und auf dem
Wege eines Exkrementes (vgl. Frobenius, S. 90, 92, 125). Ich verweise auf meine:
„Völkerpsychologische Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien“ (Zentralblatt
für Psychoanalyse, II. Jahrgang, 1912, Heft 7/8.).
110 Otto Rank.
infantile Auffassung der Schwangerschaft (Aufenthalt im Mutterleib)
und des Geburtsvorganges kaum zweifelhaft sein; manche der Über-
lieferungen symbolisieren den Geburtsvorgang mit aller detaillierten
Deutlichkeit (vgl. Beispiel F. 8. 66 bis 68 u. v. a. bei Frobenius)
und meist spielt in der Geschichte überdies auch eine Schwangere eine
Rolle. Der Aufenhalt im „Bauch“ und die Ernährung im Mutterleib
kann wohl nicht deutlicher geschildert werden und nur die Verblendung
allem gegenüber, was mit der Sexualität in Verbindung steht, konnte
diese Bedeutung des Mythus bis jetzt übersehen. Der ursprünglich
feindliche und dann zum ‚‚Retter‘‘ gewordene Fisch ist in der Flutsage
zum bergenden Schiff (das lautlich merkwürdigerweise der Umkehrung
von Fisch entspricht) und im Aussetzungsmythus zum schützenden
Kasten oder Körbchen geworden, symbolisiert aber überall in gleicher
Weise den bergenden Mutterschoß (vgl. dazu auch die interessanten
Geburtsphantasien einer Dementia-praecox Kranken, die 8. Spiel-
rein im diesem Jahrb. III, S. 367 fg. analysiert hat; z. B. „‚Schiffs-
gefahr“ = Abortus usw.). In der indischen Flutsage ist es beispiels-
weise ein Wunderfisch der die Arche Manus dem rettenden Berge
zuführt (Wundt 8. 176). Für den Aussetzungsmythus habe ich
den Nachweis der Geburtsbedeutung im Detail zu erbringen gesucht
in meiner Arbeit über den „Mythus von der Geburt des Helden“
(Deuticke 1909), wo ich bereits andeutete (S. 71 Anmerk.), daß die Flut-
sagen nichts anderes zu sein scheinen als der universelle Ausdruck des
Aussetzungsmythus!), der die feindliche Aussetzung (Geburt). des
Helden meist durch den Vater im Kästchen ins Wasser und seine
wunderbare Rettung durch hilfreiche Tiere (vgl. den rettenden Fisch)
oder gutherzige Menschen zum Inhalt hat. In der Sintflutsage ist die
ganze Menschheit in einem Vertreter zum Helden geworden, der zür-
er Vater erscheint als der himmlische und auch hier erfolgt die
ettung (i. e. Wiedererzeugung) des Menschengeschlechtes aus der
großen Gefahr. Ja, die biblische Aussetzungssage von Moses bietet
insofern das direkte Gegenstück zur biblischen Flutsage von Noah
als der verpichte Kasten, in dem Noah auf dem Wasser schwimmt
!) Die Flutsagen werden auch aus rein m
eg und a sthen in Parallele gesetzt, z. B von Wundt
robenius u. v.a., weil die Übereinstimmung ; RR
; } 8 ın den einzel
namentlich den symbolischen Details, zu auffällig ist. are en een
sammengehörigkeit hier von der ps chologi - .
er PSyChologischen Seite zu erweisen und zugleich
ythologischen Gründen mit den
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 111
im Alten Testament mit demselben Worte (tebah) bezeichnet ist wie
das Gefäß, in dem der kleine Moses ausgesetzt wird (Jeremias: Das
Alte Testament im Lichte des alten Orients, 2. Aufl. Leipzig 1906, S. 250).
Flutsage und Aussetzungsmythus bedienen sich also ebenso der gleichen
Symbolik wie der vesikale Harnreiz und der sexuelle Geburtstraum
und die zwei Formen oder Bedeutungsschichten der Flutsagen ent-
sprechen vollauf bis ins Detail der in unseren Traumbeispielen auf-
gedeckten Übereinanderlagerung von vesikaler und sexueller Sym-
bolik. Zum Unterschied von dem vorwiegend sexualsymbolisch ein-
gekleideten Verschlingungs- und Aussetzungsmythus, der die Geburts-
geschichte und den Familienroman betont, ist in der Flutsage der
Hauptakzent auf die große stets anwachsende und gefahrdrohende
Wassermenge gelegt, was wir eben mit dem vorwiegend vesikalen
Anteil bei dieser Sagengruppe in Zusammenhang bringen. Unter den
Flutsagen selbst gibt es dann, wie bereits erwähnt, wieder solche, die
fast nur den vesikalen Traum widerspiegeln (die einfachen und schmuck-
Iosen mancher Naturvölker), andere, die über diese primitive (infantile)
Schichte die spätere sexuelle gelagert zeigen (wie der biblische Bericht),
der ja eine vollständige Wiedergeburt des Menschengeschlechtes
enthält. Die ethisch-religiöse Tendenz wird uns in diesem Bericht als
dritte oberste Schichte verständlich, die der sexuellen Schichtung
widerspricht und als Niederschlag ihrer Verdrängung anzusehen ist,
indem ja die Strafe der Sintflut wegen der sexuellen Ausschweifungen
und der damit verbundenen Vermehrung (Geburten) der Menschen
verhängt wird!), ähnlich wie in der biblischen Sintbrandsage?), der
Zerstörung Sodoms und Gomorrhas. Hier zweigt dann der Weg in eine
andere psychische Schichte ab, die einen Hauptanteil der Triebkraft für
die Mythenbildung liefert. Dieser anstößige und sträfliche Sexualverkehr
erweist sich bei eingehender Untersuchung nicht nur, wie das Alte Testa-
ment deutlich zeigt, fast immer als ein inzestuöser (oder als sonst speziell
verbotener und anstößiger; Lotsage), sondern auch dem Aussetzungs-
mythus liegt ja der gleiche zum Familienroman ausgebildete Komplex
1) Genesis, Kapitel 6: „Da sich aber die Menschen beginneten zu mehren
auf Erden, und zeugten ihnen Töchter; da sahen die Kinder Gottes nach den
Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern, welche
sie wollten.‘
2) Auch bei der Sintflut wird das verderbliche Naß warm gedacht. Die
Sanhedrinstelle spricht von „‚heidem Wasser‘‘, wie die Sintflut im Koran. —
Der Prophet des babylonischen Exils nennt die Sintflut m& Nö’äch, das Wasser
Noahs,
112 Otto Rank.
zugrunde. Und so werden wir uns nicht wundern, wenn die Sintflut-
sage, wie im biblischen Bericht, auf die völlige Vernichtung des „sünd-
haften“ Menschengeschlechts ausgeht und dann der oder die einzig
übriggebliebenen Menschen das neue (reschlecht notwendigerweise
durch Inzestverbindungen wieder erschaffen müssen, wie noch deutlich
in der Sintbrandsage von Lot und seinen Töchtern; andere Male er-
scheint diese Wiederkehr des verdrängten (bestraften) Inzests verdeckt
oder symbolisch eingekleidet (vgl. dazu die erwähnten ‚,Völkerpsycho-
logischen Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien‘‘). Diese Wiederkehr
des Inzests löst sich dann bei weiterer Analyse in eine einfache Recht-
fertigung der Inzestphantasien durch Schaffung einer Situation, in der
ihre Durchsetzung nicht nur erlaubt, sondern im Interesse der Erhaltung
des Menschengeschlechtes geradezu gefordert wird. Diese ganze psycho-
sexuelle Phantasiebildung von infantilen Zeugungstheorien (Inzest)
und Geburtsauffassungen ist aber im Wecktraum wie in den ihm ent-
sprechenden Mythbenbildungen unterfüttert von der frühinfantilen
und regressiv wiederbelebten Harnerotik, mit deren Verdrängung
die psychische Schichtung einsetzt. Das ist aber individuell und ent-
wicklungsgeschichtlich gegeben durch die Einschränkung der natürlichen
Verrichtungen auf gewisse Zeiten und unter Schamempfindung (vgl. noch
unser „auf die Seite gehen‘). Daher entsteht auch die große, verderbliche
Flut, aus der dann das neue Menschengeschlecht hervorgeht, aus
einem ungeheueren Regen, den wir als typisches Urinsymbol bereits
kennen, und der in anderen Überlieferungen mit sexueller Symboi-
bedeutung als das die Mutter Erde befruchtende Naß, als Sperma,
erscheint (vgl. Völkerpsycholog. Parallelen zu den inf. Sex. Theorien).
Diese Zurückführung der Flutsagen in einer ihrer tiefsten Schichtungen
auf den vesikalen Traum ist jedoch nicht, wie böswillige Kritiker
vielleicht Bren möchten, eine mutwillige Erfindung der Psychoanalytiker,
sondern drängt sich bei vorurteilsfreier Prüfung des Materials auch
anderen Forschern auf. Und wenn auch erst psychoanalytische Er-
gebnisse und Methodik die breite allgemeinmenschliche Fundierung
a a that Venen, finden ich doch Andentung
S. 264 Anmerkg.) auf Grund ct % Kr a, Be
Ve er : Überlieferung die Flut-
init Hinweis auf vereinzelte rn ne ar a
2 regnen ungen von einem Ursprung der
‘) Das Geschlechtliche in gnostischer Lehr und
er | e d hi * ..
Religionspsychologie, Band V (1911), Heft 3, 8. 85, eu. Bi
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 113
Sintflut aus dem eunnus. Einer Verknüpfung, die sich mit typischer
Wiederkehr in unseren nächtlichen Träumen, in Glaube, Sprachgebrauch.
und Witz, in Sagen- und Mythenbildung der Kultur- und Natutvölker
sowie in den seltsam ähnlichen Produktionen der Gemüts- und Geistes-
kranken in gleicher Weise findet, muß wohl ein sehr allgemeiner und
allermenschlichster Inhalt zugrunde liegen. In wie disparaten psy-
chischen Gebilden sich diese gleiche Beziehung immer wieder verrät,
sei schließlich noch an der Gegenüberstellung dreier grundverschiedener
Gestaltungen des gleichen Komplexzusammenhanges gezeigt. In seiner
Studie über ‚die Sexualität der Epileptiker“ (Jahrb. I) hat Maeder
unter anderem den sehr interessanten Fall eines mit Koprophagie und
Urolagnie behafteten Patienten mitgeteilt, der eine Reihe der typischen
„infantilen Sexualtheorien‘ aufweist. So glaubt Patient, daß im Urin
der Samen enthalten ist. (Zahlreiche Patientinnen sagen, sie dürfen
weder Urin noch Milch trinken, sonst werden sie schwanger.) Der
Urin ist für ihn der Anteil des Mannes an der Schöpfung eines neuen
Lebewesens. Der „„Brunzel“ werde bei der Annäherung mit der Frau
eingeführt, das „„Brunzeln“ selbst sei der wichtigste Akt. Am nächsten
Tage ist der Boden der Zelle ganz naß: „ich habe mich hingelegt
und laufen lassen; das verbreitet das Leben, eine Zeugung hat
stattgefunden“. In diesem Stadium erlebt er regelmäßig die Sint-
flut, die er selbst, als Gott, durch Urinieren macht. Er betont
gern: Dündflut, er hat gesündigt. Eine Jugendfreundin tritt regelmäßig
als Eva auf. Die Epilepsie sei auch eine Buße für die Sünde“ (8. 146).
Wir sehen hier nicht nur, daß der Geisteskranke den vesikalen Traum,
den wır träumen, in Handlung umsetzt, ihn zu realisieren sucht, weil
er für ihn lustvoll ist, sondern wie er ihn, ganz wie in unserer zweiten
Traumschichte, sexualisiert. Aber nicht nur die Zeugung symbolisiert
ihm der Akt, sondern direkt, in völliger Analogie zu der Traumsymbolik,
auch den Geburtsvorgang. ‚‚Einmal trifft man ihn nackt auf dem Boden
der Zelle, in seinem Urin badend, ‚es habe eine Entbindung
stattgefunden“ (8.145). Diesem pathologischen Ausdruck der
Symbolbedeutung und dem von ethischer Tendenz durchdrungenen
biblischen Bericht stellen wir eine naive Sage der amerikanischen
Naturvölker und schließlich ein Detail aus einer hochwertigen mythischen
Erzählung der Antike gegenüber. Es klingt fast wie eine ironisierende
Umkehrung der biblischen Flutsage, wo die Arche ‚am siebenzehnten
Tage des siebenten Monats sich auf dem Gebirge Ararat niederläßt,
wenn in einer Mythe aus Heiltsuk (Frobenius I, 299) Mann und Frau
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. IV, 8
114 Otto Rank.
auf dem Gipfel eines Berges ein Boot bauen. ‚‚Der junge Mann wundert
sich, wie dies wohl zum Meere hinabkommen würde. Die Frau beruhigt
ihn aber. Sie laden Nahrungsmittel in das Boot. Dann setzen sie sich
hinein — oben auf dem Berggipfel. Dann fing aber die Frau an zu harnen
rem Harn entstand ein großer Fluß. Auf dem Fluß begaben
und aus ıh
sie sich fort.‘
Endlich besitzen wir noch eine für unsere Beweisführung sehr
wertvolle Überlieferung der Antike, welche die aufgedeckten Beziehungen
wie in einem Brennpunkt zusammenfaßt. In der bekannten Herodo-
tischen Version der Kyrossage (I, 107 u. ff.) wird ein Traum des später
von Kyros seiner Königswürde beraubten Astyages berichtet, welcher
seine Tochter Mandane betrifft. „Einst sah er sie ım Traum,
wie so viel Wasser von ihr ging, daß seine ganze Stadt davon
erfüllt und ganz Asien überschwemmt wurde.“ In der weniger
bekannten Ktesianischen Version der Sage wird dieser Traum psycho-
logisch getreuer der mit dem zukünftigen Kyros bereits schwangeren
Mandane selbst zugeschrieben!), die vielleicht in noch deutlicherer
vesikaler Symbolik träumt, ‚‚es sei so viel Wasser von ihr gegangen,
1) Daß der Traum bei Herodot dem Vater zugeschrieben wird, erscheint uns
keineswegs als willkürliche Variante, denn in dem der Sage zugrunde liegenden
Familienroman ist es regelmäßig der leibliche Vater des noch ungeborenen Knaben,
dem ein verhüllter Traum Gefahr und Verderben vom Sohne prophezeit. Aus
dem ganzen mythischen Material und dem psychologischen Zusammenhang ist
dieser dem Astyages zugeschriebene Traum als symbolisch eingekleideter Inzest
mit der Tochter aufzufassen, die er wie andere ähnlich gesinnte Väter keinem
Manne gönnt und strenge bewachen läßt. Das zur Welt gebrachte Kind ist dann
tatsächlich sein eigener Sohn, wie in den meisten verwandten Überlieferungen
und seine Aussetzung erfolgt dann, wie in einer Reihe anderer Sagen, um die
eingetretenen Folgen des Inzests zu vertuschen. Der Kreis der Beweisführung
in diesem Sinne wird geschlossen durch die einander ergänzenden und deutenden
Berichte des Herodot und Ktesias. Nach dem ersten ist Kyros ein Sohn von
Astyages Tochter, nach dem zweiten nimmt er aber nach Besiegung des Astyages
dessen Tochter, also seine Herodotische Mutter, zur Frau und tötet ihren Mann
der bei Herodot als sein Vater auftritt. Wie der Traum Cäsars vom Ge
verkehre mit der Mutter von den Magiern als Ankündigung von der Besitz-
ergreifung der Mutter Erde rationalistisch ausgelegt wird, so Eu man hier um-
gekehrt den Traum von dem durch eine ungeheuere Flu ba
Tochter seinem latenten Inhalt nach als Geburtstraum auffassen. d ziell
der Geschlechtsakt zwischen Vater und Tochter zugrunde liegt, d > ea DR e
auf die gleiche Besitzergreifung der Mutter (ganz Asien, Mut old A 7 a x r en
Sohn hindeutet, weswegen dieser eben von dem eifersii chti e) durch den
wird, aber doch seinem für ihn sieg- und ruhmreichen $ Kari bin. ausgesetzt
(Vgl. dazu: Der Mythus von der Geburt des FE PIaES Senage a;
Die Symbolschichtung im Wecktraum usw. 115
daß es einem großen Strome gleich geworden, ganz Asien überschwemmt
habe und bis zum Meere geflossen sei‘. Dieser so überraschend an die
Flutsagen anklingende Traum ist seinem manifesten Inhalt nach ein un-
zweideutig vesikaler Traum, da ja das Wasser aus dem cunnus fließt.
Und doch wird derselbe Traum im Zusammenhang der Sage seinem
latenten, dem Träumer selbst unbewußten Gehalt nach als Geburts-
traum gedeutet und aufgefaßt. Astyages legt nämlich diesen Traum
den Traumdeutern unter den Magiern vor, die daraus schließen, daß
die (bei Herodot noch unvermählte, bei Ktesias bereits schwangere)
Tochter einen Sohn gebären werde, dessen Herrschaft sich — wie
das Wasser — über ganz Asien erstrecken und dem König selbst Ver-
derben bringen werde. Die mythische Überlieferung kennt also hier
selbst noch die doppelsinnige Schichtung des Traumes, die wir auf
Grund unserer individuellen Traumanalysen aufdecken konnten.
8*
Aus der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich,
Psychologische Analyse eines Paranoiden.
Von Sch. 6Grebelskaja.
Krankengeschichte.
Des Patienten Vater war immer etwas sonderbar, verschlossen,
aber intelligent und arbeitsam. Die Mutter war debil, ist an Phthise ge-
storben. Ein Bruder des Vaters soll Selbstmord begangen haben. Eine
Schwester des Patienten litt an Dementia praecox, eine andere ist imbezill.
Ein Bruder und eine Schwester sind gesund und intelligent.
Patient ist 1869 geboren. Schon als Kind war er etwas reizbar.
In der Schule war er fleißig, machte die Primar- und Sekundarschule
durch, las auch sehr viel. Schon in der Schule klagte er den Lehrern,
die Schüler lachten ihn aus, besonders während des Turnens. Er hatte
keine Kameraden, zog sich zurück, spielte wenig. Mit 16 Jahren ging
er in die Lehre zu einem Mechaniker, weil ihm dieser Beruf am meisten
imponierte, bekam aber so starkes Heimweh nach dem Vater (wie er
mir angab), daß er schon nach 14 Tagen die Stelle verließ. Er wurde
nun Kellner und arbeitete als solcher in verschiedenen Städten der
Schweiz, Frankreichs und Englands. Auch dieser Beruf machte ihm
aber keine Freude und er entschloß sich, mit dem Vater zusammen das
Geschäft (Hutfabrik) weiterzuführen. Er ibernahm eine ziemlich
selbständige Stellung, wobei es ziemlich gut ging. Das Verhältnis
zum Vater war in dieser Zeit besonders gut; der Patient lernte sehr viel
von ihm. Im Jahre 1897 machte er die Bekanntschaft eines jungen
Mädchens, mit dem er sich bald verlobte. Patient meinte aber, der
französische Zug in ihrem Charakter (sie hatte französisches Blut),
paßte nicht gut au ruhigen Familie. Er verdächtigte sie bald
der Untreue und löste nach einiger Zeit die Verlobung. Er fühlte sich
nun von allen Leuten gekränkt, wurde stark nervös. Mit besonderer
Liebe und mit Erfolg gab er sich dem Schießsport h, |
war er immer verstimmt, mißtrauisch a
? ‚ verlor Schlaf und ' Appetit.
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 117
Als er einmal abends im Jahre 1900 nach Hause ging, wurde er ange-
rempelt und, als er anfing zu schimpfen, auch noch durchgeprügelt.
In der Finsternis erkannte er den Täter nicht, war aber überzeugt,
daß das ein gewisser D. sei, der mit ihm in der Sekundarschule zusammen
war, wo D.der beste Turner war. Er verklagte den Betreffenden, hatte
aber nachher keine Ruhe. Der vermeintliche Täter und seine Freunde
wurden vom Patienten verdächtigt, daß sie ihn immer verspotteten,
daß sie Hilferufe nachahmten, die er beim Überfall ausgestoßen habe.
Es sei ein Komplott gegen ihn; man schikaniere ihn; besonders in der
Nacht machten sie sich im gegenüberliegenden Restaurant über ıhn
lustig, machten Anspielungen auf die Begebenheiten jener Nacht, alles
laut, damit er es hören solle. Daraufhin drohte er einem von den
Kameraden des D., ‚ihn kaput zu machen“, zog sogar seinen Revolver
heraus, den er in der letzten Zeit immer trug, um sich vor den Feinden
zu schützen. Auf die Klage dieses O. wurde Patient ärztlich untersucht
und mit der Diagnose ‚Paranoia‘ wegen Gemeingefährlichkeit der
Anstalt überwiesen. Hier ergab sich, daß er sich von allen verfolgt
fühlte; wenn jemand schrie, hustete, lachte, so bezog er alles auf sich.
Auch hörte er Stimmen.
Als aber der Patient sich etwas beruhigt hatte und versprach,
keine Waffen mehr zu tragen, wurde er auf Zusehen hin entlassen.
Nach einiger Zeit hatte er sich freiwillig in eine andere Anstalt
aufnehmen lassen, um sich den Verfolgungen zu entziehen. 1903 wurde
er von der Polizei wieder in die Anstalt gebracht, weil er wiederum
gemeingefährlich wurde, Er meinte, man wolle ihn töten. Einmal
hatte er sich aus dem Fenster stürzen wollen, um sich vor den Feinden
zu retten. Er bildete sich ein, daß die Leute ihn schikanieren, seine Ge-
danken erraten, ihn lebend sezieren wollen, seinen Körper auf ver-
schiedene Art schwächen.
Status praesens bei der Aufnahme.
Klein, schmächtig, mit einem gewissen scheuen und argwöhnischen
Ausdruck steht oder geht Patient auf der halbruhigen Abteilung umher
mit gesenktem Kopfe, stets sichtlich innerlich beschäftigt, wenn er nicht
schreibt oder seine Erfindungen konstruiert. Den Ärzten gegenüber
macht er sich beständig durch allerlei Mitteilungen bemerkbar, teils über
seine Erfindungen, seine Freilassung, seine erwiesene Gesundheit, über
Beobachtungen von allerlei seiner Meinung nach unsauberen Ungehörig-
keiten auf der Abteilung, etwa auch einmal über allerlei Beschwerden.
Dabei ist Patient durchaus nicht harmlos und man hat sich sehr zu hüten,
118 Sch. Grebelskaja.
was man mit ihm spricht. Er gerät leicht in Aufregung. So warf er einmal
plötzlich einen Wärter zu Boden und hat manchmal mit Totschlag gedroht,
Es ist begreiflich, daß unter solchen Bedingungen auch die Analyse ihre
Schwierigkeiten hatte. Denn abgesehen von den sehr wechselnden und
für die Produktivität sehr maßgebenden Launen, gab Patient allerdings
viel Auskunft, aber nur im Gebiete seiner Kompensation, war im übrigen
in allen Komplexbeziehungen so abgesperrt oder empfindlich, daß man
oft nicht weiter kam.
Patient ist gut orientiert, die Intelligenz gut, besonders aber das
Gedächtnis. Der Gesichtsausdruck ist steif, die Affektivität schwach, aber
doch noch erhalten.
Beziehungswahn: Wenn zwei Leute sprechen, so spricht man
über ihn; wenn jemand lacht, so lacht man ihn aus; wer hustet, macht
eine Anspielung auf seine Lungenkrankheit; wer schreit, ahmt seine Hilfe-
schreie beim Überfall nach.
Verfolgungswahn: Man will ihn aus der Welt schaffen, man will
ihn vergiften, man errät seine Gedanken zu Probezwecken, man schikaniert
ihn, man behält ihn in der Anstalt, weil er eine wichtige Persönlichkeit ist.
Größenideen: Er sei der beste Erfinder von Luftschiffen, er würde
100.000 Franken bekommen für seine Erfindungen. Er sei intelligenter
als alle Ärzte. Seine Gedanken sind von großem Werte für die ganze Medizin.
Er schreibt eine Menge Aufsätze über wissenschaftliche Themata. Neulich
verfaßte er eine „Dissertation“, die doch ‚‚sicher viel intelligenter“ ist
als die von vielen Ärzten.
Er hat Halluzinationen des Gehörs und Gesichts. Äußert eine
Menge hypochondrischer Klagen, er verspüre ein Brandgefühl im Kopfe,
ein Leerwerden der Lunge. Manchmal bläht man seine Lunge auf. Man
ruft Pollutionen bei ihm hervor. Das bewerkstelligen die "Inspiratoren
durch Feuerwirkung.
Es handelt sich also um eine paranoide Form der Dementia praecox.
Analyse.
Patient gibt gern Auskunft, aber nur so lange man seine Kom-
plexe nicht berührt. Sobald man etwas tiefer in seine Psychologie
eingehen will, bekommt er Sperrungen, zeigt großen Widerstand und
wird sogar hie und da etwas negativistisch. So ist die Analyse nach
fast dreimonatiger Arbeit noch sehr lückenhaft. Er hat vieles ab-
gesperrt, hat sich mit seiner ganzen Persönlichkeit den Erfindungen
ee so ‚daß man mıt großer Mühe die Determination seines
n n mit sei ien in Ei
a mug seinen bewußten Ideen und Phantasien in Einklang
Das auslösende Moment für sein '
. e Krankheit war d
Er wurde geprügelt von einem kräftigen Mann, zu dem er = " nen:
si
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 119
früher gewisse Beziehungen hatte. Er benahm sich wie ein kleines
Kind, schrie und bat um Hilfe. Selbstverständlich sprechen wir dieses
Ereignis nicht als die Krankheitsursache an, sondern als ein Moment,
das seine größten Konflikte zur Auslösung gebracht hat. Der Überfall
hat ihm einen objektiven Beweis für seine im Innern schlummernden
Konflikte gegeben, er bekam dadurch eine Möglichkeit, seine ihn schon
vorher beherrschenden Komplexe nach außen zu projizieren. Und so
brach seine Krankheit aus. 2
Komplex der Sexualität.
Beim Assoziationsexperiment bekam ich unter noch weiter zu
schildernden kritischen Assoziationen auch folgende, die mich veranlaßte,
den Onaniekomplex bei ihm zu vermuten, dessen Vorhandensein ich dann
bestätigte.
Finger — Krankheit,
Hand — Schlaf,
Schlaf — Reinlichkeit,
Zahlen — 5.
Was meinen Sie mit Finger — Krankheit?
„Viele Ärzte wollen immer die Onanie als Krankheitsursache her-
stellen, es ist aber gar nicht wahr. Ich habe noch nie in meinem Leben
onaniert, aber viel darüber gelesen und mit meinen Freunden davon ge-
sprochen.“
Haben Sie die Freunde direkt um die Onanie gefragt?
„Nein, niemals, ich habe nur ein solches Gespräch mit ihnen geführt.
Wenn die Krankheiten von der Onanie abzuleiten wären, so müßten ver-
heiratete Personen viel mehr an Krankheiten leiden, denn Onanie und
geschlechtliche Erhitzung sind dasselbe und müssen daher auch dieselben
Folgen haben. Von jeher hatte ich auch jünger ausgesehen, als ich bin,
wahrscheinlich eine Folge von „oh-na-nie, wie Dr. Sch.“
Auf die Frage, was dieses Wort eigentlich bedeuten sollte, gab
er folgendes an:
„Bei mir hat jedes Wort nieht eine, sondern viele Be-
deutungen, deshalb verstehen viele Ärzte meine Fragen nicht, weil sie
sich in den Grund der Idee nicht vertiefen können. Ich habe das Wort
gebraucht, um zu zeigen, daß es einen andern Sinn hat; es soll heißen,
daß Dr. Sch. onaniert habe, oder überhaupt alle Ärzte. Es heißt: oh-na-nie-
wie Dr. Sch., noch nie onaniert, wie Dr. Sch., deshalb sehe ich jung aus,
nicht wie Dr. Sch., wie man mir sagte,‘
Ich wiederholte wiederum die Assoziation Finger — Krankheit,
dann sagte er:
120 Sch. Grebelskaja.
‚Das ist etwas... Krankheit kann ja in jedem Glied entstehen,
auch in einem Finger.“
Was bedeutet Hand — Schlaf?
„Als Kind hatte ich immer Angst, meine Geschlechtsorgane an-
zufassen; ich glaubte, daß nur ich das tue. Ich hatte überhaupt große
Angst, als Kind, nachher wußte ich, daß alle meine Freunde onaniert haben,
trotzdem sie Verhältnisse hatten und ich keines.“
Haben Sie als Kind onaniert?
„Nein, darüber gebe ich überhaupt keine Auskunft.“ In diesem
Zusamemenhange bemerkte er: „Bei uns in der Familie ist man sehr reinlich,
besonders der Vater.‘ Nur er legte einen Makel auf die ganze Familie.
„Besonders peinlich war mir der Gedanke, wenn das der Vater wüßte, ihm
gegenüber möchte ich rein sein.“ Er hat sich viel mit Ganzwaschungen
zu Hause abgegeben, achtete besonders auf die Reinlichkeit seines Körpers,
wurde überhaupt ein Anhänger des Naturheilverfahrens, weil doch Bäder
und Waschungen von allem heilen, ‚‚rein‘‘ machen können. Er klagte,
er leide deshalb so in der Anstalt, weil er diese Ganzwaschungen nicht
weiter fortsetzen könne. Als Kind sah er besonders gern zu, wenn andere
Knaben urinierten, um zu sehen, ob sie auch solche Organe haben wie er.
Er hat wahrscheinlich die Phantasie gehabt (es läßt sich aber nicht deutlich
durch die Analyse nachweisen), daß seine Geschlechtsorgane durch die
Onanie verunstaltet werden, ‚‚des Blutes und der Gewebesäfte entzogen“.
In einer andern Sitzung, wo wir wieder über die Onanie sprachen,
erzählte er mir folgendes:
„In den Büchern steht, daß Onanie schädlich ist, während Dr. Sch.
gesagt hat, die Pollutionen seien nicht gefährlich. Ich habe die Pollutionen
immer mit dem Traum. Die Träume handeln immer von geschlechtlichen
Sachen, aber von abnormen.“
Wen sehen Sie im Traum?
„Verschiedene Personen, aber immer in merkwürdiger Stellung.“
(Ist etwas verlegen, reibt die Hände.) 1
In was für einer Stellung?
Ja, es ist so dumm, ich kann ’ oo:
Ja, ä es gar nicht sagen. Üb X
keiten braucht man gar nicht zu sprechen.“ i N
A nu oe er dazu bringen, meine Frage zu beantworten.
ie wird indire och beantwortet in der Analvs ' |
halluzinationen (siehe unten). N
Was sind das für Personen, die Sie sehen?
„Ich sehe sie mehr im Bilde als im T 1
OL Rohe Bio mohi ide Taume, es sind diejeni
ao ın ‚sinnlicher‘ Verbindung stehe, nein in ubenstnuhieh Da
sind zuerst Dr. Sch., Prof. B. und Dr. J -‚ früher waren es auch D. (der
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 121
ihn überfallen hat), A. (dessen Freund) und noch andere. Es ist eine sinnliche
Verbindung mit einer verheirateten Person. Meine Pollutionen entstehen
dadurch, daß ich mit noch einem Patienten sinnlich vereinigt bin, der
vielleicht noch im wachen Zustande sich befindet und sexuell errest ist;
diese Erregung wird auf sinnlichem Wege auf mich übertragen, und wenn
ich schlafe, so träume ich von demselben und bekomme eine Pollution.
Die Verbindung mit dem Patienten wird vermittelt durch das Gehirn
von Prof. B., indem wir beide mit Prof. B. in Verbindung stehen.“
Sind Sie auch mit Frauen in sinnlicher Verbindung?
„Nein, niemals, nur mit Männern und meistens mit Ärzten.‘
Und Ihr Vater, hat er auch Beziehungen zu dieser Vereinigung?
„Nein, nie, was denken Sie auch!“
Patient ist ganz entrüstet über meine Frage, beleidigt für seinen
Vater, er fängt gleich an Schweizerdeutsch zu sprechen, aber scheinbar
unbewußt, denn wie ich ihn darauf aufmerksam machte und ihm sagte,
er könne schon Schweizerdeutsch sprechen, ich verstehe ihn, ent-
schuldigt er sich und sagt, er habe gar nicht gemerkt, daß er nicht
mehr Hochdeutsch spreche. Diese Reaktion auf meine Frage ließ mich
vermuten, daß diese, wie er sagte „sinnliche“ mit der Erklärung
„geistige“ Verbindungen mit seinen Verfolgern (es sind alle die Per-
sonen, die die Hauptfiguren in seinen Verfolgungsphantasien sind)
wirklich sinnlich und gar nicht bloß geistig sind; vielleicht ist beides
richtig. Sie sind ‚„‚geistig‘‘, weil sie ja nur seine unbewußten Phantasien,
seine Wünsche, seine gefühlsbetonten Vorstellungen, kurzum seine
ganze Individualität, seine Psyche darstellen, aber diese ‚‚Verbindungen‘“
sind auch sinnlich, denn es sind seine verdrängten sexuellen Gefühle
und Wünsche. Wenn das nicht der Fall wäre, woher käme die außer-
gewöhnliche Empörung über meine Frage, ob der Vater auch in ‚,‚sinn-
licher‘ Verbindung mit ihm stünde? Das beweist, daß auch der Vater
irgendwie mit seinen sexuellen Komplexen zusammenhängt. Ebenso
weist daraufhin das Schweizerdeutschreden, Immer, wenn ich auf
seine verdrängten Komplexe zu sprechen kam, wurde er negati-
vistisch, bekam Sperrungen und ging unbewußt vom Hochdeutschen
zum Schweizerdeutschen über. Der Vater ist sein Ideal von Kind-
heit auf. In seinem ganzen Benehmen, wenn er vom Vater spricht,
erinnert er an ein Kind, das in voller Bewunderung dem Vater gegen-
übersteht:
„Mein Vater ist der erhabenste Mann in der Gemeinde,‘ sagte Patient;
„er kann alles, er weiß alles. Sehen Sie, Fräulein Doktor, diesen Anzug
hat er selbst genäht, wenn Sie sehen könnten, wie fein er nähen kann,
122 Sch. Grebelskaja.
wenn ich ihn sehen könnte, ihm in seinem Alter helfen könnte, wir haben
doch so gut zusammengelebt.“
Der Vater ist das Ideal der jungen Seele. Mit dem Wachsen
der Kritik wechselt das Objekt der ersten Verehrung, der Vater wird
nicht mehr als vollkommen betrachtet. An seine Stelle treten andere
Autoritäten. Nur bleiben die letzteren in diesem Stadium der infantilen
Übertragung stehen, sie ‚„‚verkriechen‘“ sich in diese Erlebnisse; ihre
Psyche erstarrt, statt sich weiter zu entwickeln. Der große Komplex,
der den Kranken in jungen Jahren beherrscht, der seine ganze Psyche
einnimmt und sie gefühllos, interesselos für alles andere im Leben
macht, ist die Grundveranlassung, daß er keine neuen Assoziationen
anknüpft, weil die Aufmerksamkeit für die Realität in gewissem Sinne
fehlt; der Kranke verharrt daher in diesem Stadium der infantilen Ver-
ehrung, oder, wenn er sich eine Zeitlang davon befreit, kehrt er doch bald
wieder zu seiner infantilen Einstellung zurück. Die Beziehungen des
Patienten zu seinem Vater lassen sich bis in die früheste Jugend verfolgen:
„Ich erinnere mich noch jetzt sehr genau, wie mir mein Vater mal das
‚Leder gegerbt‘ hatte, ich weiß es noch jetzt ganz deutlich, was ich für
Gefühle hatte, ich hatte noch keine Hosen an, sondern ein Röckchen, muß
also noch ganz klein gewesen sein.“
Was für Gefühle hatten Sie dabei?
„Ja, daran mag ich mich gar nicht mehr erinnern, jedenfalls sah
ich nachher bis vor kurzem ganz deutlich sein Gesicht vor meinen Augen
mit demselben Ausdruck wie damals.“
Sehen Sie oft den Vater?
4 ER wenn ich an den Vater denken will, kommt der ‚Inspirator‘
he ger ne Gedanken Dr. Sch. ein oder zeigt mir sein
Um den nächsten Abschnitt der Analyse verständlich zu machen,
müssen wir folgendes vorausschicken: Dr. Sch. spielt die wichtigste
Rolle in seinem Wahnsystem. Er ist sein größter Verfolger. Die Stimmen
sagen ihm: Dr. Sch. habe sein Leben von Geburt an „somnambulisch
ausstudiert“. Er will den Patienten lebendig begraben, seinen Körper
verfaulen lassen, er schwäche ihn, er rufe bei ihm Pollutionen hervor.
Wenn eran den Vater denken will, muß er an Dr. Sch. denken. Dr. Sch.
tritt in gewisser Beziehung an Stelle des Vaters. In welcher Beziehung?
Mit Liebe ist in der Regel auch Haß verbunden. Wie Bleuler
sagt, den Begriff der Ambivalenz erläuternd!), Die Ambivalenz, welche
!) Psychiatr.-Neurol. Wochenschr., Nr. 18—21, 1910
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 123
der nämlichen Idee zwei gegenteilige Gefühlsbetonungen gibt und den
gleichen Gedanken zugleich positiv und negativ denken läßt. Er liebt
seinen Vater; die andere Komponente des Affektes, der Haß gegen den
Vater, wird ihm aber nicht bewußt. Warum aber muß er an Dr. Sch.
denken, wenn er an den Vater denken will? Dr. Sch. haßt er bewußt,
er möchte ihn töten und würde das vielleicht tun, wenn er frei wäre.
Ist dies nicht vielleicht der Ausdruck des in der Beziehung zu seinem
Vater fehlenden Hasses? Identifiziert er nicht die beiden Persönlich-
keiten zum Komplex ‚Vater‘?
Diejenigen Gefühle, die wir, dank der Erziehung, dem Vater
gegenüber nicht empfinden können, verlegt man gerne auf eine andere
Person und so entgeht man dem Konflikt. Um den Konilikten aus-
zuweichen, vertieft sich der eine in die Wissenschaft, um, wie Freud
sagt, „die Leidenschaft in Wissensdrang umzuwandeln‘), um ein
Ausleben der Komplexe zu ermöglichen und damit ihre Wirkung zu
dämpfen. Der andere flüchtet sich in die Krankheit, wie Jung in
seiner Schrift ‚‚Inhalt der Psychose‘ gezeigt hat. Unser Patient schafft
sich ein Surrogat in der Persönlichkeit von Dr. Sch., um diejenigen
Gefühle ausleben zu können, die in seiner Seele von Kindheit auf
gewurzelt haben.
Bemerkenswert ist folgende Vision, die seine homosexuellen
Tendenzen klar vor Augen führte:
„Dr. Sch. wird mir immer nur als sein Geschlechtsorgan gezeigt.
Sein Glied war ganz ausgedorrt und vertrocknet gezeigt, er ist auch schon
sehr alt.‘
Wie alt ist er?
„80 Jahre, nein 50 oder 60 bloß.“
Patient hat sich versprochen. Wie ich ihn darauf aufmerksam
mache, sagt er, 80 beziehe sich auf seinen Vater; er muß immer denken,
wie der alte Mann jetzt noch arbeiten muß und keine Hilfe vom Sohne
haben kann. — Dieses Versprechen ist charakteristisch. Es deutet den
verdrängten Komplex an, die Identifizierung des Dr. Sch. mit dem
Vater. 80 ist nämlich annähernd das Alter seines Vaters.
Weder im Wahnsystem des Patienten noch in seinen Hallu-
ziınationen haben wir weibliche Personen zu verzeichnen. Aus der
Anamnese wissen wir, daß er verlobt war; aber seine Braut ließ ihn
kalt. Die einzigen Gefühle, die er für sie hatte, waren die der Eifersucht.
') Eine Kindheitserinnerung des Lionardo da Vinci.
124 Sch. Grebelskaja.
Er beschuldigt sie, sie liebe ihn nicht mehr, sie verkehre mit anderen,
sie achte mehr auf andere Männer wie auf ihn.
Wieviel daran wahr ist, konnte ich leider nicht erfahren. Das
eine weiß ich, daß sie als sehr anständiges Mädchen gilt. Nach
Ferenczi!) spielt in der Psychologie der „Paranoia“ der unbändige
Bifersuchtswahn öfter eine große Rolle. Die Leute sind nicht imstande,
heterosexuell zu lieben. Diesen Mangel an Gefühlen projizieren sie
nach außen, indem sie behaupten, man liebe sie nicht; auch finden sie
darin eine Entschuldigung für ihre mangelnde Liebe. In einem Falle
Ferenczis war der Mann eifersüchtig auf den Arzt, den er liebte,
und so brachte er seine Phantasien nach außen, indem er seinen Wunsch,
mit dem Arzte umzugehen, in die Beschuldigung der Frau gegenüber
umwandelte, sie habe mit ihm Umgang gepflogen. Unserem Patienten
werden auch die Geschlechtsorgane des Direktors und des Dr. J. gezeigt,
die Stimmen, wenn sie von Geschlechtsorganen sprechen, nennen sogar
die Organe bloß Prof. B., Dr. J. Wenn ein Patient als geschlechtskrank
gilt, so sagen ihm die Stimmen: ‚„‚Er sei krank am Prof. B.“
Patient erzählt weiter:
Die Spezialität von Dr. J. sei, Geschlechtsorgane auszupressen,
hypnotisch zu beeinflussen, Pollutionen hervorzubringen. Dr. J. wird
auch von den Stimmen genannt: der junge Dr., der junge Dr. Sch. Eine
Stimme sagte mir, ich dürfe nicht länger leben als Dr. J.
Er ıdentifiziert sich hier selbst mit Dr. J. Das ist nur konsequent,
da Dr. Jung der junge Dr. Sch. und Dr. Sch. sein Vater ist.
„Naturell seheich immer die Geschlechtsorgane von anderen Patienten,
auch um zu vergleichen.“
ANNE sonst, um zu sehen. Ich lebte immer in der Angst, ich werde
krank, meine Geschlechtsorgane werden schwach, verunstaltet.“
Daher entwickelt sich der Trieb, seine Geschlechtsorgane mit
anderen zu vergleichen. — In einer der folgenden Sitzungen erzählt
mir Patient:
. „Noch bevor ich mich in die Anstalt K. aufnehmen ließ, sagten mir
die Stimmen, daß verschiedene Personen in mich eindringen. Es ist
eıne Art Inkarnation, vollständige körperliche Verbindung.‘
Mit wem?
„Ja mit allen. Zuerst kommen D., A. und O. (A. und O. sind die
Freunde von D., der ihn überfallen hat), dann Dr. Sch. Prof. B. Ri Dr. J.
Zuerst drang in mich A. ein, er war derjenige, der in mich hineindrang.
!) Dr. S. Ferenczi, Über die
Rolle der Homos ktst ; |
der Paranoia. Jahrbuch, III. Band. a Su Be
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 125
Dieses Hineindringen war so merkwürdig, ich spürte es am ganzen Leib,
es schauerte mich förmlich.“
Interessant daran ist folgendes: Erstens sind diejenigen Personen,
die in ihn hineindringen, auch seine Verfolger, zweitens war er der
passive Teil dieser Phantasie. In seinem Curriculum vitae, das er
abgefaßt hat, sagte er: ‚‚Ich war in England in einem Hause angestellt
als Mädchen für alles.“ Wir sehen oft bei homosexuellen Männern
die Vorliebe für weibliche Beschäftigungen. Er hat sich übrigens
nie manifest homosexuell betätist.
Ein anderes Mal sagten ihm die Stimmen:
„D. ist derjenige, der mich stärken kann, der mich gesund machen
kann.“
Folglich fühlt er sich schwach, krank. D, ist aber diejenige Person,
die ihn seiner Ansicht nach geprügelt hat. Sicher ist es nicht nach-
gewiesen, aber Patient glaubt, daß es D. gewesen sei, und das ist das
wichtigste.
Warum wird derjenige, mit dem er in seinem „Unbewußten“
in „geistiger“ Verbindung steht, dessen Geschlechtsorgane ihm gezeigt
werden, mit dem seine Stimmen sich immer beschäftigen, bewußt
zum Verfolger und sogar zum Urheber des Attentates? Wie wir aus
der Vorgeschichte wissen, wurde er geprügelt und benahm sich dabei
wie ein kleines Kind, er schrie und rief um Hilfe. Nach dem Ereignis
bekam er gleich Stimmen. Gegenüber, im Restaurant, wo der D. mit
seinen Freunden war, hörte er immer, wie sie ihn nachahmten und
schrien: „Hilfe, Hilfe!“ , auch in der Nacht hörte er dasselbe, wie wenn
ein kleines Kind Schläge bekommt und schreit.
„Die Stimmen beschäftigten sich nun immer damit, sie verhöhnten
mich, sie hielten mich für feige, für ängstlich, vielleicht eines guten Schützen
unwürdig.‘“
Jetzt verstehen wir, warum dieses Ereignis solche Folgen für ihn
hatte. Schon früher fühlte er sich in der Familie wie in der Schule
zurückgesetzt, er hielt sich von allen fern, hing nur am Vater.
„In der Familie galt überhaupt nur der Bruder J., der konnte alles,
der verdiente am meisten Geld.‘
In der Primarschule schon war Patient, wie mir ein Lehrer
sagte „immer finster, spielte nie mit seinen Kameraden“. Er war
sonst ein mittelmäßiger Schüler, zeigte keine besondere Begabung.
Was er aber nicht konnte, das wollte er. Als 13jähriger be-
wunderte er zum ersten Male denselben D. beim Turnen. Er sagte
126 Sch. Grebelskaja.
mir, der D. sei der beste Turner gewesen. Er näherte sich dem D.
etwas, hatte aber nie den Mut, mit ihm in ein freundschaftliches Ver-
hältnis zu treten.
„Ich konnte nie sprechen in seiner Gegenwart, trotzdem ich es gern
mochte.‘‘ |
Als Patient aus dem Auslande zurückkehrte, hatte der D, schon
eine gute Stelle und einen Kreis von Freunden. Patient kam oft in ihre
Gesellschaft, fühlte sich aber da nie wohl. ‚‚Ich kam immer mit Kopf-
schmerzen nach Hause, wenn ich mit ihnen war.‘ So viel weniger wollte
er doch nicht sein. Seine Männlichkeit mußte er doch behaupten, wo
es ihm möglich wär: Er widmete sein ganzes Interesse dem Sport.
Dadurch bewies er sich seine Männlichkeit. Durch die Prügelszene
wurde er mit einem Ruck infantil gemacht. Damit; brach das Fun-
dament seiner künstlich aufrecht erhaltenen Männlichkeit ein. Jetzt
fühlt er noch mehr, daß er nichts im Leben leisten kann, er hört die
Stimmen, die ihn verhöhnen, die ihn nachahmen, wie er um Hilfe
schrie, ährlich den Stimmen Schrebers. Die Stimmen verhöhnten
mich, meinen Mangel an männlichem Mutt).“
Unserem Patienten fehlte auch der männliche Mut, überhaupt
der Mut zum Leben und so flüchtete er sich in die Krankheit, zu diesem
„Blitzableiter aller Konflikte“. In der Krankheit ist er der beste Eı-
finder, er macht wunderbare Luftschiffe und Grammo phone. Die Stimme,
die ihn verhöhnt, ist vorwiegend die Stimme von D. Mit demselben
ist er aber auch in „geistiger“ Verbindung, er möchte dem D. gleich
sein; D. war doch in der Schule derjenige, der alles besaß, was dem
Patienten fehlte. Er war groß, kräftig, guter Gesellschafter, hatte
viel Umgang mit Weibern (wie mir Patient entrüstet erzählte). Es
entstand der Wunsch, sich ihm zu nähern, Patient hatte aber den
Mut dazu nicht, er konnte nie sprechen in seiner Gegenwart. Dazu
peu das Ereignis mit dem Überfall. Und nun beginnt Patient
b . zu hassen; er wird von ihm verfolgt, mißhandelt, D. sei sein
sp Er ER ei RBERe: gegen ihn angezettelt, Freud?)
wurde jetzt zum Be. in N Ba
Inhalte der Verfolgung in Sat Di en ac Wansehp ai, nr
; hin atze: Ich liebe ihn (Flechsig; bei
unserem Patienten D.) widerspricht der Verfolgungswahn, indem er
) Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 107
a auge: analytische Bemer kungen über einen autobiographisch be-
von Paranoia (Dementia Paranoides). Jahrbuch, Bd. 3, S. 55.
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 127
proklamiert: Ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn ja. Dieser Widerspruch,
der im Unbewußten nicht anders lauten könnte, kann aber beim
Paranoiker nicht in dieser Form bewußt werden. Der Mechanismus
der Symptombildung bei der Paranoia fordert, daß die innere Wahr-
nehmung, das Gefühl durch eine Wahrnehmung von außen ersetzt
werde. Somit verwandelt sich der Satz: „Ich hasse ihn ja, durch Pro-
jektion in den andern: er haßt mich, was mich dann berechtigt, ihn
zu hassen.“
Denselben Mechanismus können wir bei unserem, Patienten
annehmen, wenn auch der Schluß nicht genügend ist. Auf diese Weise
kann D. zum Verfolger, zum Missetäter werden. Die Inkarnations-
phantasien sind in Analogie zu setzen mit den bei Schreber kon-
statierten Koitusphantasien mit Männern, wo er in ein Weib um-
gewandelt wird. Unser Patient ist auch der passive Teil, man dringt
in ihn hinein und dadurch wird er ein ganz anderer.
„Als A.in mir war, sagte die Stimme: jetzt habe er mich vollständig
in seiner Gewalt, jetzt bin ich nicht mehr, sondern in mir ist A. tätig.“
In den Mysterien ist der von Gott erfüllte Myste nicht mehr
er selber, sondern er ist selbst Gott geworden!).
Haben Sie sich nicht gewehrt dagegen?
„Nein, warum denn, es kam von selbst und die Stimmen hatten auch
recht, ich bin ein anderer geworden, es wirkte etwas in mir, dachte für mich.
Die Stimmen sagten mir: D, und A. geben sich freiwillig her, um mir sinn-
liche Stärke zu geben. Durch Hypnose haben sie meine Kraft vollständig
auf sich hinübergezogen, deshalb müssen sie mir wieder die aufgespeicherte
Kraft zurückgeben. Dann könnte ich wieder gesund werden. Ich fühlte
plötzlich, wie meine Lunge stark aufgebläht wurde?). Dann fühlte ich mich
wieder kräftiger nach der Aufblähung. Dann hieß es, A. sei in mir oder
D.., dadurch hatte ich ein besseres Stärkegefühl.“
Aus diesen Äußerungen der Stimmen können wir folgendes ent-
nehmen: Er sei in Verbindung nicht nur mit D., sondern auch mit A.
Nur sind das zwei verschiedene Persönlichkeiten. D. ein junger Don
Juan des Dorfes, A. ein gewöhnlicher Bürger. Die beiden beschäftigen
seine Stimmen, sie geben ihm neue Kraft, neues Leben. Er trennt
aber unscharf die beiden Persönlichkeiten voneinander; eigentlich
ist es ihm nur eine Person, der D., dem der Patient die guten Seiten
des A. angedichtet hat. Die Verdichtung ist ähnlich der Verdichtung
im Traum, wo zwei Persönlichkeiten identifiziert werden, die ver-
1) Vgl. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, I. Teil.
?®) Aufblähung durch den befruchtenden Wind. Vgl. Jung, I. c.
128 Sch. Grebelskaja.
schiedenen Gedankensystemen angehören. D. seine Wunschphantasie,
die Verkörperung seiner nicht ausgelebten Wünsche und sein Wider-
stand dagegen seine Moral, sein bewußtes Streben und Verlangen.
Während D. die Realisierung seines Unbewußten vorstellt, ist A. das
Ideal seiner bewußten Psyche.
In diesen Phantasien ist noch das große Problem des Patienten
enthalten: Wie er wieder gesund werden könnte. Zwar behauptet
er immer, daß er unschuldig interniert sei. Er beschäftigt sich immer mit
dem Gedanken, daß nicht er, sondern die Ärzte geisteskrank seien,
er verteidigt eifrig diese Meinung. Aber er fühlt selbst vielleicht un-
bewußt die innere Zerrissenheit seiner Seele. Die müßte er irgendwie
zu korrigieren suchen. A. und D. haben mich durch die sinnliche Ver-
bindung gestärkt.‘ Also es gibt doch einen Ausweg, den findet freilich
nur sein Unbewußtes. Die Vereinigung mit D. wird ihn gesund machen!).
Mit anderen Worten, das Ausleben der homosexuellen Ideen und
Wunschphantasien wird ihm seine Potenz, die ihm durch Hypnose
vernichtet wurde, zurückgeben. — Wer macht ihn impotent und wie?
Dr. Sch., D., Prof. B,, Dr. J. sind die Hauptinspiratoren, sie
hantieren an seinen Geschlechtsorganen, sie geben ihm sinnliche Ge-
danken ein, bis er Pollutionen bekommt.
„Schon immer haben sie gesucht meinen Körper zu schwächen,
um mich für ihre Probezwecke benutzen zu können.“
Es sind also die nämlichen Personen, die ihn auch stärken. Auch
in der Beschreibung der sexuellen Verfolgungen selbst sehen wir eine
deutliche Ambivalenz.
Er zeigt oft sehr deutlich erotische Gefühle, verlegenes Lächeln,
vergnügtes Gesicht, wenn er von allen den Scheußlichkeiten spricht,
die seine Verfolger seinen Geschlechtsorganen antun. Die Verfolger
schwächen ihn, um ihn nachher zu ‚‚Probezwecken “ benutzen zu
können. Sie wollen ihn geschlechtlich benutzen und tun es auch, aber
vorher muß er eine Umwandlung durchmachen. Er muß impotent
werden, seine Männlichkeit verlieren, als Mann nicht mehr existieren,
ein Weib werden. Und dann wird er durch die Inkarnation D.-A.
wieder kräftig werden, ein Stärkegefühl im ganzen Körper verspüren,
und dann ist er gerettet.
kenn a1 malyse sion bemdige Ma
plelrein, die nachwies, wie ihre Patientin
durch den Koitus mit einem reinen Mann geheilt zu werden glaubte.
‘) Heilung durch Übertragung.
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 129
Unser Patient ist auch durch die ‚„‚Inkarnation, vollständige körperliche
und geistige Vereinigung‘ geheilt worden. Die Umwandlung von
Mann in Frau, die bei Schreber durch die Vermittlung Gottes geschah,
bewirken bei unserem Patienten seine Inspiratoren. Dr. Sch., den wir
als die Personifizierung eines Teiles der Vaterimago!) erkannt haben,
ist auch der Hauptverfolger, der bei ihm am, meisten Pollutionen hervor-
ruft. Aber durch dieselben Verfolger wird er gestärkt und geheilt. Er
spielt aber die passive Rolle dabei, weil er kein Mann mehr ist, sondern
ein Weib. Daß sehr tief verborgen in seiner Seele auch der Vater mit
den Verfolgern respektive Begehrenden zusammen gedacht wird, belehrt
uns folgendes: Patient erzählt, er habe einmal von zu Hause ein Körb-
. chen mit Eßwaren bekommen, plötzlich kam ihm die Idee, es könnte
Gift darin enthalten sein.
Aus anderen Analysen wissen wir, daß ‚‚Gift‘ häufig einen Liebes-
trank oder Verliebung symbolisiert. In diesem Falle kennen wir das
Verhältnis zum Vater. Man kann also daran denken, daß auch hier
die Vergiftungsangst gegenüber dem Vater (der ja zu Hause allein in
Betracht kommen kann) mit der Sexualität zusammenhinge. Bei Homo-
sexuellen spielt in der Regel Übertragung auf die Mutter die bedeutende
Rolle. Ich habe bei unserem Patienten auch nach dieser Richtung
geforscht. Spontan spricht er nie von der Mutter. Wenn ich ihn über
sie frage, bekomme ich nur im gleichgültigen Ton Daten von ihrer
Krankheit, ihrem Sterben usw. Weder in der frühesten Kindheit
noch in den späteren Jahren lassen sich Spuren von seinem Verhält-
nisse zur Mutter nachweisen.
‚Wenn ich nicht in der Anstalt wäre, würde ich so alt werden wie
mein Vater, vielleicht aber wie die Mutter. Nein, ich bin mehr dem Vater
nachgeschlagen, körperlich und auch geistig. Auch die Lungenblutungen
habe ich im selben Jahr bekommen, wie mein Vater, ganz genau, und
nachher hatte er auch Katarrh wie ich. Alles bei mir wird dem Vater
ähnlich, auch meine Nase ist jetzt ebenso spitzig wie die meines Vaters.‘
Er spricht immer vom Vater, von der Mutter dagegen vernehmen
wir direkt wenig. In einer Unterredung über Dr. Sch. teilte er mir
folgendes mit:
„Keine Mutter hat mal Polypen in der Nase gehabt, ich war damals
15 Jahre alt, weiß es aber noch ganz genau, und Dr. Sch, hat sie ihr heraus-
gerissen, nicht ausgeschnitten, wie er es tun könnte.“
Weiteres in dieser Sache war nicht zu erfahren.
1) Jung, I. c., I. Teil.
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen, IV. 9
130 Sch. Grebelskaja.
Darauf klagte er über Brennen im Kopie:
‚Das Brennen im Kopfe habe ich immer, wenn ich friere, aber mehr
in der äußeren Haut, weil wenn ich den Kopf mit Wasser abwasche, das
Brennen gleich vergeht. Es kommt sicher von Erkältung. Immer wenn
ich mich ausziehe und ins Bett gehe, dann habe ich das Brandgefühl und
auch, wenn ich mich viel bewege. Das Brandgefühl geht immer voraus und
nachher gibt’s immer die Rachenentzündungen in der Eustachischen Tube
und dann bin ich im ganzen unwohl, der ganze Körper ist dann geschwächt.
Aber nicht so ein Gefühl, wie wenn ich erbrechen wollte. Als Kind hatte
ich auch mal infolge von Erkältung eine Nierenentzündung; da wurde
ich von Dr. Sch. behandelt. Bis zum 6. bis 8. Lebensjahre hatte ich oft an
Bettnässen gelitten, aber nur nach entsprechenden Träumen.“
Wovon träumten Sie?
„lch war oft im Traum entweder im Kabinett oder außerhalb des
Hauses und hatte im Traum das Wasser abgeschlagen. Es ist auch möglich,
daß ich gefroren habe, und daher kam das Bettnässen. Ich erwachte damals
gleich, nachdem ich das Wasser abgeschlagen hatte. Jetzt erwache ich
auch immer gleich.“
Leiden Sie denn jetzt an Bettnässen?
„Nein, aber wenn ich Pollutionen habe, so erwache ich auch gleich.“
Patient stellt also das Erwachen nach den Pollutionen und das-
jenige nach dem Bettnässen einander gleich. Wie er mir andernorts
angedeutet hat, sind die Pollutionen entweder Folgen der ‚‚Inspiratoren-
tätigkeit“ oder treten nach Erkältung ein. Nach der Pollution fühlt
er eine Schwäche im ganzen Körper. Aber wie er mir vorher sagte,
habe er dieses Schwächegefühl, wenn er ins Bett geht und sich da
bewegt, und dann entstehtauch das Brennen im Kopfe. Dieses Brennen
entsteht wie die Pollutionen und die Ennuresist) infolge von Er-
kältung. Ich muß es dahingestellt sein lassen, ob die Empfindung
im Kopfe hier wie in analogen Fällen- eine Verlegung nach oben ist.
Bevor er das Bett naß machte, habe er immer geträumt.
Als ich ihn aber um einen solchen „Pollutionstraum“ fragte,
stieß yt ie unüberwindlichen Widerstand, Ich riskierte, den Pa-
tienten für die Analyse zu verlieren, „, ich ü BASE
Sachen‘ weitere Auskunft verlange. ER
„in P. habe ich auch Pollutionen gehabt, damals wußte ich, daß es
nur die Ärzte machen, um mich impotent zumachen. Auch jetzt ist vielleicht
dasselbe der Fall. Kämen die Pollution
icht ; he en von selbst, ä
am Tag, nicht in der Nacht. Die Arzte geben nur den a
ich eine Pollution habe; am Tage kann ich viel Sinnliches denken und be-
‘) Dieser Zusammenhang ist charakteristisch.
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 191
komme keine Pollution. Als der H. noch Wärter war, so hat mich in der
Nacht und am Tage jede seiner Bewegungen erregt. Ich zitterte ganz, auch
im Kopfe, wenn er z. B. seine Beine oder Arme bewegte.“
Die Ärzte, seine Verfolger, bewirken bei ihm sexuelle Gefühle,
rufen Pollutionen hervor. Bemerkenswert ist seine Beziehung zum
Wärter; zurzeit ist dieser auch einer der Verfolger, der mit den Ärzten
eins ist; der Patient hat ihn sogar durch einen Brief beim Direkvor
zu verleumden gesucht und doch erregte ihn jede seiner Bewegungen.
Später in derselben Sitzung erzählte er: |
„Vor 3 Monaten habe ich gelesen von dem Polizeiskandal der Homo-
sexuellen, ich freute mich sehr, daß aus dem Burghölzli etwas auskommen
werde.‘
Was wird auskommen?
„Ja, manches von vielen Patienten.‘
Durch die Materialien wird die von Freud und Ferenczi hervor-
gehobene Beziehung zwischen der Homosexualkomponente und dem
Verfolgungswahn deutlich bestätigt.
Größenideen.
Wie wir aus der Krankengeschichte wissen, ist unser Patient
der größte Erfinder der ganzen Welt, der die Schweiz und alle Staaten
erhalten und 6 Millionen Franken für seine Luftschiffe bekommen
werde. Er sei eine wichtige Persönlichkeit und deshalb halte man ihn
hier interniert, er verstehe viel mehr als alle Ärzte, alle Juristen, als
alle Menschen überhaupt. Er werde der berühmteste Schweizer werden,
man werde ihn niemals auf der Erde vergessen. Seine Gedanken haben
großen Wert, deshalb konstruiert man Maschinen, um sie zu erraten.
Sein Samen ist besonders kostbar. Man behalte ihn in der Anstalt,
um ihn sezieren zu können, weilsein Gehirn kolossal Wichtiges beherbergt.
Sein Gehirn wird ihm auch ‚‚ohne Spalt in der Mitte‘ gezeigt. Er sei
stark, kräftig. Er träumt oft von Herkules. In Wirklichkeit ist er sehr
klein und unscheinbar. Einmal kam er sehr aufgeregt ins Untersuchungs-
zimmer und, bevor er sich noch auf den Stuhl setzte, erzählte er in
entrüstetem Ton:
„Dr. M. sagte heute einem Besuche (‚auch ein Arzt wahrscheinlich“
höhnisch), ich leide an einem Kleinheitswahn, ich habe mich schon daheim
zurückgesetzt gefühlt, weil ich so klein war. Es ist aber gerade das Gegen-
teil, weil ich persönlich lieber klein scheinen will, damit die Differenz
zwischen meiner persönlichen, nein, körperlichen Größe und meinen Leistungen
jeder Art in ‚industrieller‘ und ‚sinnlicher‘ Beziehung desto größer ist. Des-
9*
132 Sch. Grebelskaja.
halb schreibe ich auf meine Erfindungen immer ‚K T., Hutmacher und
nicht Hutfabrikant, und wenn ich Korbflicker wäre, würde ich das auch
schreiben, damit die Differenz zwischen mir und den Leistungen noch größer
sei. Trotzdem ich klein war, habe ich von jeher gut geschossen, auch mit
der Armbrust schon als Knabe und nachher als Kadett.“
| Mit dieser Erklärung sagt er selbst, daß er seinen Insuffizienz-
komplex durch seine Erfindungen und Größenideen kompensieren wolle.
Unser Patient beschäftigt sich immer mit Luftschiffzeichnungen,
er will durch die Erfindung bekannt werden, Anhänger bekommen,
die ihn gegen seine Feinde verteidigen werden.
Das Luftschiff dient in dieser Hinsicht als Mittel zum Zweck.
Es spielt aber in anderer Beziehung noch eine wichtige Rolle. — Die
Form des Luftschiffes, die einzelnen Teile sind bei ihm von Wichtigkeit“,
Er sagt:
„Meine Konstruktion ist viel besser als beim Zeppelin, bei letzterem
ist das Rad an der Seite angebracht und man kann es nur durch das
Steuer auf- und abwärts lenken, während bei meinem Schiffe das Rad
mobil ist und durch Drehung desselben in jede Richtung gebracht
werden kann.“
Früher hat er sich lange mit dem Gedanken des Perpetuum
mobile abgegeben, der Phantasie des Impotenten. Nach Analogie
anderer Fälle kann man daran denken, es sei die phallusähnliche Form
des Luftschiffes von Bedeutung. Der Erfinderwahn als solcher stellt
hier eine Kompensation des Insuffizienzkomplexes dar.
„Durch meine Erfindungen will ich zeigen, was ich leisten kann.
Wenn ich meine Luftschiffe fertig haben werde, dann werde ich heiraten
mini Ken das Luftschiff werde ich bekannt werden, man wird mich
ann vom Burghölzli befreien und ich werd '
andere verteidigen können.“ erde much Bogen
Er sieht also in den Luftschiffen seine Befreiung, sowie er seine
nn in der Inkarnation mit D.-A. gesehen hat.
za t Er Luftschiff ein sexuelles Symbol, so erwartet er also wiederum
. ung Fi die Libido. Die Libido sucht sich bei unserem Patienten
2, a. a auszuleben. Erstens „Sublimiert‘‘ er sehr viel; er zeigt
a a wissenschaftliche Fragen, er behandelt das Wesen der
a uzinationen, der Sinneseindrücke: nur ist bei ihm die ‚‚Sublimierung“
als eine mißlungene zu betrachten, d = ie u.
j WER ‚ denn ware es anders, so wäre er
nicht in dieser Weise krank. De ; . KK:
nee: T Zweite Weg seine Libido auszuleben,
f ntasıen, die Inkarnationsideen, die geistige Verbindun
mit Prof. B. und den Ärzten. Diesen Teil sei = i
n teil seiner Sexualität hat er sehr
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 133
stark abgesperrt und er gibt sich immer mehr den Erfindungen hin,
um darin die Erlösung zu suchen.
Der Tod spielt eine große Rolle in seinen Phantasien, er wird
begraben, er sieht seine eigene Leiche. Der Tod ist bekanntlich sehr
innig mit der Sexualität verbunden. Die Stimmen sagen ihm statt
„beerdigt‘‘, „befriedigt“. Aber beerdigt und befriedigt ist für ihn eins
und dasselbe, die Stimmen unterscheiden es gar nicht, sie ar
eines für das andere.
Damit wir seine Todesphantasien besser verstehen können,
möchte ich seine Neologismen anführen, sowie Patient selbst sie er-
klärt habe:
Neologismen.
„Einthumnen‘“ sagen die Stimmen. Dazu bemerkt Patient:
„Den Geist auslösen, mit einer andern Person in Verbindung bringen,
eine andere Person austreiben und an ihre Stelle treten. Das ist ein Wort,
das gar nie existiert. Enthumnen heißt Inkarnation austreiben.‘“
Unter ‚„Inkarnation‘‘, wie wir schon wissen, versteht er die Ver-
bindung mit Dr. Sch., D. und A., dann noch mit sämtlichen Ärzten.
„Inhumnen“ heißt wahrscheinlich, eine Verbindung mit anderen Per-
sonen herstellen, die ihn „kräftigen“.
„Enthumnen heißt vielleicht ausgraben. Es hieß ja mal von den
Stimmen, eine Person sei in mir gestorben und dieses Sterbegefühl hat sich
auf mich bezogen. Man schwäche mich, ich verfaule.
Enthumnen-Ente hat immer Bezug auf Dr. Sch.).
Handlung — wird für Lunge gebraucht, das soll heißen Hand-
Lunge, die Lunge so groß, wie ein Hand, weil sie krank ist.
Na-ase-(Nase) noch s0?), noch immer das Gefühl, wie wenn Polypen
drin wären.
Ungenügende Leistungen werden von den Stimmen als ‚Leisten-
bruch‘ bezeichnet. (Er bezieht es auf seine Impotenz.)
Hoffnung wird von den Stimmen durch Hofmann bezeichnet.
Eine schwangere Frau ist in der Hoffnung.“
Er als Homosexueller, der sich weiblich fühlt, bringt die Hoffnung
mit dem Manne zusammen. Er sagt selbst, die ‚„‚Hallunzisprache“
sei eine „indirekte Erratungssprache“. Er fühlt selbst, wieviel
Bedeutungen seine Worte haben, wie sie mehrfach determiniert sind.
Am Worte ‚inhumieren“ ist folgendes interessant. Im Jahre 1909
hatte er bei einer klinischen Vorstellung noch von ‚inhumieren“
1) Der Name von Dr. Sch. hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Namen
eines andern der Ente verwandten Tieres.
2) Im Dialekte na = noch, ase = so,
134 Sch. Grebelskaja.
gesprochen, seit der Zeit hat das Wort eine Umwandlung durchgemacht
und bedeutet jetzt nicht nur begraben, sondern auch Inkarnation, Ver-
bindung mit Dr. Sch. Sicher ist, daß zuerst der richtige Sinn des Wortes
dem Patienten bewußt war. Bei der Vorstellung sagte ihm Herr Prof, B.:
‚inhumieren“ heißt ja „beerdigen”. Daraufhin antwortete der Patient:
„Ja, ich weiß es schon, aber bei mir hat es halt eine andere Bedeutung,
es ist eine Verbindung mit einer Persönlichkeit.” Ganz ähnliche Vor-
stellungen, daß andere in ihm ‚aufgehen‘ oder begraben werden, finden
sich bei Schreber. Daß oft die Stimmen „degenerieren‘*), wenn die
Krankheit chronisch wird, hebt auch Schreber (Denkwürdigkeiten
eines Nervenkranken) für seine Stimmen hervor.
„Das Gerede der Stimmen war überwiegend ein ödes Phrasen-
oeklingel von eintönigen, in ermüdender Wiederholung wiederkehrenden
Redensarten, die überdies durch Vergessen einzelner Worte und selbst
Silben immerhin das Gepräge grammatikalischer Unvollständigkeit an-
nahmen.“ (S. 162.)
Dasselbe trifft bei unserem Patienten zu. Aus einem noch ver-
ständlichen Worte ‚inhumieren‘ wird jetzt ‚‚inhumnen“ und ent-
humnen.
Die ganze Persönlichkeit des Patienten ist auch etwas verödet.
Sein Wahnsystem ist nicht mehr lebhaft, seine Halluzinationen sperrt
er immer mehr ab. Es scheint, es werde nichts Neues mehr bei ihm
gebildet und das Alte verliert allmählich das Kolorit eines affektiven
Erlebnisses. Es ist noch tätig im Unbewußten, aber nur als Nachklang
einer kräftigen Melodie. |
Somatische Halluzinationen.
„Herzeruptionen — wie wenn das Herz ein Vesuv wäre, und
wie vom Vesuv Rauch und Wolken hinausgeschleudert werden. Ich be-
komme große Beklemmung, wie wenn ein Fluid vom Herzen zum Gehirn
käme. Ich spüre eine Erschütterung vom Herzen bis zum Gehirn, so ein
Knallen in der Brust. Das Fluid kommt wie ein Gas und verbreitet Bich
im Gehirne, dann entsteht ein Kitzelgefühl im Kopfe und so, wie dieses
Gefühl entsteht, ist es ein Zeichen, daß nachher eine Abschwächung eintreten
werde. Nachher entsteht Herzklopfen; Herzeruptionen führ her‘ Ben
einer Abschwächung; sowie nach einer Pollution das übersinnliche Gefühl
entsteht, wirkt es aufs Herz, vom Herzen aufs Gehirn bis in den Kopf hinei
es ıst ähnlich wie bei Herzeruptionen.“ N
Der Kopf spielt beiihm eine große Rolle während der Pollutionen.
Wir haben eben gesehen, daß das Brennen im Kopfe auch auf Pollutionen
!) Vgl. Jung, Psychologie der Dementia praecox.
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 135
zurückzuführen sei, mit dem bringt er cie Herzeruptionen in Ver-
bindung.
„Der Bauch wurde hart, so ein Härtegefühl verspürte ich überhaupt
im ganzen Körper.‘
Das scheint fast an eine Schwangerschaftsphantasie anzuklingen;
undenkbar ist es bei seinen passiv homosexuellen Verbindungsgedanken
(& la Schreber) keineswegs.
„Ich habe das Gefühl, wie wenn alles in mir faul wäre. Alles tut in
mir eindörren, die Därme verfaulen. Ich wollte alles das Herrn Dr. F.
sagen, aber die Stimmen haben mir gedroht, daß ich es niemandem sagen
dürfe, sonst töten sie mich, sinnlich töten oder scheintot machen, damit
ich lebendig begraben werde. Noch in P. (der Anstalt, wo er früher gewesen)
bin ich oft aufgetrieben worden, der Bauch und die Brust waren ganz
diek. Dann hatte ich die Empfindung, ich sei viel kräftiger, und war nicht
zufrieden, wenn es verschwand, es dauerte aber bloß 5 Minuten. Ich hatte
das Gefühl, es sei etwas darin, eine Kraftin der Brust, gleichmäßig. Es kam
so von unten herein, wie wenn eine große Kugel darin wäre, in der Brust.“
Auch bei Schreber treffen wir eine ähnliche Phantasie.
Patient wird elektrisiert, das Blut wird ihm entzogen. Der Samen
wird ihm auch durch die Pollutionen entzogen und so identifiziert
er oft das Blut mit dem Samen. Beides wird ihm von den „‚Inspiratoren“
entzogen. |
„Am Morgen habe ich ein gefühlloses Gefühl vom Knie bis zu der
Zehenspitze; wenn ich in den Gedanken das Bein mir vorstelle und die
Gedanken durch das Bein gehen lasse, dann geht’s wieder herunter.“
Was geht herunter?
„Das Fluid. Das Fluid ist der Stoff, der die Verbindung vom Herzen
zum Gehirn, zum Kopfe bewirkt; bei der Herstellung der Verbindung
entsteht eine Abschwächung im ganzen Organismus und ein gefülloses
Gefühl. Die Lunge wird aufgebläht, nachdem das geschieht, bekomme
ich eine Erleichterung.‘
Die Lunge spielt eine große Rolle beiihm. Sein Vater war lungen-
krank, er klagt auch immer, seine Lunge sei tuberkulös.
„Neuerdings sind naßkalte Betupf-Gefühle an den Körperstellen
aufgetreten und außerdem seit zirka 8 Tagen Blut-Ringgefühle im Kopfe
und hauptsächlich an der Lungenaußenseite, Hals und oberen Beingelenk-
Innenseite bis zum Hoden besonders auffallend fühlbar und oft mit stechen-
dem Brenngefühl verbunden. Ich fühle, wie mein eingefallener Körper,
speziell die Lunge mit dem Brustkorbe sich außerordentlich stark und
plötzlich aufblähen. Vom Nebenzimmer hörte ich dann die Worte: Er hat
keinen Glauben. Wie ich damals glaubte, sagten sie (die Stimmen), in die
136 Sch. Grebelskaja.
Hoden ableiten‘, worauf meine aufgeblähte Lunge wieder einfiel und ein von
der Lunge bis zu den Hoden herunterfahrendes, sprudelndes Gefühl ent-
stand, das mich bedeutend erschreckt hätte, wenn ich nicht noch schreck-
lichere Gefühle respektive Gedankenmarter daheim hätte vorher aus-
stehen müssen. Von der aufgeblähten Lunge wird das Gefühl ın die Hoden
abgeleitet. Dort entsteht ein brennendes Gefühl. Das kommt alles von
Erkältung,“ meint Patient.
Aber Erkältung ruft bei ihm auch Pollutionen hervor, so wie in
der Kindheit das Bettnässen. Pollutionen entstehen auch, wenn er
an „Unnatürliches“ denkt, wenn ihm die Geschlechtsorgane von
Dr. Sch., Prof. B., Dr. J. durch die „Inspiratoren‘ gezeigt werden,
oder wenn er an die Onanie denken muß. Die Ätiologie aller seiner
körperlichen Störungen ist also in letzter Linie auf die ÖOnanie zurück-
zuführen.
Urstoff oder Urseelentheorie.
„Die gleiche Seele war für Tiere, Pflanzen und Menschen. Man muß
sich eine Kugel denken und daran hängen die Menschen, d. h. an der Erde.
Die Verbindung der Seele mit dem Körper ist beim Menschen anders
als bei den Tieren, aber die Seele als solche ist bei allen gleich, man könnte
die Tiere auch verstehen, wenn man sich damit abgeben würde. Urstoff
ist die Seele oder Urseelensphäre, es gibt manche Abstufungen vom Urstoff.
Urstoffist Licht. Urseele sind die feinsten Schwingungen. Kein Mensch
hat eine Seele für sich, sondern nur einen Anteil an der Weltseele;
ich habe einen ganz andern besonderen Teil, überhaupt jeder der hallu-
ziniert. Die Schwingungen des Urstoffes sind bei mir viel feiner als bei allen
anderen Leuten. Ich bin verbunden bis in alle Schwingungen
zurück mit allen Seelen, die jemals lebten.“
Er fühlt in dieser Idee sich selbst als einen Teil dieses Kosmos,
er fühlt die Verbindung mit Seelen, die vor Jahrtausenden in der Welt
existiert haben.
„Ich war in sinnlicher Verbindung mit meinem Vater, bevor ich noch
geboren war, ich lebte eigentlich im Vater.“
Er nahm also teil an seiner eigenen Zeugung, durch die Identi-
fikation der eigenen Persönlichkeit mit derjenigen des Vaters!). Das
erinnert wiederum an die Verbindung Schrebers mit den gereinigten
Deelen durch Gottesstrahlen. Gott ist bei Schreber dieselbe Person
wie hei unserem Patienten der Vater.
„Rückstände der Elternseele sin i
die die Verbindung mit der Sg Feen een
‘) Anmerkung der Redaktion: Diese Phantasie ist die Quintessenz des
Heldenmythus. Vgl. Jahrbuch, Bd. IV, H. 1: W
Libido, II. Teil. andlungen und Symbole der
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 137
sinnlichem Wege von den Gedanken der Mutter oder des Vaters auf das
Gehirn des Kindes, nein, von den Hypnotiseuren, den Ärzten geht die Über-
tragung der Weltsseele hervor. Die Seele ist gar nichts anderes als
ein ungeheuer feines Lieht. Durch die Schwingungen, die beiden
Verbindungen, entstehen dann die Sinne, die Wahrnehmung. Zuerst kommen
natürlich unbewußte Gefühle, die man nicht fühlen kann, weil sie zu fein
sind, und doch sind sie da.“
Zusammenfassung.
Wollen wir nun den ganzen Krankheitsverlauf psychologisch
zusammenfassen, die bestimmenden Momente seiner kranken Psyche
hervorheben, so sind vor allem, diejenigen psychischen Vorgänge bei
ihm, die ihn in die Krankheit getrieben haben, zu erwähnen: Schon
in der Kindheit weist er einen abnormen Mangel an Eigenschaften
auf, die sonst sein Geschlecht immer auszeichnen. Unter seinen
Kameraden ist er der Schwächste, man verhöhnt ihn, setzt ihn zurück,
er bleibt stets allein; der Mangel an Männlichkeit (die schon beim
Knaben als Rauflust auftritt), eine Schranke zwischen ihm und seinen
Kameraden bildend, läßt ihn schon in den Kinderjahren empfinden,
daß es ihm an etwas fehlt, was andere besitzen. Dazu kommt noch seine
ausgeprägte, wennauchnoch unbewußtgebliebene,homosexuelle Neigung,
und zwar im passiven Sinne, die schon in den Kinderjahren hervortritt.
Alle diese psychischen Eigenschaften kommen im weiteren Verlauf
des Lebens mit der allgemeinen Geistesentwicklung immer schärfer
zum Ausdruck. Er bleibt, selbständig geworden, immer allein, wandert
unruhig von Ort zu Ort, sucht Anschluß an Gesellschaft, findet ihn aber
nicht, seine passiven homosexuellen Neigungen lassen ihn schließlich
zum Vater zurückkehren. Sie bleiben bei ihm zwar unterdrückt, in
den Tiefen des Unbewußten, verhindern jedoch eine normale ‚„Real-
übertragung‘ seiner Libido!).
Wir können vermuten, daß das Problem ‚männlich zu werden“
ihn seit den Jahren der Reife fortwährend quält; um das zu erlernen,
was ihm fehlt und gerade seinen Kameraden D. auszeichnet (Stärke,
Tapferkeit), sucht er sich ihm anzunähern, vermag aber natürlich wegen
seiner vollkommenen Passivität nicht, es zu erreichen. Er glaubt zuletzt
ein Mittel gefunden zu haben, Mann zu werden, in der Betätigung
als Schütze, die in der Geschichte seines Landes eine ganz besondere
Bedeutung hat und hier nicht selten zu solchen Zwecken dient.
1) Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, I. Teil.
138 Sch. Grebelskaja.
Er erreicht zuletzt eine gewisse Vollkommenheit als Schütze.
Die Lorbeerkränze kompensierten wohltätig seine Minderwertigkeits-
gefühle, sie mögen sie eine Zeitlang beschwichtigt haben, ohne den
Konflikt völlig zu heben. Nun ereignet sich der Fail, der alle seine
Bemühungen zu nichts machte, der ihn die Unlösbarkeit des Problems
‚Mann wie alle zu werden“ aufdringlich lehrte. Er wurde schmählich
geprügelt, er benahm sich dabei wie ein Kind. Von da beginnen seine
Wahnvorstellungen vom allgemeinen Gelächter, das sich über seine
Niederlage erhebt und das ihn als den Gegenstand allgemeinen Spottes
erscheinen läßt.
Die konsequent sich entwickelnden Vorstellungen, man wolle
ihn totschlagen, vernichten, führen dazu, daß er sich von der Außenwelt
zurückzieht und von den Menschen, die ihm alle feind sind; er geht
in seine Innenwelt zurück und sucht das Langverborgene, Unterdrückte
als Genugtuung in sich auf. Die früher unterdrückten Gefühle be-
kommen nun freien Lauf — er flieht in die Krankheit — in seinen
Wahn, der ihm als Kompensation für den Mangel an Realübertragung,
eine innere Übertragung (Introversion und Regression) auf die
Vaterimago ermöglicht. Der Mechanismus der Projektion seiner Gefühle
ist in der Krankheit sehr charakteristisch. Wir finden bei ihm denselben
Mechanismus der Verdrängung und Verschiebung des Vaterkomplexes,
wie sie Jung darstellt: ‚der unterdrückte Affekt kommt an die Ober-
fläche, und zwar selten direkt, sondern gewöhnlich in der Form einer
Verschiebung auf ein anderes Objekt“ (Jung, Wandlungen und Sym-
bole der Libido, Jahrbuch für Psychoanalyse, III, S. 179). Wir finden
diese Verschiebung beim Patienten darin, daß er den Vater durch die
kritischen Beziehungen zu Dr. Sch. und Prof. B. ersetzt hat.
Haß gegen den mit allen dem Patienten fehlenden Eigenschaften
begabten Mann (D.); den er bewundert und beneidet, ist ein besonders
deutliches Beispiel für Ambivalenz (Liebe und Haß). Das Moment der
a I oe Empfindungen des Patienten tritt
HÖRT A Ru iD en. bereits hervorgehoben, daß seine
Zr U ‚End a 2 jeden ambivalent sind. Der Vater,
BE t, der seine höchste Autorität bleibt, ver-
wandelt sich in der Krankheit in Dr. Sch. und Prof. B., die er mit ihm
identifiziert. Diese Persönlichkeiten sind aber auch Din! Verfolger
die er bewußt haßt. Bemerkenswert ist, daß dieser Haß mit erotischen
Gefühlen vermischt ist, wie Patient auch A ra) a
Personen, die in ihn eye zug] A sg N daB diese
z sen, zugleich ihn stärken, ihm neue Kraft
Psychologische Analyse eines Paranoiden. 139
und Macht verleihen, anderseits wieder schwächen, quälen, ausnutzen.
D. ist derjenige, der ihn vernichtet hat, er muß ihn nun auch stärken.
Das, was vernichtet, kann auch zugleich stärken; dieser Ge-
danke ist wohl so alt wie die Menschheit. ‚In mir ist D. und A. tätig,”
sagt der Patient; genau so, wie böse oder gute Geister im Menschen
nach alter Vorstellung tätig sein können. Diese verschiedenen Wir-
kungen schreibt er auch den ‚sinnlichen‘ Gestalten seines Vaters,
dem Dr. Sch. und Prof. B., zu. Der Vater schwächt oder stärkt ıhn,
sibt ihm Kraft oder vernichtet ihn, ein deutlicher Hinweis auf die
nahen Beziehungen gewisser religiöser Vorstellungen zu der „magischen“
Bedeutung der Vaterimago.
Der Mechanismus der Größenwahnbildung ist wiederum für seine
unbewußten psychischen Vorgänge sehr typisch. Sein Denken drehte
sich schon in der Zeit seiner Gesundheit um die Vorstellung seiner
Minderwertigkeit. Diese Vorstellung lebt in der Krankheit verdrängt
fort, sie äußert sich nicht mehr bewußt im fortlebenden Bestreben, sein
Ideal zu erreichen. Wir sehen ihn im Wahne, er sei der größte Schweizer,
der Erfinder, der stärkste und kräftigste Mensch (Herkules). Er baut
mächtige Luftschiffe, und wird es ihm gelingen ein vollkommen sich
nach allen Seiten bewegendes Luftschiff zu bauen) so ist er gerettet.
An mehreren Stellen sind wir Phantasiegebilden begegnet, auf
welche die von Jung in die Schizophrenielehre eingeführte historisch-
mythologische Betrachtungsweise angewendet werden könnte.
ich erwähne die Urseslentheorie, die an zum Teil noch moderne,
zum Teil aber auch sehr alte philosophische Ansichten erinnert. Die
Lichtsubstanz der Seele ist ein weiterer Punkt, der ebenfalls
antike Anschauung war. Die Praeexistenz des Patienten im
Vater ist sogar eine gangbare christliche Anschauung, besonders
deutlich im Johannesevangelium ausgesprochen. Das Eintreten
der magisch wirksamen Persönlichkeiten in den eigenen
Körper ist eine Grundanschauung der antiken Mysterien. Die dabei
stattfindende Aufblähung der Lungen weist auf die Licht- oder
Pneumanatur des Eintretenden hin, ebenfalls eine antike mystische
Anschauung. Die Anschauung, daß der Phallus ein Ersatz ist für die
ganze Persönlichkeit ist ebenfalls antik, der Phallus ist ein Bild der
Gottheitt).
Gehen wir nun zur Betrachtung der inneren Mechanismen des
Vaterkomplexes. über: Er überträgt bekanntlich seinen Vaterkomplex
!) Vgl. zu dem Obigen: Jung, Wandlungen und Symbole der Libido.
140 Sch. Grebelskaja.
auf Dr. Sch. und Prof. B. Der ‚‚Vater“ (Dr. Sch., Prof. B.) seine Ver-
folger) ist es, der ihn leiden läßt, auf alle mögliche Art quält. Patient
verfährt nun nach der von Freud aufgestellten Formel: Er haßt den
Vater, ergo haßt ihn der Vater, d. h. der Vater verursacht seine Leiden.
Die Ärzte, Dr. Sch., Prof. B., beabsichtigen, ihn zu sezieren, seinem
Körper alle möglichen Qualen zu bereiten, und sie tun das, um ihre
selbstsüchtigen Zwecke zu erreichen, denn sein Wesen, sein Gehirn
besonders, ist für die Welt wichtig. Die Grundlage dieser Psychose
besteht aus dem Vaterkomplex. Vom Mutterkomplex konnte nichts
in Erfahrung gebracht werden, trotzdem auch infantil eine Mutter-
übertragung vorhanden gewesen sein muß. Es kann bei dieser Sach-
lage wohl nicht anders sein, als daß die Libidobesetzung der Mutter
schon sehr frühzeitig und ausgiebig auf den Vater verschoben wurde,
wodurch dessen Überbesetzung und pathologische Bedeutung erklär-
lich wird.
Zum Schluß erlaube ich mir Herrn Prof. Dr. E. Bleuler für das
meiner Arbeit gütigst entgegengebrachte Interesse sowie Herrn Dr. Jung
für das Durchsehen meiner Arbeit meinen besten Dank auszusprechen.
Spermatozoenträume.
Von Herbert Silberer (Wien).
Kürzlich hatte ich als Traumdeuter ein Erlebnis, das nicht allein
wegen der psychologischen Merkwürdigkeit des analysierten Falles,
sondern auch ob des seltsamen glücklichen Zusammentreffens, das
mich auf den ersten Blick erraten ließ, was sonst vielleicht einer müh-
seligen Analyse bedurft hätte, aufgezeichnet zu werden verdient. Der
Fall ist um so beachtenswerter, als er mir mit schlagender Evidenz
die Richtigkeit einer neuartigen Beobachtung bewies, die, der allgemeinen
Beurteilung preisgegeben, vielleicht mehrenteils ungläubig aufgenommen
werden wird.
Er handelt sich um Spermatozoenträume oder, um gleich von
dem extremen Fall zu reden: um den Vaterleibstraum. Am 6. Ja-
nuar 1912 (das Datum ist, wie man später sehen wird, nicht gleichgültig)
machte mir Dr. Wilhelm Stekel die überraschende Mitteilung, daß
es ihm gelungen sei, den Traum eines Patienten in einwandfreier, be-
weiskräftiger Art als ‚„Vaterleibsphantasie‘“ aufzudecken. Bekanntlich
spielen in den Träumen die „Mutterleibsphantasien‘ eine große Rolle;
Phantasien, bei denen sich der Träumer in den Mutterleib zurück-
denkt. Diese Phantasien sind nicht bloß deshalb interessant, weil sie
die denkbar weitgehendste Durchführung einer sexuellen Annäherung.
(vollständiges Hineinbegeben) an das Weib überhaupt und die Mutter
insbesondere darstellen, sondern auch darum, weil sie den Gedanken
nahelegen, daß dabei vielleicht Erinnerungen an das fötale Leben
im Spiele sind. Was nun die Vaterleibsphantasien?) betrifft, so können
sie in der letzteren wichtigen Beziehung natürlich kein Pendant zu den
Mutterleibsphantasien bilden; denn man kann gewiß nicht annehmen,
!) Ich gebrauche den Plural als generelle Bezeichnung, wenngleich die
Mehrzahl der Beispiele sich erst wird einstellen müssen,
142 Herbert Silberer.
daß Eindrücke des Spermatozoendaseins zu einer psychischen Wirkung
solcherart gelangen; Erinnerungsphantasien sind die Vaterleibs-
phantasien also nicht. Wohl aber steht ihrem Auftreten als Wunsch-
phantasien nichts im Wege; und als solche können sie in mehrfacher
Beziehung zu den Mutterleibsphantasien in Parallele gestellt werden.
So können z. B. beide als exzessiver Ausdruck der Rückkehr ins In-
fantile angesehen werden; als Rückgängigmachen des Lebens und
somit als Todesphantasien; als innigste sexuelle Annäherung an die
Mutter beziehungsweise den Vater oder, allgemein gesprochen, an
Weib oder Mann.
Der Traum, den Dr. Stekel mir erzählte, war dadurch aus-
gezeichnet, daß in einer Art von Strom zahlreiche kleine Menschen,
Männer und Weiber, dahinglitten; schließlich sah der Träumer auch
sich selbst unter diesen dahintreibenden Menschen. Das Ganze war
bildmäßig gesehen. Dr. Stekel kam auf die Idee, daß die kleinen
Menschlein in dem Strom als Spermatozoen im Samenstrom zu deuten
seien, und die Analyse bestätigte durch einen unerwarteten Deter-
minationszweig diese Vermutung. Da der Träumer sich selbst unter
die Spermatozoen in die Samenflüssigkeit versetzt, träumt er sich
in den Vaterleib; er hat (aus welchen Wunschursachen, das ist uns
hier gleichgültig) eine Vaterleibsphantasie. Dr. Stekel machte
mich bei Besprechung eines andern, ähnlichen Traumes!) auch auf
die Übereinstimmung aufmerksam, welche zwischen der Traumauf-
fassung und manchen Vorstellungen primitiver Zeitalter von der Be-
schaffenheit des Samens besteht. Beide Auffassungen denken sich
nämlich den Samen von kleinen Menschlein (in ausgeprägter mensch-
a Gestalt) bevölkert, die später im Mutterleib zur Entwicklung
Kann nee ie Yen an, im Tom Ju
mitiveren NER HE a RE 293 gero Geist einer früheren, pri-
periode entspricht; sie kommt zur Geltung ent-
‘) Dieser Traum wurde von dem gerade an i
mitgeteilt, der von der Traumsituation 2 sehr a mac
hatte, Es handelte sich dabei um ein Menschlein, das an einem N ala
(erigierten Penis) emporkletterte und den Träumer an einen Tö fer hr rte
Dr. Stekel löste das Rätsel dieses Töpfers, indem er ihn (durch Ki per: „be |
unterstützt) als Spermatozoon agnoszierte, Der „Löpfer‘‘ Brei hi % hr
gut, denn der Töpfer formt und gestaltet den rohen Ton, und das be are
Spermatozoon ist die Ursache eines ähnlichen Prozess a
Plastik. Man behalte die Töpfersymbolik im A
später genannten Brotteigsymbolik.
es am Keimplasma; Plasma-
uge und vergleiche sie mit der
Spermatozoenträume. 143
weder als etwas von jenen früheren Zeiten her Anhaftendes oder aber,
in aktueller Entstehung, deshalb, weil sich die schlafende (apperzeptiv
geschwächte) Psyche den Naturproblemen gegenüber in die gleiche
relativ unbeholfene Lage versetzt sieht wie die wache Psyche des
primitiven Menschen: ähnliche Entstehungsbedingungen geben dann
ähnliche Resultate. | |
Man hat bei der Beurteilung der Träume stets mit dem Herein-
ragen von Elementen aus primitiven Zeiten zu rechnen; ja, die ganze
Einrichtung des Träumers muß, worauf hinzuweisen übrigens Freud
nicht vergessen hat, unter entsprechenden Gesichtspunkten betrachtet
werden, wenn man ihr von Grund aus beikommen will.
Auf die Spermatozoenträume zurückkommend, muß ich noch
anführen, daß ein gemeinsames Merkmal der zwei mir bei Dr. Stekel
bekanntgewordenen Träume darin bestand, daß eine Andeutung an
Schmieriges oder Klebriges ‚(Beschaffenheit der Samenflüssigkeit)
vorkam!).
Am Tage nach der Besprechung mit Dr. Stekel erzählte mir eine
Dame, die ich Fräulein Agathe nenne, einen Traum. Ich habe schon
viele Träume der Dame analysiert und bin infolgedessen in ihrer Symbol-
sprache und in ihren Komplexen ziemlich bewandert. Die Erzählung
lautete wie folst. |
Traum?) vom 6. Januar 1912: ‚Ich war auf einer Eisenbahnfahrt;
oder eigentlich so: ich bin auf einem Schneefeld gestanden, auf halb-
geschmolzenem Schnee; ringsum Winterlandschaft. Ein schmaler,
schlangenartig verlaufender Eisweg führt in ein fremdes Land,
dessen Namen ich im Traum wußte und mir dabei vornahm, ihn mir
recht gut zu merken (ich habe ihn aber vergessen). Ich stehe neben dem
Weg und schaue zu, wie von Zeit zu Zeit Leute auf dem harten Eis
wie mit Ski hinuntersausen; ich denke mir, das ist ein neuer Sport;
eigentlich sind es kleine längliche Kähne, in denen ein Mann steht.
Das ganze Bild ist wie ein bloßes Gemälde (spätere Angabe: wie
Stiche) und die Männer in den Kähnen sind sehr dünn und
zart gezeichnet. Wo ich stehe, ist eine große Biegung. Zwei Ein-
jährig-Freiwillige kommen denselben Weg (den Eisweg) zu Fuß her-
1) In dem in voriger Anmerkung erwähnten Fall war das natürlich der
Töpferton.
2) Die Parenthesen in runden Klammern stammen von Agathe selbst,
die in eckigen Klammern von mir.
144 Herbert Silberer.
unter. Bei der Biegung weichen sie einem Kahne, der gerade herunter-
saust, aus, indem sie aus der Bahn heraus und auf so eine Stelle
treten, wie die, wo ich stehe. Wie der Kahn vorbei ist, sehe ich
nur einen Soldaten, in licht graublauem Mantel. Ich möchte un-
endlich gern den Weg, der in das fremde Land führt, gehen,
doch aus einem unbestimmten Grund kann ich es nicht. Ich be-
finde mich nun auf einer Eisenbahn — es war nämlich so, als ob ich
schon früher in der Eisenbahn gewesen und vorhin bloß ausgestiegen
gewesen wäre, um zuzuschauen. (Die Eisenbahn geht in der gleichen
Richtung wie der Eisweg.) Ich stehe draußen!), beim offenen Fenster
und passe auf, wann wir ankommen. Die Kähne sieht man immer-
während den Weg hinuntersausen. Der Zug kommt nachts in einem
dunklen Bahnhof an. (Dabei verspüre ich eine Erleichterung und eine
Spannung; ob das auch der richtige Bahnhof ist.) Ich kann den Namen
des Ortes nicht entziffern, trotz meiner Bemühung. Es erscheint mir
aber sehr wichtig, den Namen zu erfahren. Ich habe einen Kahn in
der Hand und soll ihn am richtigen Ort den anderen (Kähnen) nach
hinunterschicken. Wie der Zug hinausfährt, sehe ich wieder den Eis-
weg, und traurig sende ich meinen leeren Kahn aus dem
Coupefenster hinunter. In dem Moment bemerke ich, daß es gar
kein Kahn, sondern ein Trog ist. Ich hoffe, bald in dem fremden Land
anzukommen, indem der Zug mit mir weitersaust, und da erwache ich.“
Als Agathe mir die mündliche Darstellung dieses Traumes gab,
war ich bei der Schilderung der ersten Szene verblüfft: dies gemälde-
artig gesehene Bild — ist das nicht ein leibhaftiger Spermatozoen-
traum, von der Laune des Zufalls mir zur Bestätigung der gestern
gehörten Beobachtungen geschickt?! Die dünnen, zarten Gestalten,
die auf glitschiger Fährte hinabschießen, in ein verlockendes ‚‚fremdes
Land” — sind das nicht prächtige Spermatozoen? Der schmelzende
ee
as nicht ein treffender
Ersatz ‚der menschlichen Samenflüssigkeit? Und daß sich Agathe
selbst in dem Schnee befand und in das ‚fremde Land“ hinein-
zubewegen im Begriffe war — läßt das nicht sar eine Vater-
leibsphantasie vermuten? Ich beschloß indes mich durch die ver-
blüffende Übereinstimmung nicht irremachen zu lassen und jede
Voreingenommenheit abzulegen. Den Traum weiter erzählen hörend,
') D. h. nämlich im Korridor des Waggons.
Spermatozoenträume. 145
zog ich meine Vermutungen vom Spermatozoenthema ab und ver-
folgte aufmerksam die Entwicklung der Dinge. Ich war im Begrifi,
meine anfängliche Entdeckung zu verleugnen und als eine bloße
Folge meiner Verblüffung über einen launigen Zufall zu betrachten,
als ich bei dem „leeren Kahn“, den Agathe ‚,traurig‘“ hinabsendet,
wieder stutzig wurde. Vor allem deshalb, weil mir sofort klar wurde,
daß es sich hier um ein Beklagen der Sterilität (unten begründet)
handelte. Der Situation lag also wahrscheinlich ein Gedanke zugrunde,
der sich auf das Thema ‚‚Zeugung‘“ bezog. Näher über das Traurigsein
befragt, gab Agathe an, daß eigentlich sie selbst in so einem Kahn
ins fremde Land hätte fahren sollen. Und sie sei traurig gewesen, daß
sie das nicht konnte. Das stimmte wieder einigermaßen zur Spermato-
zoen-, ja sogar zur Vaterleibsidee; nur fehlte mir jenes Moment, welches
hätte andeuten müssen, daß der Inhalt auch dieses Kahns ein unent-
wickelter Mensch sein sollte; die Gestalten in den übrigen Kähnen waren,
wie Agathe ausführte, ganz dünn und lang; man konnte also in ihnen
recht gut Bilder von Spermatozoen erblicken. Ich weiß, daß Agathe
einige Wochen vorher in einem wissenschaftlichen Werk Abbildungen
von Spermatozoen gesehen hat; sie selbst konnte sich (wie ich nach
vollendeter Traumanalyse konstatierte) dessen nicht erinnern.
Bei der Durchbesprechung des Traumes lieferte Agathe noch
folgende Ergänzungen. Der Eisweg führt von rechts oben nach links
unten, zeitweise in Schlangenwindungen, in das fremde Land. Der
Name dieses Landes habe sehr poetisch und wie japanisch geklungen;
er werde ihr wahrscheinlich wieder einfallen. Sie habe sich gewundert,
wieso die Skiläufer auf dem harten Eis fahren. Der Weg führte weit
in die Ferne, die Eisenbahn parallel zur Straße, wie nach Triest. Das
fremde Land war in Dunkel gehüllt. Auch, wo die Fahrer herkamen,
war undeutlich. Als Agathe ihren Kahn, der eigentlich ein Trog war,
aus dem Coupöfenster ließ, war sie traurig darüber, daß sie einen
leeren Kahn hatte. Es war ein Trog, wie einer, in dem man Kinder
badet.
Dieses neue Material warf bedeutende Lichtstrahlen aufso manchen
Teil des Traumes. Nach Triest ist Agathe mit einem Mann gefahren,
dem sie sich hingab und der sie im der Folge auch schwängerte. Das
Fahren nach Triest scheint auch wieder darauf zu weisen, daß der Traum
die Idee des sexuellen Verkehrs sowie der Schwängerung enthält.
Beides wird seine Bestätigung finden. Die Richtung des Weges von
rechts nach links kommt damit überein, daß Agathe sich wegen der
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen, IV. 10
146 Herbert Silberer.
Beziehungen zu jenem Manne jetzt Vorwürfe macht; man kennt ja
scit Stekels diesbezüglichen Ausführungen die Symbolik von rechts
und links. Eine Folge des sexuellen Verkehrs war aber nicht bloß
die Schwangerschaft, sondern im weiteren Verlauf der Dinge ein Abortus
und eine später notwendige Operation, die dıe Patientin unfruchtbar
machte (Entfernung eines Ovariums und beider Tuben). Daher — ich
behielt diese Deutung zunächst für mich — der leere Kahn, den
Asathe traurig hinabsendet; sie kann in den Trog kein Kind legen,
denn sie ist unfruchtbar.
Um mir mehr Klarheit zu verschaffen, ersuchte ich Agathe,
mir Näheres über den Trog und seinen häuslichen Gebrauch zu sagen.
Asgathe wiederholte zunächst, daß man in so einem Trog bei ihr zu
Hause die kleinen Kinder gebadet habe; ein solcher Trog gehöre auch
zum Waschen der Wäsche und zum Backen des Brotes. Eine eingehendere
Schilderung dieser Tätigkeiten ergibt, daß sie alle mit einer weißlichen,
schaumigen (Seifenschaum) oder teigigen (Brotteig) Masse zu schaffen
haben, die dem Aussehen und der Konsistenz nach dem schmelzenden
Schnee der Traumlandschaft gleicht. In diesem habe ich bereits Sperma
vermutet. Sehen wir zu, ob sich weitere Anhaltspunkte finden lassen.
Wenn sich Wasser und Kind im Trog befinden, so ist der Trog wohl
der Uterus. Das Badewasser, welches das Kind umgibt, ist dann na-
türlich das Fruchtwasser. Ich frage Agathe, was die Kähne und der
Trog wohl meinen könnten? Sie antwortet, die länglichen Kähne wären
Penissymbole, der Trog wäre wahrscheinlich das weibliche Gegenstück.
Nun fällt mir auf, daß dem Uterus oder Trog nicht bloß Schaum, Wasser
und Kind, sondern auch Brotteig zugemutet wird. Was ist’s mit dem
Brot? Aufeine Frage fängt Agathe unaufgefordert an, mir umständlich
die Entstehung des Brotes zu schildern; wie essich aus dem anfänglich
rohen Teig entwickelt, ‚aufgeht‘, geformt wird, usw.: kurzum, es liegt
Pens Entwieklungsgedanke darin; so wie aus dem Teig mit dem Ferment
das Brot wird, so bildet sich (auch infolge einer Fermentierung =
Befruchtung, wobei Sperma = Ferment) im Mutterleib das Kind.
Agathe bemerkt noch: man vergleicht ja oft das Brot einem Kinde;
5 ht auch dsihe Form (ds ngiche Bet) und man ag man
Die dewibher der re nz 2 De
fest, und da Agathe im Traum ie zZ en ie a
GB uber traurig gewesen ist, daß sie
einen leeren Trog habe, konnte ich für erwiesen h ü
dieser Empfindung eine Trauer über die U 2 ee s BAER?
nfruchtbarkeit zugrunde
Spermatozoenträume. | 147
liegen. Ich fragte nun Agathe: ‚„‚Warum waren sie eigentlich traurig,
als sie den leeren Trog hinabsandten? Wer hätte denn darin sein sollen ?“
(Ich hoffte, Agathe werde nun irgendwie zu verstehen geben: ein
Kind; ich hielt nämlich unrichtigerweise die früher getane Angabe,
sie selbst hätte im Kahn sein sollen, für einen rationalisierenden,
die Trauer im Traum erklären sollenden Ersatz dieses Gedankens;
ich konnte noch immer nicht daran glauben, daß wenigstens ein Zweig
der Assoziationen auf eine Vaterleibsphantasie führen könne, und eine
solche kommt ja heraus, wenn sich Agathe in den Samenstrom unter
die Spermatozoen versetzt, als welche, wie wir noch sehen werden,
die dünnen Leute im Traum aufzufassen sind.) Agathe antwortete
wieder: „Ich selbst hätte darin sein sollen.“ Dann fügte sie
hinzu: „Vielleicht hätteich auch jemand statt meiner hinein-
tun sollen.‘ Nach einigen Augenblicken des Zögerns sagt sie dann:
„ich muß Ihnen noch erzählen, daß ich gestern abend
darüber nachdachte, wie schade es doch sei, daß ich von
Paul kein Kind bekommen kann; ich hätte gern ein Kind
von ihm; es müßte ein reizendes Kind sein. Ich habe mir
sogar schon gedacht, Paul sollte, wenn er, der jetzt keine
Kinder haben will, diese Meinung einmal ablest, mitirgend
einem Weib ein Kind zeugen und mir es dann geben.“ Aber-
mals fand sich also ein wichtiger Punkt meiner Vermutungen bestätigt.
Die weitere Analyse, welche sich um die in den Kähnen fahrenden
Leute drehte, förderte eine neue Bestimmung zutage. Agathe äußerte
nämlich plötzlich: „Habe ich nicht schon vorhin erwähnt,
daß diese dünnen Leute so aussahen, wie wenn Sie aus
etwas gemacht wären, das zerginge, sobald manesanrührte®‘
Unter den Leitgedanken der Entwicklung, Befruchtung usw., die sich
in den übrigen Traumteilen, besonders aber im Pendant zu den Kähnen —
dem Trog — äußerten, konnte die Auffassung der dünnen Menschen
als Schemen, als Keime zu künftigen Menschen u. dgl. nicht ausbleiben.
Die Leute in den Kähnen sind also wirklich Spermatozoen, na-
türlich in naiver Auffassung. Agathe teilt mir übrigens mit, daß sie
meinte, die menschliche Form trete schemenhaftt) gleich nach der
Befruchtung im Keim auf.
Der Eisweg hat Schlangengestalt. Die Schlange ist, wie
1) Hierauf dürfte sich auch die Nuance der Traumerzählung beziehen,
daß die gesehene Szene ein bloßes Gemälde war. „Stiche“ (wie es in der
zweiten Version der Traumdarstellung heißt) deutet wieder auf Koitus.
10*
148 Herbert Silberer.
Agathe angibt, ein Symbol des Penis und des Lebens. Der
Eisweg ist hart; Agathe wundert sich im Traum, daß die Skiläufer
dort fahren. Harte Schlange = Erektion. Sie meint im Traum, dieses
Fahren sei ein neuer Sport. In der Tat war dieser „Verkehr“ (nämlich
der sexuelle) für sie etwas Neues auf dem Weg nach Triest. Daß ge-
wissermaßen rhythmisch „von Zeit zu Zeit“ ein Fahrer auf dem
Schlangenweg dahersaust (ins schöne, dunkle fremde Land hinein),
scheint auf die rhythmischen Bewegungen beim Geschlechtsverkehr
hinzudeuten.
Wer sind die Einjährig-Freiwilligen? Ihre Bekleidung
weist durch Gleichklang auf den Namen Pauls, der keine Kinder haben
will und im Traum deshalb ausweicht (aus der Eisbahn tritt), wenn
die Fahrer (Spermatozoen) daherkommen (coitus interruptus),
und einen Mantel anhat (Condom); außerdem glaubte auch
Agathe den einen Einjährigen mit Paul identifizieren zu sollen. Daß
zuerst zwei Einjährige waren, scheint teilweise durch die Determination:
Hoden bestimmt zu sein. Zu ‚„Einjähriger“ ist noch zu bemerken:
Agathe kennt Paul ein Jahr lang.
Der Soldat im grauen Mantel hat aber noch eine andere sehr
wichtige Bedeutung. Er erinnert Agathe (außer an Paul) auch an
einen Herrn F., den sie den ‚Tod‘ zu nennen pflegte. Der Soldat im
grauen Mantel ist der Tod, der nur einen Schritt von Agathens Wege
dastand, als sie im Gefolge der Triester Erlebnisse operiert wurde.
Sie schaute damals dem Tod ins Antlitz. Der Soldat im Mantel stellt
sich (wie Agathe nachträglich angibt) im Traum ihr gegenüber auf.
Bei der Operation wurde Agathen ein Ovarium entfernt, das andere
belassen. Daher das Verschwinden des einen Soldaten; daß der zweite
die Rolle des drohenden Todes übernimmt, hat auch eine dem Krank-
heitsverlauf entsprechende Bedeutung.
Was soll aber der Tod in diesem Traum? Welche aktuelle Regung
mobilisiert die düstere Gestalt? Hier sitzt vielleicht der tiefste Gedanke
des Traumes: Agathe will ihr Leben rückgängig machen.
(Ein mir aus ihren Analysen bereits wohlbekanntes Thema.) Und
sie gebraucht im vorliegenden Traum drei Hauptsymbole, um das
auszumalen: 1. sie will ein fernes, fremdes Land!) RE Hin weil es
z ur Märchenland, wo alles sich so verhält, wie wir es wünschen. Der
an z Er des Landes „klingt japanisch“ — das hängt mit Agathens
warmerei für Japan zusammen. Für sie ist J apan das Märchenreich. Jeder
Spermatozoenträume. 149
sie in ihrer Haut nicht leidet; 2. sie ruft den Tod zu Hilfe, der
sie von dem Lebensweg (Eisweg) gleichsam abdrängt (sich ihr gegen-
überstellt); 3. endlich stellt sie sich vor, sie sei überhaupt nicht
gezeugt worden und vermeide es, als Spermatozoon in den Eisweg
des Samenstroms zu geraten, der in das dunkle Land (Leib der
Mutter) hineinfließt.
Betrachten wir die dritte Phantasie etwas genauer. Sowohl das
Ziel der Skiläufer (Triest, Land der Befruchtung) als ihre Herkunft
(Vaterleib) ist dunkel. Hier verliert sich eben die Phantasie ins Un-
gewisse; es fehlen die bestimmten Vorstellungen; auch die Zukunft,
das Leben, ist ungewiß, solange man im Keimstadium sich befindet.
Es ist undeutlich, ungewiß, woher die Lebensschlange kommt und
wohin sie geht. Darum ist es besser, man betritt sie (d. h. den Lebens-
weg) gar nicht. Wir haben hier die Todeskomponente der Vaterleibs-
phantasie klar vor uns. Agathe will den Penis nicht passieren, wie
die anderen Spermatozoen, um nicht konzipiert zu werden. Daß die Er-
füllung dieses Wunsches im Traum als eine unerwünschte Verhinderung
erscheint, hat in psychischen Konflikten Agathensseinen guten Grund,
einer Mechanik, auf die ich nicht eingehen kann, ohne sehr weitschweifig
zu werden. Der Wunsch, nicht ins Land der Befruchtung zu kommen,
macht sich aber ganz deutlich in der gespannten Stimmung (gemischte
Gefühle) beim Einfahren des Zuges in die Station geltend. Das Ein-
fahren des Zuges drückt natürlich wieder den Koitus aus; die Angst
des Verpassens des richtigen Ortes (eigentlich der richtigen Zeit) hat
vielleicht mit dem coitus interruptus zu tun. Eintreffen des Samen-
stroms, „es kommt‘ der Orgasmus, Angst, den richtigen Augenblick
zu verpassen, mögliche Konzeption usw.
Nachträglich üel Agathen auch der Name des ‚‚fremden
Landes“ ein; es hieß Chiuka. Dieses Wort gehört keiner Agathen
bekannten Sprachet) an; es erinnert sie bloß an eine ähnlich klingende
Stelle in einem Wiegenlied (eine Art eia-popeia). Also wieder eine
Mensch hat irgend so ein Wunschland, in das er sich gerne versetzt sehen möchte.
Bei manchen ist es das Wunderland Indien, bei anderen das Land Amerika, wo
alles möglich ist, bei einem andern das Hochgebirge usf. Ebenso ist psychologisch
auch das „Jenseits‘‘ aufzufassen. Das „fremde Land“ Agathens ist auch das
Land des Todes.
!) Einige Kollegen aus der Wiener psychoanalytischen Vereinigung machen
mich darauf aufmerksam, daß ein sehr ähnlich klingendes slawisches Wort das
weibliche Genitale und den Hecht (der wieder als Symbol für den weiblichen
150 Herbert Silberer.
Anspielung auf das Kinderzeugen. Meine, neben andere Deutungen
gestellte Auffassung des fremden Landes als Mutterschoß wird also
wohl berechtigt sein. Agathen fällt übrigens in Verbindung hiermit
und zu dem mit weichem, schmelzenden Schnee bedeekten Gelände
die für Kinder märchenhafte Vorstellung ein, daß das Reich, wo die
Kinder herkommen, ein Sumpfland ist, wo sie von Störchen heraus-
geholt werden.
Die Trauer oder Enttäuschung Agathens, als sie im Traum ent-
deckt, daß sie keinen Kahn (Penis), sondern einen Trog (weiblichen
Geschlechtsteil) habe, ist nicht erst dadurch bestimmt, daß dieser
Trog leer ist (worüber ich oben sprach), sondern an und für sich
schon begründet durch Agathens lebhaften Wunsch, ein Mann
zu sein.
Agathe entschloß sich widerwillig zur Erzählung des Traumes. .
Die Widerstände kennzeichnen das aktuelle Vorhandensein jener
die Verborgenheit suchenden Wunschregungen, welche sich in unserer
Analyse offenbarten.
Als das Rätsel des Traumes vom 6./7. Januar 1912 gelöst war,
machte Agathe die Bemerkung, es müßten sich unter ihren früheren
von mir aufgezeichneten Träumen welche befinden, zu deren Geheim-
nissen man mit dem gleichen Schlüssel gelangen könnte wie dieses
Mal. Die Spermatozoensymbolik erscheine ihr als etwas ihrem Gefühl
gewissermaßen schon Bekanntes. Zufällig hatte ich einen Traum,
den sie mir drei Tage vorher geschrieben hatte, noch nicht analysiert,
und machte mich daran, ihn zu lesen. Ich teile den ganzen Traum
mit und hebe darin jene Szenen hervor, die mir besonders auffielen.
Ich muß noch bemerken, daß Agathe vorhatte, zu ihren Eltern nach
Frankfurt zu fahren, um der Verlobung ihres Bruders Gustav bei-
zuwohnen, diesen Plan aber aufgab.
Traum vom 31. Dezember 1911 auf den 1. Januar 1912: „Gegen
12 Uhr in der Nacht komme ich bei meinen Eltern in Frankfurt an.
Ohne in die Wohnung erst einzutreten, befinde ich mich schon in einem
Geschlechtsteil anzusehen ist, weil er Fische, Phalli, verschlingt) bedeutet
Da nun Agathe dem einen Elternteil nach slawischer Abstammung ist
und, wenn sie auch keines slawischen Idioms mächtig ist, dennoch manchen
Brocken eines solch ufgesch ; f . k :
se olehen aufgeschnappt haben mag, ist der sprachliche Hinweis
Spermatozoenträume, 151
kahlen Zimmert), welches durch üppige Portieres von dem Schlaf-
zimmer meiner Eltern getrennt ist. In einer Ecke des Zimmers stehen
meine beiden Schwestern Marthe und Lieschen?). Beide sind ge-
wachsen und verändert. Mich auf die Begrüßung namentlich Marthes
(des älteren von den beiden Kindern) freuend, breite ich die Arme
Ihr entgegen. Sie drückt sich, groß und ernst mich anschauend, in die
Ecke, wie zurückweichend vor mir, und als ob sie mich nicht erkennte.
Lieschen aber läuft mir entgegen und umarmt mich; da kommt auch
Marthe zögernd zu mir und läßt sich auf die Wange küssen von mir,
sie küßt mich nicht. Gleich öffnet sich auch die Portiere und im Nacht-
gewand kommt nun Vater heraus, umarmt mich freudig, hebt mich
in die Höhe und küßt mich beständig auf den Mund, bis er
seine Zunge ganz tief in meinen Mund steckt. Mich ekelt’s und ich
denke mir: ‚Ach, der Papa ist noch immer so leidenschaftlich®)‘ und
möchte mich losmachen. Im nächsten Moment befinde
ıch mich auf der Straße, mit dem Gedanken beschäftigt,
daß ich meine Mutter suchen gehe.
„An einer Straßenecke sitzen mein Bruder Gustav und
seine Braut Dora und betteln die Leute an. Ich gehe hin
und sage ihm: ‚Bitte, gib mir etwas Geld, ich habe meine
Tasche in der großen Eile vergessen‘. Er greift bereitwillig
in die Tasche und holt eine Handvoll ganz neue Silber-
kronen heraus. Ich bewundere die Schönheit des Geldes
und will eine Krone nehmen, da sehe ich, daß das Silber
sich in Elfenbein verwandelt und daß in fremdartiger
Plastik kleine dünne Figuren sichtbar werden. Ich bin
sehr enttäuscht und denke mir: Ach, die will ich gar nicht
haben, und laufe davon, ohne ein Wort zu sagen. Ich suche
meine Mutter weiter. Endlich glaube ich, sie von weitem unter einigen
Frauen kommen zu sehen. Ich erkenne sie an ihrer frisch gewaschenen
Bluse und Schürze. Ich laufe ihr entgegen, von der Nähe waren mir
1) Agathe kennt die gegenwärtige Wohnung ihrer Eltern nicht, denn
diese sind in Abwesenheit Agathens umgezogen. Sie leben in ärmlichen Ver-
hältnissen; deshalb stellt sich Agathe die Wohnung auch in Wirklichkeit kahl vor.
2) Agathe hat noch eine dritte Schwester, mit der sie in reger Korrespon-
denz steht. Die beiden hier genannten sind Kinder, die dritte Schwester hat die
Pubertät bereits überschritten, zählt also gewissermaßen schon zu den Erwachsenen.
3) Er pflegt von jeher seine Kinder wirklich mit eigentümlicher Leiden-
schaftlichkeit zu küssen.
102 Herbert Silberer.
aber alle Frauen fremd. Ich blieb traurig nachdenklich stehen und
ließ sie an mir vorbeigehen.“
Die Begebenheit mit dem Gelde des Bruders, auf dem plötzlich
„kleine dünne Figuren“ sichtbar werden, ist um so bemerkens-
werter, als das Geld, besonders das weiße Silbergeld (vgl. das Elien-
bein) oft auf Sperma deutet und als die Provenienz des Geldes aus
der Hosentasche des Bruders (der in Agathens Kinderzeit eine sexuelle
Rolle bei ihr gespielt hat) für eben diese Bedeutung spricht. Die ‚‚kleinen
dünnen Figuren‘, von denen sich dann Agathe abwendet (Verhütung
der Konzeption), lassen wohl kaum eine bessere Interpretation zu als:
Spermatozoen.
Ich greife einige Stellen aus der Analyse heraus. Dem gesperrt
gedruckten aus dem Traum herausgegriffenen Schlagwort folgen je-
weils die Einfälle, die Agathe dazu produzierte. Wo diese buchstäblich
wiedergegeben werden, stehen sie in Anführungszeichen. In eckigen
Klammern meine Glossen.
Portieren. — Üppigkeit. Gegensatz zum kahlen, kalten Zimmer. —
Schöne Vorstellungen aus orientalischen Liebesgeschichten. — Ver-
schiedene schöne Reminiszenzen. — Jungfernhäutchen.
Gib mir etwas Geld. — „Das sind Worte, die ich gehört
und auch selbst gebraucht habe, wenn ich z. B. meine Tasche zu Hause
vergessen hatte und mich an meinen Freund Pau] wandte. — Es fällt mir
ein, daß meine Mutter einmal kein Geld hatte, um einkaufen zu gehen;
gekocht mußte aber doch werden, und so ging meine Mutter zum Fleischer
usw. und sagte, sie hätte ihre Tasche vergessen, sie werde am nächsten
Tag zahlen.“
Er greift in die Tasche. — [Lachend:] ‚Pfui! — Mir fallen
unangenehme Erinnerungen ein.‘ [Betreffen Leute, die onanistische
Akte ausführten, indem sie die Hände in die Tasche steckten. U. a.
hatte ein jetzt schon verstorbener Bruder A gathens diese Gewohnheit.]
Eine Handvoll. Be „Bine Handvoll nimmt man z. B., wenn
man Körner den Hähndeln hinstreut; man hat dabei ein angenehmes
Gefühl, wenn man &us einem Korb oder einer Schürze die Hand voll
nimmt und die Sa menkörner [notabene!] hinstreut. [Angenehmes
Gefühl des Samenstreuens = Ejakulation !. — Man k K
Onanieren die Hand voll bekommen.“ D - be a
Ganz neue Silberkronen e er EA
: ' — „nabe ich sehr gern, habe aber
nie welche; man bekommt sie selten. [Neue Silber] —
Nichtbekommen derselben = Verhütu: a
18 der Konzeption durch coitus
Spermatozoenträume. 153
interruptus oder Kondome.] — Fischschuppen. — Ulmenfrüchte,
die man der Gestalt wegen „Geld“ nennt.“
Fischsehuppen. — ‚Jemand sagte einmal zu mir, die Fische
kämen zur Brunstzeit [soll heißen: Laichzeit] an den Strand, auf den
nassen Sand und ließen ihre Schuppen in der Sonne schillern; und ich,
so sagte er, schillere ebenso.“
Kronen. — „Ein Sprichwort sagt: Ein junger Hirt ist mehr wert
als ein alter König.“
Elfenbein. — ‚Die Stelle aus dem Hohen Lied, wo es heißt:
„Deine Nase ist wie ein elfenbeinerner Turm‘‘ — oder heißt es „Dein
Hals?‘ Nase ist ein sexuelles Symbol, nämlich für den Penis. Man
sagt auch, wer eine große Nase hat, habe einen großen Penis. Bei der
Frau soll die große Nase viel Temperament anzeigen. — Japanische und
chinesische Elfenbeinschnitzereien.“ — Märchen von Sindibad dem
Seefahrer.
Enttäuscht usw. — „Im Traum habe ich mich sehr gewundert,
daß ich enttäuscht war, da ich doch Elfenbein so gern habe.‘ [Auch
betreffs der Figuren auf dem Elfenbein hatte Agathe bei einer zweiten
Darstellung desselben Traumes bemerkt: ‚‚Sie waren unendlich zierlich ;
ich weiß nicht, warum sie mir nicht gefallen haben.‘] Es ist auffällig,
setzt sie hinzu, daß sie das Wertvolle verschmähte. Die Kronen waren
jung, das Elfenbein wertvoller, aber alt, daher die Enttäuschung,
Plastik. — Alte Reliefs, die Agathe in einem Museum gesehen
hat. Sie erinnert sich an eine schöne, etwas verwitterte Steinplatte,
worauf kleine Engel abgebildet waren in zwei Gruppen, die einander
entgegenkommen, mit Flöten, anderen Musikinstrumenten, Blumen
und Bändern in den Händen. — Ein Dolchmesser mit Elfenbeingriff,
worauf Drachen und unförmige Menschen geschnitzt sind. Dieses
Messer hat Agathe bei der Mutter jenes Mannes gesehen, mit dem sie
in Triest gewesen ist.
Kleine dünne Figuren. — Eben die schon genannten Engel,
die Agathe in Triest gesehen zu haben glaubt.
Die Figuren auf dem Geld. — Sie waren fast ebenso wie die
erwähnten Engel, nur sehr verkleinert. Es waren drei Figuren rechts
und drei links.
Elfenbein statt Silbergeld. — Das Herzeigen des Elfen-
beins statt des Geldes im Traum sah aus wie eine Fopperei; als würde
Agathens Bruder ihr Samen (Sperma) statt Geld darreichen.
Engel. — Kleines Kind. Ein nicht existierendes kleines Wesen.
154 Herbert Silberer.
Nachtrag zu Enttäuschung und Davonlaufen. — „Es fällt
mir ein,daßich dem... .[ihrem Triester Freund] davongelaufen bin, als ich
von ihm schwanger geworden war,‘ so wie Agathe auch im Traum
davonläuft, als man ihr Samen darreicht. Als ich darauf bemerke,
daß die Auffassung Geld = Samen die kleinen Engel nunmehr als
Spermatozoen erkennen lasse, sagt Agathe, es sei ihr schon beim
Niederschreiben des Traumes klar gewesen, daß die Handvoll Silber-
geld oder Elfenbeinplättchen mit Engeln darauf als Samen mit
Kinderkeimen aufzufassen sind; sie hätte es mir schon früher mit-
teilen können, wenn der Traum gleich analysiert worden wäre.
Soviel von der Analyse. —
Wenn ich aus dem Traum jene Momente herausgreife, die sich
auf den Koitus und die Befruchtung beziehen, so ergibt sich eine zu
der Spermatozoenszene sich steigernde sinngemäße Entwicklung.
Durch die Portieren (Hymen) dringt der Vater. Seine leidenschaftlichen
Liebkosungen waren Agathen als ganz jungem Mädchen angenehm;
später wirkten sie ekelhaft, und deshalb erfährt die im Traum gegebene
Erfüllungssituation eines alten Wunsches (an Stelle der Mutter zu
sein) sofort einen Widerstand. Der Konflikt löst sich oder, richtiger
gesagt, es wird ihm ausgewichen, indem der sexuelle Vorgang in ein
Bild übersetzt wird, das sich uns in der Geldszene präsentiert. Der
ältere Vater ist durch den jüngeren Bruder ersetzt worden (vgl. in der
Analyse den Gegensatz junge Kronen, altes Elfenbein). Aus der Hosen-
tasche kommt Geld. Der Samen droht, sie mittels der kleinen Engel
(Kinderkeime) zu befruchten, und abermals befindet sich Agathe
in einem Konflikt zweier Wünsche: schwanger zu werden und es nicht
zu werden. Dem Konflikt wird sofort wieder durch eine Verlegung
der Szene ausgewichen. Hier bricht nun der Traum ab, ohne uns etwas
Bestimmtes darüber auszusagen, wie der Konflikt gelöst wird: ob die
Konzeption eintritt oder nicht, ob der eine oder der andere Wunsch
symbolisch sich erfüllt. Dennoch gibt es eine Fortsetzung. Es trifft
. sich nämlich, daß Agatheihren Traum vier Tage später weiter-
träumte.
en ER ich diesen Fortsetzungstraum mitteile, muß ich noch einige
ee —_ ran Traum und den Einfällen machen.
nn. n di gathe angefertigte Skizze der Situation
ee gr nn : ee u.a. das Hymen vorstellen, durch
Schwestern a nid Li Beh lege wa a
eschen ihre Plätze links und rechts von
Spermatozoenträume. 155
der Portiere an. Berücksichtigt man die Ähnlichkeit des „kahlen
Zimmers“ mit dem „leeren Kahn“ des andern Traumes und die
Tatsache, daß in einem früheren Traum die Ovarien durch Kinder!)
von Agathens Mutter (Gebärmutter !) dargestellt worden sind, so wird
man die Deutung der zwei Kinder als Ovarien um so weniger befremd-
lich finden, als die operative Entfernung des einen Ovariums durch das
Zurückweichen Marthes dargestellt erscheint. Freilich ist das nur
eine, und zwar nicht gar tiefliegende Bedeutung von Marthes Ver-
halten. Eine tiefere Erklärung des eigentümlichen scheuen Zurück-
weichens wird später folgen.
Das Gehobenwerden vom Vater hatnichtetwa bloß einen erotischen
Sinn. Das Gefühl dabei war ein unsicheres; so, als könnte man dabei
fallen. Abgesehen nun von der Möglichkeit des Fallens im Sinne von
„zur Dirne werden“ usw. wird durch die Situation des unsicheren
widerwilligen Gehobenwerdens folgender Wunschkonflikt ausgedrückt:
einerseits wünschte Agathe lange Zeit hindurch, dem schönen, interes-
santen Vater körperlich ähnlich zu werden; anderseits möchte sie ihm
in den Charaktereigenschaften und in der Lebensführung nicht ähnlich
werden. Wenn also der Vater sie zu sich emporhebt?), so ist dieses
Emporsteigen gewissermaßen gleichzeitig ein unerwünschtes Sinken;
daher das unsichere Gefühl, und daher wohl auch zum Teil die Wahl
der Straße zum nächsten Schauplatz. Dorthin würde sie sinken,
wenn sie dem Vater gleich würde. Die Straße als das „Freie“ illustriert
wieder den Gedanken der Befreiung, das Losmachens vom Vater wie
auch von den ihn betreffenden Konflikten (funktionales Symbol).
Agathe sucht nun die Mutter®). Das heißt u. a., daß sie sich mit
ihr identifiziert; daß dies im Traum tatsächlich der Fall ist, daß sie sich
wahrhaftig an die Stelle der Mutter setzt, das haben wir ja soeben ge-
sehen, da sie doch als Penissymbol (oder sexuellen Partner) just den
Vater phantasiert. Die Situation wird ihr des Konfliktes wegen un-
gemütlich, und es scheint fast so, als suche sie nun die wirkliche Mutter,
um sich von ihr ablösen zu lassen.
1) Nicht gerade als bestimmte Schwestern, aber so, daß sie am ehesten
eben den zwei jüngsten entsprachen.
2) Diese Vorstellung entstammt jedenfalls der Kindheit, in der der Vater
natürlich als „Großer‘‘ betrachtet wird.
3) Insofern das (erfolglose) Suchen der Mutter historisch betrachtet wird,
geht es darauf zurück, daß Agathe in Wirklichkeit lange-Zeit in ihrer Mutter
vergeblich die verständnisvolle Mutter gesucht hat.
156 Berbert Silberer.
Die sexuelle Szene mit dem Bruder wird durch die Bitte um Geld
(Sperma) und die Begründung derselben durch einen Vorwand, das
Vergessen des Täschchens, eingeleitet. Agathe tut hier eine ähnliche
Bitte an ihren Bruder wie sie sie häufig an Pa ul richtet (setzt also den
Bruder für ihren Sexualpartner ein) und wie sie Agathens Mutter
als Vorwand dem Fleischer gegenüber gebrauchte (so daß der Bruder
auch zu dem Fleischer in Parallele gesetzt wird). Der Vorwand dient
nicht allein zur rationalisierenden Verdeckung des Spermaverlangens,
sondern auch zu einer symbolischen Beziehung zu dem erotischen
Zweck; es ist ja von einer Tasche (Vagina) die Rede. Der Bruder —
Fleischer produziert nun wirklich Fleisch, den Penis nämlich, obgleich
der Traum dies bloß durch Anspielungen zu verstehen gibt.
Die Engel auf den Elfenbeinstücken, die Kinderkeime in der
Samenflüssigkeit, sind in zwei Gruppen verteilt, die einander mit
Musikinstrumenten, Blumen und Bändern entgegenkommen. Die Szene
ist so gewählt, als wollten sie einen Hochzeitsreigen aufführen. Die
Verteilung in zwei Gruppen mag eine mann-weibliche Symbolik ent-
halten; das Einander-Entgegenkommen wäre ein Symbol der geschlecht-
lichen Vereinigung. Die Dreizahl auf der einen Seite mag (nach einer
bei Agathe häufigen Symbolik) der Dreiheit Penis-Hoden, die auf
der andern Seite jener von Uterus-Ovarien entsprechen.
Und nun zur Mitteilung des Fortsetzungstraumes.
Traum vom 4./5. Januar 1912: ‚(Ich träume den Traum vom
31. Dezember 1911/1. Januar 1912 weiter, nach drei!) Tagen.) End-
lich habe ich meine Mutter gefunden und bin voller Freude und
Erwartung. In dem großen kahlen Zimmer (vom vorigen Traum)
sıtzen viele Gäste (lauter Frauen) um einen sch malen langen
Holztisch. Meine Mutter sitzt am linken Rand in der Mitte und ich
neben ihr auf einem Fußkissen und schaue zu ihr hinauf. Ich sage:
„Du siehst sehr gesund aus, Mamachen, wie kannst Du so klagen?“
Sie Ist ganz angezogen, jedoch sehe ich sie nackt, mit einem üppigen
weißen Körper. Ich wundere mich und denke mir: Mama war doch
wie ein Stäbchen, so dünn. Mama spricht: ‚Ja, ich habe am
Bauch eine Geschwulst gehabt. Einmal komniine sch nach Hause,
ziehe mich aus und lege mich ins Bett. Eine eigentümliche Leichtigkeit
verspüre ich, greife nach meinem Bauch und bekomme die Hände
‘) Eigentlich sind es vier.
Spermatozoenträume. 157
mit Dreck voll. Denk’ Dir, die Wunde ist auf dem Weg ausge-
ronnen. Es war noch ein bissel Blut drin, ich hab’ es aber gut aus-
gedrückt, obwohl es geschmerzt hat.“ Ich fühlte einen unbeschreiblichen
Ekel und antwortete nichts. [Nachträglicher Zusatz: während Mamas
Erzählung sah ich, daß ihr Körper wie der einer Leiche auf-
gedunsen war.] Ich habe während der Erzählung die offene Wunde,
Eiter und Blut fließen sehen; es war gräßlich. Eine Weile blieb ich dort
sitzen und schaute mir die Frauen an. Sie waren wie Klageweiber.
Ganz unheimlich wurde mir. Erwachen.“
Wir sehen, daß dieser Traum an den vorher mitgeteilten tat-
sächlich anknüpft. Um nicht zu weitschweifig zu werden, greife ich
aus der Analyse bloß folgende Einfälle heraus.
Mutter unter den alten Frauen. — ‚Es war so, als würden
wir nicht dort hingehören, sondern bloß in diese Situation hineinver--
setzt sein. Ich wollte nicht fragen. Ich war bloß froh, die Mama gefunden
zu haben.“ — Es hat zuerst ausgeschaut wie eine Gesellschaft, wo
es lustig zugeht; erst als Agathe ihre Mutter nackt und ekelhaft sah,
erkannte sie, daß die alten Frauen Klageweiber waren.
Wie ein Stäbchen so dünn. — Das erinnert Agathe an ein
mikroskopisches Präparat von Vaginalsekret, worin lauter Stäbchen
zu sehen waren.
Die Geschwulst am Bauch. — Schwangerschaft, und zwar
eine solche, die nicht zu ihrem normalen Ende kam (Abortus). — Jede
Frau wird, nachdem sie Kinder bekommt, häßlicher. Ich habe mir öfter
gedacht, ich möchte darum keine Kinder haben; oder höchstens eines
oder zwei. [Ihre Mutter hatte deren neun.]
Den vorhergehenden Traum verließen wir, indem wir einen un-
gelösten Konflikt zwischen zwei Wünschen vermerkten; dem Wunsche
nämlich, schwanger zu werden, und dem gegenteiligen. Die Folgen des
Geschlechtsverkehrs vom vorigen Traum werden nun in dem neuen
Traum dargestellt. Der Konflikt wird dabei in witziger Weise
gelöst. Es wird nämlich beiden Wünschen Erfüllung zu-
teil durch ein Kompromiß, indem zwar eine Schwangerschaft
(der für die Mutter zu substituierenden Agathe) eintritt, aber nicht
zum Kinderbekommen führt, sondern durch einen Abortus rück-
gängige gemacht wird. Die auf ‚„Abortus“ gedeutete Traumepisode
hat einen Hintergrund in einem realen Erlebnis der Mutter, an das sich
Agathe affektreich erinnert; auch gewisse Details davon sind im Traum
verwertet. Die Substitution Agathe—Mutter ist noch unterstrichen
158 Herbert Silberer.
durch die Ähnlichkeit der Erlebnisse beider (Abortus; Wunde-Blut-
Eiter usw. gelegentlich der bei der Analyse des Traums vom 6./7, Ja-
nuar erwähnten Operation). Die Stäbchen im Traum und Assoziation
scheinen wieder eine Hindeutung auf Spermatozoen zu enthalten;
es zeigt sich nämlich wieder der Entwicklungsgedanke, wie wir ihn
vom Brotteig usw. her kennen: die Mama war zuerst wie ein Stäbchen
so dünn (übrigens ist, in weitergehender Interpretation, jeder Mensch
einmal wie ein mikroskopisches Stäbchen so dünn, nämlich als Sperma-
tozoon), jetzt hat sie einen dicken Bauch bekommen. Bedenkt man,
daß in Agathe die Assoziation zu mikroskopischen Stäbchen
im Vaginalsekret wach ist, so kann man für ein Stäbchen, das einen
geschwollenen Bauch im Gefolge hat, kaum eine richtigere Über-
setzung finden als: Spermatozoon!).
Die Situation Agathens zu Füßen der Mutter, nachdem diese
gerade abortiert hat, läßt daran denken, daß sich Agathe an die Stelle
des abortierten Fötus denkt. Diese Nuance, die natürlich den bei Agathe
so wichtigen Todeswunsch ausdrücken würde, erfährt eine Bestätigung
durch die vielsagende Anwesenheit der Klageweiber; solchen Klage-
weibern kommt nach altem Gebrauch die Totenwacht zu, wenn ein
Weib gestorben ist. Die lange Tafel mit den alten Personen läßt übrigens
such an die Ahnentafel denken, besonders wenn man sich die Be-
merkung Agathens vor Augen hält, daß sie und die Mutter in diese
Gesellschaft eigentlich nicht hineingehörten, sondern sich nur dahin
versetzt sahen. Ich muß auch anführen, daß Agathe, deren Mutter
schwer leidend ist, kürzlich äußerte, sie habe manchmal das Gefühl,
als würde sie ihre Mutter nie mehr sehen.
Durch diese Betrachtungen des Traummaterials sehen wir uns auf
einmal in das Kapitel der Todesphantasien geleitet, die im Traum
vom 6./7. Januar eine dominierende Rolle gespielt und der Sperma-
tozoen- und Vaterleibsphantasie eine besondere Bedeutung verliehen
haben, nämlich die, das Leben rückgängig zu machen. Prüft man die
jetzt analysierten zwei zusammenhängenden Träume auf den gleichen
Gedanken, so zeigen sie abermals einen schönen Zusammenhang.
Ich muß aus der Analyse des Traumes vom 31. Dezember 1911 /1. Ja-
nuar 1912 noch zwei Assoziationsreihen anführen, die uns als Wegweiser
dienen können:
Kahles Zimmer. — ‚„Uneingerichtet: hängt mit Armut zu-
‘) Die Skiläufer des Traumes vom 6 ferdanker sam H
: Defde mit ihr ‚ auf-
rechten Gestalt hatten auch ungefähr Stäbchenform. .
Spermatozoenträume. 159
sammen. [Durch die tatsächlichen Verhältnisse gegeben]. — Traurig-
keit, Kälte, Ungemütlichkeit. — Das Zimmer erinnert mich an etwas,
und ich weiß nicht an was. — Jetzt weiß ich schon: es erinnert mich
an das Zimmer, wo mein Bruder N. aufgebahrt war,“ [Dieser N,
war jener habituelle Onanist, von dem unter dem Schlagwort „Er
greift in die Tasche‘ die Rede gewesen.]
Groß anschauen, zurückweichen. [Marthes Verhalten
im Traum.] — ‚‚Das ist eine Bewegung von mir, wenn ich einer Sache
oder jemandem gegenüberstehe, den ich nicht ganz kenne oder dem
ich nicht sehr traue. — Eine ähnliche Bewegung Pauls mir gegenüber,
als er sehr böse auf mich war. — Das Sichbefreunden mit etwas,
wovor man eigentlich zurückweichen sollte, z. B. vor einem
Toten, vor einer Bahre, etwas Unheimlichem.“ Agathe
erinnert sich einer Episode aus ihrem zehnten Lebensjahr: als eine
Schwester gestorben war und aufgebahrt lag, verbot man ihr,
das Zimmer allein zu betreten oder der Toten zu nahen, weil man sie
vor dem Anblick des Todes bewahren zu sollen glaubte; sie aber dachte
sich: Was ist denn da Schreckliches dabei? und ging ruhig allein in jenes
Gemach, deckte die Tote auf und berührte sie. — In späterer Zeit,
mit 13 bis 14 Jahren hat Agathe öfter die Leichenkammer be-
sucht.
Wir sehen, wie rasch Agathens Phantasie von den Traumdaten
zu den Gedanken an Tod, Bahre und Leichen gebracht wird. Und ich
habe hier gar nicht alle Beispiele wiedergegeben.
Besonders bemerkenswert finde ich den dritten Einfall unter
dem Schlagwort ‚‚Groß anschauen usw.;‘ ich habe ihn deshalb auch
im Drucke hervorgehoben: ‚Das Sichbefreunden...‘“ bis ‚,...etwas
Unheimlichem.‘“ Dieser Einfall scheint auf das Schlagwort eigentlich
nicht recht zu passen. Das Zurückweichen ließe eher denken an ein
„Schaudern vor etwas, womit andere sich befreunden“ oder so ähnlich.
Warum ist die Vorstellung bei Agathe gerade umgekehrt? Darum,
weil Agathens Assoziationen nicht von der manifesten Traumepisode
aus, sondern von den Ihr zugrunde liegenden Komplexen geleitet worden.
Agathe sagt mit ihren Einfällen soviel als: ‚Die Traumepisode bezieht
sich darauf, daß ich — wie ich es schon oft getan — mich mit etwas
befreunde, was andere schaudern machen würde und vielleicht auch mich
schaudern machen sollte, nämlich mit den Todesgedanken.“ Agathe
(die sich viel mit Selbstmordabsichten trug) teilte mir auch mit, daß
sie oft gewünscht habe, sie wäre nie geboren; sie habe ihre Mutter
160 Herbert Silberer.
mehrmals erbost durch Klagen darüber, daß sie nun das Leid des Lebens
tragen müsse wegen eines kurzen Momentes der Lust der Eltern. Der
Todesgedanke in dieser Wendung (los vom Leben durch Ungeschehen-
machen der Zeugung) führt natürlich zur Vaterleibs- und Mutter-
leibsphantasie. Wir wollen nun diesen Gedankenreihen im Traum
nachgehen. ; |
Das kahle Zimmer ist der leere Trog!), d. h. der unfruchtbare
Uterus, den sie der Mutter anwünscht, damit sie nie hätte geboren
werden können. Die Identifikation des eignen sterilen Uterus mit dem
der Mutter geschieht, indem Agathe, die Mutter suchend, die elterliche
Wohnung betritt und sich in sexueller Beziehung zum Vater an die
Stelle der Mutter setzt. Sie wünscht sich etwa so: „Oh, wäre ich
(Unfruchtbare) an der Stelle meiner Mutter gewesen, dann
wäre ich, die Tochter, nie empfangen und nie geboren
worden!“ Die Identifikation mit der schwer kranken Mutter bringt
übrigens Agathe schon an sich dem Tode näher.
Die Begrüßungsszene mit dem Zurückweichen Marthes
stellt den Todeswunsch so erfüllt dar, als ob Agathe eine Leiche wäre.
Denn vor einem Toten oder einem Gespenst?) würde man
so betreten zurückschaudern, wie Marthe vor Agathe. In
Marthe und Lieschen haben wir uns übrigens die zwei seelischen
Strömungen in Agathe zu denken, wovon eine die Todesgedanken
gefällig findet, die andere ihr sagt, daß man davor zurückschaudern
sollte. Im Traum sind ja alle Personen mehr oder minder Teile von uns
selbst. Die Welt des Traumes ist unsere Schöpfung und in den Ge-
schöpfen des Traumes kreist unser eigen Blut. Hier im besondern liegt
ein hübsches Phänomen der funktionalen Kategorie vor, welches
die Struktur der Psyche und das innere Walten ihrer Kräfte zur
Abbildung bringt.
Ob das Nachtgewand des Vaters eine Anspielung auf ‚Toten-
gewand“ sein soll, weiß ich nicht.
Die Straßenszene mit dem Geld (Sperma), vor dessen Figuren
(Spermatozoen) Agath e zurückweicht, wurde bereits besprochen.
wi Ewa ie 2 Zurückweichen vor den Lebenskeimen unschwer
g mit der begonnenen Gedankenreihe.
!) Aus dem Traume vom 6./7. Januar.
°) Hierzu stimmt die Nuance, daß A
12 Uhr in der Nacht“ eintritt. Den rezenten
die Silvesterfeier geboten haben.
gathe im Traume just „gegen
Anlaß zu diesem Umstande dürfte
Spermatozoenträume. =.0161
Die Mutter, die am Schluß des Traumes erfolglos weitergesucht
wird, wird im Fortsetzungstraum endlich gefunden, und zwar,- wie
man eigentlich erwarten konnte: im kahlen Zimmer. Neuerlich wird
gewissermaßen konstatiert, daß das kahle Zimmer (leerer Trog, steriler
Mutterleib) der Mutter angehören soll, damit Agathe nicht konzipiert
werden kann; oder wenn schon — so fügt der Traum gleichsam
hinzu — dann soll sie wenigstens durch einen Abortus ab-
gehen und tot zurWeltkommen. DieLage Agathens, dielugubre
Gesellschaft, in die sie versetzt worden, der lange Holztisch (Bahre),
die Klageweiber, das Grauen!) am Schluß des Traumes — alles das
spricht eine deutliche Sprache.
Wir wollen nun resümieren. Indem wir in den vorstehenden
Träumen den Spermatozoen- und Vaterleibsphantasien nachgingen, ge-
rieten wir unvermerkt auf jene Hauptbedeutung derselben, die ich schon
anfangs nur theoretisch-logisch herauskonstruiert hatte, nämlich
auf den Wunsch, das gegenwärtige Leben los zu sein. Das Zurück-
phantasieren in jene Zeit, wo das Leben in dieser Form noch nicht
vorhanden war, ist eine der Gestalten des Todeswunsches oder, wenn
man genauer sein will: ihm gleichbedeutend. In den drei Beispielen,
die ich heute geboten, steht die Spermatozoenphantasie im Dienste
dieser Wunschgruppe. Ich zweifle nicht daran, daß andere Forscher
Spermatozoenbilder in vielen Träumen werden nachweisen können.
Es wäre wünschenswert, daß sie die betreffenden Fälle auch auf den
Gehalt an Todeswünschen gründlich prüfen mögen, um herauszufinden,
ob der von mir beobachtete Zusammenhang die Regel ist oder nicht.
!) Die Regung des Grauens wird natürlich nicht von jener Seelenströmung
Agathens aufgebracht, die in der Begrüßungsszene des vorigen Traumes durch
Lieschen, sondern durch jene, die durch Marthe verkörpert ist.
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. IV. 11
Wandlungen und Symbole der Libido.
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens,
Von C. 6. Jung.
ZWEITER TEIL.
T.
Einleitung.
Bevor ich auf die Materialien dieses zweiten Teiles eingehe,
erscheint es mir geboten, einen Rückblick zu werfen auf den eigen-
artigen Gedankengang, den uns die Analyse des Gedichtes ‚The Moth
to the sun‘ gewiesen hat. Obschon dieses Gedicht vom vorhergehenden
Schöpferhymnus sehr verschieden ist, hat uns die nähere Untersuchung
der „Sehnsucht nach der Sonne‘ doch auf religiöse, astralmythologische
Grundgedanken geführt, die sich eng an die Betrachtungen zum ersten
Gedicht anschließen: Der schöpferische Gott des ersten Gediehtes,
dessen zwiespältige moralisch-physische Natur uns besonders Hiob
deutlich zeigte, erfährt in den Grundlagen des zweiten Gedichtes eine
neue Qualifizierung von astralmythologischem oder, besser gesagt,
von astrologischem Charakter. Der Gott wird zur Sonne und findet
damit jenseits der moralischen Zerlegung des Gottesbegriffes in den
moralischen Himmelsvater und in den Teufel einen adäquaten
natürlichen Ausdruck. Die Sonne ist, wieRenan bemerkt, eigentlich
das einzig vernünftige Gottesbild, ob wir nun auf dem Standpunkt
des Urzeitbarbaren oder dem der modernen Naturwissenschaft stehen:
beide Male ist die Sonne der Elterngott, mythologisch überwiegend
der Vatergott, von dem alles Lebende lebt, der der Befruchter und
Schöpfer aller lebendigen Dinge ist, die Energiequelle unserer Welt.
Wandlungen und Symbole der Libido. 163
In der Sonne als natürlichem Dinge, das keinem menschliehen Moral-
gesetz sich beugt, läßt sich der Widerstreit, dem die Seele des Menschen
durch die Wirkung der Moralgesetze!) anheimgefallen ist, zu völliger
Harmonie auflösen. Auch die Sonne ist nicht nur Wohltat, denn sie
vermag auch zu zerstören, daher das Zodiakalbild der Augusthitze der
herdenverwüstende Löwe ist, den der jüdische Vorheiland Simson?)
tötet, um die verschmachtende Erde von dieser Plage zu erlösen. Es
ist aber die der Sonne harmonische und inhärente Natur, zu brennen,
und es erscheint dem Menschen natürlich, daß sie brennt. Auch scheint
sie auf Gerechte und Ungerechte gleicherweise und läßt ebensowohl
nützliche wie schädliche Lebewesen wachsen. Die Sonne ist daher,
wie nichts sonst, geeignet, den sichtbaren Gott dieser Welt darzustellen,
d. h. die treibende Kraft unserer eigenen Seele, die wir Libido nennen,
und deren Wesen es ist, Nützliches und Schädliches, Gutes und Böses
hervorgehen zu lassen. Daß dieser Vergleich kein bloßes Spiel mit
Worten ist, darüber haben uns die Mystiker belehrt: wenn sie durch
Verinnerlichung (Introversion) in die Tiefen ihres eigenen Wesens
hinabsteigen, so finden sie ‚in ihrem Herzen‘ das Bild der Sonne,
sie finden ihre eigene Liebe oder Libido, die mit Recht, ich darf wohl
sagen, mit physikalischem Recht, Sonne genannt wird, denn unsere
Energie- und Lebensquelle ist die Sonne. So ist unsere Lebenssubstanz
als ein energetischer Prozeß ganz Sonne. Weich besonderer Art diese
vom Mystiker innerlich angeschaute ‚Sonnenenergie‘ ist, zeigt ein
Beispiel aus der indischen Mythologie®): Aus den Erklärungen des
III. Teiles des Shvetäshvataropanishad entnehmen wir folgende Stellen,
die sich auf Rudra#) beziehen:
(2.) “ Yea, the one Rudra who allthese worlds with ruling powers
deth rule, stands not for any second. Behind those that are born he
stands; at ending time ingathers all the worlds he hath evolved, pro-
teetor(he).
—
1) Dies erscheint uns vom psychologischen Standpunkt aus so. Siehe unten.
2) Simson als Sonnengott. Siehe Steinthal: Die Sage von Simson.
Zeitschr. f. Völkerpsych., Bd. II.
3) Ich verdanke die Kenntnis dieses Stückes Herrn Dr. van Ophuijsen
in Zürich.
4) Rudra, eigentlich als Vater der Maruts (Winde) ein Wind- oder Sturmgott,
tritt hier als alleiniger Schöpfergott auf, wie der Verlauf des Textes zeigt. Als
Windgott kommt ihm leicht die Schöpfer- und Befruchterrolle zu: Ich verweise
auf die Ausführungen des I. Teiles zu Anaxagoras und unten.
11*
164 | ©. G@. Jung.
(3.) He hath eyes on all sides, on all sides surely hath faces, arms
surely on all sides, on all sides feet. With arms, with wings, he
tricks them out, creating heaven and earth, the only God.
(4.) Who of the gods is both the source and growth, the lord of
all, the Rudra, mighty seer; who brought the shining germ of old into
existencee — may he with reason pure conjoin us.t)“
Diese Attribute lassen deutlich den Allschöpfer erkennen und
in ihm die Sonne, die beflügelt ist und mit tausend Augen die Welt
durchspäht?).
Die folgenden Passagen bestätigen das Gesagte und fügen noch
dazu die für uns wichtige Besonderheit, daß der Gott auch in der einzel-
nen Kreatur enthalten ist:
(i.) “Beyond this (world), the Brahman beyond, the mighty
one, in every creature hid according to ist form, the one encireling
lord of all — Him having known, immortal they become.“
(8.) *“J know this mighty man, sun-like, beyond the darkness,
Him (and him) only knowing one crosseth over death; no other
path (at all) is there to go.“
(11.) “....spread over the universe is He, the lord. Therefore
as allpervader, He’s benign.“
Der mächtige Gott, der Sonnengleiche, ist in jedem, und wer
ihn kennt, ist unsterblich®). (Wer die tiefe Angst vor dem Tode kennt,
wird leicht verstehen, daß der Unsterblichkeitswunsch ein treibendes
Motiv zur Sonnenidentifikation ist.) Mit dem Texte weiterschreitend,
gelangen wir zu neuen Attributen, welche uns darüber belehren, in
welcher Form und Gestalt Rudra im Menschen wohnt:
(12.) “The mighty monarch, He, the Man, the one who doth
the essence start towards that peace of perfect stainlessness, lordly,
exhaustless light.
(13.) The Man, the size of a thu mb, the inner S$eif, sits ever
ın the heart of all that’s born: by mind, mind-ruling in the heart, is
He revealed. That they who know, immortal they become.
(14.) The Man of the thousands of heads, (and) thousands of
!) Diese und die folgenden Upanisha
hads, transl. by G. R. S. Mead and
?) Ähnlich ist auch der unzwei
einer Unzahl von Augen ausgestattet.
») Wer den Gott, die Sonne, in si
> ‚ in sich h
Vgl. I. Teil, Abschnitt V. =
dstellen sind zitiert aus: The Upanis-
J.C. Chattopadhyäya. London 1896.
felhafte persische Sonnengott Mithra mit
ist unsterblich, wie die Sonne.
Wandlungen und Symbole der Libido. 165
eyes, (and) thousands of feet, covering the earth on all sides, He stands
beyond, ten finger-breadths.
(15.) The Man is verily this all, (both) what has been and what
will be, lord (too) of deathlessness which far all else surpasses.
Wichtige Parallelstellen finden sich Kathopanishad: Sect. II,
Part IV.
(12.) The Man ofthe size ofa thumb, resides in the midst, whithin
in the Self, of the past and the future the lord.
(13.) The Man, of the size of a thumb, like flame free of smoke,
of past and of future the lord, the same is to-day, to-morrow the same
will He be.
Wer dieser Däumling ist, ist leicht zu erraten: das phallische
Symbol der Libido. Der Phallus ist dieser Heldenzwerg, der die
sroßen Taten verrichtet, er, dieser häßliche Gott, von unscheinbarer
Gestalt, der aber der große Wundertäter ist, da er der sichtbare Aus-
druck der im Menschen inkarnierten Schöpferkraft ist. Dieser wunder-
liche Gegensatz ist auch dem Faust (in der Mütterszene) auffällig:
Mephistopheles: ‚Ich rühme dich, eh du dich von mir trennst,
Und sehe wohl, daß du den Teufel kennst;
Hier diesen Schlüssel nimm.
Faust: Das kleine Ding!
Mephistopheles: Erst faß ihn an und schätz ihn nicht gering.
Faust: Er wächst in meiner Hand! er leuchtet,
blitzt!
Mephistopheles: Merkst du nun bald, was man an ihm
besitzt!
Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern,
Folg ıhm hinab, er führt dich zu den Müttern !“
Wiederum gibt hier der Teufel dem Faust das wundersame Werkzeug,
ein phallisches Symbol der Libido, in die Hand, wie schon im Anfang
der Teufel, in Gestalt des schwarzen Hundes, sich Faust gesellt, indem
er sich mit den Worten einführt:
„Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“
Mit dieser ‚Kraft‘ vereinigt, gelingt es Faust, seine eigentliche
Lebensaufgabe durchzuführen, zuerst mit übeln Abenteuern und dann
zum Segen der Menschheit, denn ohne das ‚Böse‘ gibt es keine schaffende
166 C. G. Jung.
Kraft. Hier in der geheimnisvollen Mütterszene, wo.der Dichter das letzte
Geheimnis schöpferischer Kraft dem Verstehenden entschleiert, bedarf
Faust des phallischen Zauberstabes, dem er zuerst die magische Kraft-
nicht zutraut, um das größte der Wunder zu vollbringen, nämlich die
Erschaffung von Paris und Helena. Damit erreicht Faust göttliche
Wunderkraft, und zwar durch das unscheinbare kleine Instrument.
Dieser paradoxe Eindruck scheint uralt zu sein, denn auch die Upa-
nishaden wissen folgendes vom Zwerggott zu sagen:
(19.) “Without hands, without feet, He moveth, He graspeth;
eyeless He seeth, (and) earless He heareth; He knoweth what 5 to
be known, yet is there no knower of Him. Him call the first,
mighty the Man.“
(20.) Smaller than small, (yet) greater than great, in the heart of
this ereature the Self doth repose . .. . . ete.“
Der Phallus ist das Wesen, das sich ohne Glieder bewegt, der
sieht ohne Augen, der die Zukunft weiß; und als symbolischen Repräsen-
tanten der überall verbreiteten Schöpferkraft ist ihm Unsterblichkeit
vindiziert. Er wird als durchaus selbständig gedacht, was nicht nur eine
dem Altertum geläufige Vorstellung war, sondern auch aus den porno-
graphischen Zeichnungen unserer Kinder und Künstler hervorgeht.
Er ist ein Seher, Künstler und Wundertäter, daher es nicht sonderbar
ist, wenn gewisse phallische Charakteristica sich beim mythologischen
Seher, Künstler und Wundertäter wiederfinden. Hephästus, Wieland
der Schmied und Mäni (der Stifter des Manichäismus, dessen Künstler-
schaft aber auch gerühmt wird), haben verkrüppelte Füße, es
scheint auch typisch zu sein, daß die Seher blind sind und daß der
alte Seher Melampus einen so verräterischen Namen (Schwarzfuß)
besitzt!). Der Zwergfuß, die Unscheinbarkeit und Mißgestalt sind ganz
besonders | bezeichnend geworden für jene geheimen chthonischen
Götter, die Söhne des Hephästus, denen mächtige Wunderkraft zu-
getraut wurde, die Kabiren?). Der Name bedeutet ‚‚mächtig“,
ihr samothrakischer Kult ist innigst verschmolzen mit dem des ithy-
phallischen Hermes, der nach dem Berichte des Herodot durch die
‘) Zu dem kommt, daß er den kultischen Ph ingefü
i ’ llus eingeführt hat. Zum
Dank dafür, daß er die Mutter der Schlan 2 :
e gen bestattete, i ihm die j
Schlangen a belltiörend re reinigten i die jungen
) Vgl. das Vasenbild aus dem Kabeirion von Theben, wo die Kabiren
in edler und in kariki . ;
Megaloi Theoi.). 2 erter Form dargestellt sind (bei Roscher: Lex. 8.
Wandlungen und Symbole der Libido. 167
Pelasger nach Attika gebracht wurde. Sie heißen auch die ueydAoı Veot,
die großen Götter. Ihre nahen Verwandten sind die idäischen Daktylen
(Finger) oder Däumlinge!), die die Göttermutter die Schmiede-
kunst gelehrt hat. (‚Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern,
folg ihm hinab, er führt dich zu den Müttern.‘‘) Sie waren die ersten
Weisen, die Lehrer des Orpheus und erfanden die ephesischen Za uber-
formelnunddiemusikalischenRhythmen?). Das charakteristische
Mißverhältnis, auf das wir oben im Upanishadtext und im Faust
hinwiesen, findet sich auch hier, indem der riesige Herakles als idäi-
scher Daktylos galt. Die riesigen Phryger, die kunstfertigen Diener
der Rhea?), waren ebenfalls Daktylen. Der Weisheitslehrer der Baby-
lonier, Oannes*), wurde in phallischer Fischform dargestellt5). Die
beiden Sonnenhelden, die Dioskuren, stehen in Beziehung zu
den Kabiren®), sie tragen auch die bemerkenswerte spitze Kopf-
bedeckung (Pileus), welche diesen geheimnisvollen Göttern eigen
ist) und die sich von da an, wie ein geheimes Erkennungszeichen
weiterpflanzt. Attis (dieser ältere Bruder des Christos) trägt die spitze
Mütze, ebenso Mithras. Traditionell ist sie geworden für unsere heutigen
chthonischen Infantilgötter®), die Heinzelmännchen (Penaten) und
das ganze typische Zwerggelichter. Freud?) hat uns bereits auf die
phallische Bedeutung des Hutes in rezenten Phantasien aufmerksam
gemacht. Eine weitere Deutung ist wohl die, daß die spitze Mütze die
Vorhaut darstellt. Um nicht zu weit von meinem eigentlichen Thema
abzukommen, muß ich mich hier mit Andeutungen begnügen. Ich werde
aber bei späterer Gelegenheit mit ausführlichen Nachweisen auf diesen
Punkt zurückkommen.
1) Die Berechtigung, die Daktylen Däumlinge zu nennen, gibt eine Notiz
bei Plinius, 37, 170, wonach es kretische Edelsteine von Eisenfarbe und Daumen-
form gab, welche Idaei Daktyli genannt wurden.
2) Daher das Metrum des Daktylos.
3) Siehe Roscher: Lex. d. Gr. u. Röm. Myth. s. Daktyloi.
ı) Nach Jensen: Kosmologie, 8. 292 f., ist Oannes-Ea der Menschen-
bildner. |
5) Inman: Ancient pagan and modern christian symbolism.
6) Varro identifiziert die ueydAoı Veol mit den Penaten. Die Kabiren
seien simulaera duo virilia Castoris et Pollueis am Hafen von Samothrake.
7) In Brasiae an der lakonischen Küste und in Pephnos befanden sich
einige bloß fußhohe Statuen mit Mützen auf dem Kopfe.
8) Daß gerade die Mönche die Kapuze wieder erfunden haben, erscheint
von nicht geringem Belang.
9%) Zentralbl. f. Psychoanalyse, II, S. 187 ff.
168 C. G. Jung.
Die Zwerggestalt führt zu der Figur des göttlichen Knaben, des
puer aeternus, als, des jungen Dionysos, Jupiter Anxurus, Tages!)
usw. Auf dem oben bereits erwähnten Vasenbild von Theben ist ein
bärtiger Dionysos als KABIPO2 bezeichnet, dabei eine Knabengestalt
als ITaic, dann folgt eine karikierte Knabengestalt als IPATOAAOF
bezeichnet, und dann wieder eine bärtige karikierte Mannsgestalt,
die als MITOZ bezeichnet ist?). Mizog heißt eigentlich Faden, wird aber
in der orphischen Sprache für Samen gebraucht. Es wird vermutet,
daß diese Zusammenstellung einer kultischen Bildgruppe im Heilistum
entsprach. Diese Vermutung deckt sich mit der Geschichte des Kultus,
soweit sie bekannt ist: es ist ein ursprünglich phönikischer Kult von
Vater und Sohn?), von einem alten und jungen Kabir, die den
griechischen Göttern mehr oder minder assimiliert wurden. Zu dieser
Assimilation eignete sich die Doppelgestalt des erwachsenen und des
kindlichen Dionysos besonders. Man könnte diesen Kultus auch den des
großen und des kleinen Menschen nennen. Nun ist Dionysos unter
verschiedenen Aspekten ein phallischer Gott, in dessen Kult der
Phallos ein wichtiger Bestandteil war (so z. B. im Kultus des argivi-
schen Stier-Dionysos). Außerdem hat die phallische Herme des Gottes
Anlaß zu einer Personifikation des Dionysosphallus gegeben, in Ge-
stalt des Gottes Phales, der nichts andres als ein Priapus ist. Er heißt
Eraigos oder odyzwuos Baxxiov*). Entsprechend dieser Sachlage kann
man nicht wohl anders, als im oben erwähnten Kaßıpos-Auövvoos
und dem ihm beigegebenen ITaic das Bild des Mannes und
seines Penis zu erkennen’). Das im Upanishadtext hervorgehobene
Paradoxon von groß und klein, von Zwerg und Riese ist
hier milder ausgedrückt als Knabe und Mann oder Sohn und
!) Das typische Motiv des knabenhaften Weisheitslehrers ist auch in den
Christosmythus aufgenommen worden: Die Szene des 12jährigen Jesusknaben
im Tempel.
*) Neben ihm findet sich eine als KPATEIA bezeich ibli '
nete weibliche Figur,
die (orphisch) als ‚„„Gebärende“ gedeutet wird. ”
®) Roscher: Lex. s. v. Megaloi Theoi.
*) Roscher: Lex. s. v. Phales.
f 5) Vgl. die Nachweise Freuds: Zentralbl. f. Psychoanalyse, I, S. 188£.
ch bemerke an dieser Stelle auch, daß etymologisch penis und penätes nicht
A Dagegen werden griech. EOS, N600n, sanskr päsa-h
at. penis zu mit . visel (Penis) und althd fasel ni | n
: t
foetus, proles gestellt. (Walde: Lat. Etym. s. BR Be
Wandlungen und Symbole der Libido, 169
Vater!). Das Motiv der Mißgestalt, welches der kabirische Kult
stark verwendet, ist auf dem Vasenbild ebenfalls vorhanden, indem
die Parallelfiguren zu Dionysos und Ilais die karikierten Miros und
IIoatöiaos sind. Wie vorher der Größenunterschied Anlaß zur Spaltung
wird, so hier die Mißgestalt?).
Ohne zunächst weitere Nachweise zu bringen, möchte ich be-
merken, daß von dieser Erkenntnis aus ganz besondere Schlaglichter
auf die ursprüngliche psychologische Bedeutung der religiösen Heroen
fallen. Dionysos steht in einem innigen Zusammenhang mit der Psy-
chologie des vorderasiatischen, sterbenden und auferstehenden Gott-
heilandes, dessen mannigfache Abwandlungen sich in der Figur des
Christos zu einem die Jahrtausende überdauernden festen Gebilde
verdichtet haben. Wir gewinnen von unserem Standpunkt aus die
Einsicht, daß diese Heroen sowie ihre typischen Schicksale Abbilder
der menschlichen Libido und ihrer typischen Schicksale sind. Es sind
imagines, wie die Gestalten unserer nächtlichen Träume, die Schau-
spieler und Interpreten unserer geheimen Gedanken. Und da wir heut-
zutage die Symbolik der Träume zu enträtseln und dadurch die ge-
heime psychologische Entwicklungsgeschichte des Individuums zu
erraten vermögen, so eröffnet sich hier ein Weg zum, Verständnis der
geheimen Triebfedern der psychologischen Entwicklung der Völker.
Unsere obigen Gedankengänge, welche die phallische Seite der
Libidosymbolik dartun, zeigen auch, wie sehr berechtigt der terminus
„Libido“ ist?). Ursprünglich vom Sexuellen hergenommen, ist dieses
!) Ich erwähne, daß Stekel in der Traumsymbolik diese Art der Dar-
stellung des Genitale aufgespürt hat, ebenso Spielrein bei einem Falle von
Dementia praecox. Dieses Jahrbuch, Bd. III, S. 369.
2) Die dazu gestellte Figur der Koäreıa, der ‚„„Gebärenden‘“, überrascht
insofern, als ich schon geraume Zeit die Vermutung hege, daß die religionsbildende
Libido aus der primitiven Beziehung zur Mutter sich anscheinend erübrigt hat.
®) In der gleichzeitig mit meinem I. Teil erschienenen Abhandlung Freuds
(Psychoanalytische Bemerkungen über einen Fall von Paranoia usw., dieses
Jahrbuch, Bd. III, S. 68) findet sich eine dem Sinne meiner Ausführungen völlig
parallele Bemerkung Freuds über die aus den Phantasien des geisteskranken
Schreber sich ergebende ‚‚Libidotheorie“: „Die durch Verdichtung von
Sonnenstrahlen, Nervenfasern und Samenfäden komponierten ‚Gottes‘-
strahlen Schrebers sind eigentlich nichts anderes als die dinglich dargestellten,
nach außen projizierten Libidobesetzungen und verliehen seinem Wahne eine
auffällige Übereinstimmung mit unserer Theorie. Daß die Welt untergehen muß,
weil das Ich des Kranken alle Strahlen an sich zieht, daß er später während des
Rekonstruktionsvorganges ängstlich besorgt sein muß, daß Gott nicht die Strahlen-
170 en G. Jung.
Wort zum geläufigsten Fachausdruck der Psychoanalyse geworden,
und dies aus dem einzigen Grunde, weil sein Begriff weit genug ist,
um alle die unerhört mannigfaltigen Manifestationen des Willens im
Schopenhauerschen Sinne zu decken, und genügend inhaltsreich
und prägnant, um die eigentliche Natur der von ihm begriffenen psy-
chologischen Entität zu charakterisieren.
Auch die eigentliche klassische Bedeutung des Wortes ‚Libido“
qualifiziert es als durchaus passenden Terminus. Libido ist bei Cicero!)
in einem sehr weiten Sinne gefaßt: [volunt ex duobus opinatis] bonis
[nasci] Libininem et Laetitiam: ut sit laetitia praesentium
bonorum: libido futurorum. — Laetitia autem et Libido in bonorum
opinione versantur, cum Libido ad id, quod videtur bonum, illeeta
et inflammata rapiatur. — Natura enim omnes ea, quae bona videntur,
sequuntur, fugiuntque contraria. Quamobrem simulobjecta species cuius-
piam est, quod bonum videatur, ad id adipiscendum impellitipsa natura.
Id cum constanter prudenterque fit, ejusmodi appetitionem stoiei BodAnow
appellant, nos appellamus voluntatem; eam illi putant in solo esse sapi-
ente, quam sic definiunt; voluntas est quae quid cum ratione desiderat:
quae autem ratione adversa incitata est vehementius, ea libido est,
vel cupiditas effrenata, quae in omnibus stultis invenitur.“ Die
Bedeutung von Libido ist hier Wünschen und in der stoischen Unter-
scheidung vom Wollen zügellose Begier. In entsprechendem Sinne
gebraucht Cicero?) libido: ‚‚Agere rem aliquam libidine, non ratione.“
In demselben Sinne sagt Sallust: ‚‚Iracundia pars est libidinis.“
An anderer Stelle in milderem und allgemeinerem Sinne, der sich der
analytischen Anwendung vollkommen nähert: ‚„Magisque in decoris
armis et militaribus equis, quam in scortis et conviviis libidinem habe-
bant.‘“ Ebenso: ‚„Quod si tibi bona libido fuerit patriae usw.“ Die
Anwendung von Libido ist so allgemein, daß die Phrase „lbido est
scire“ bloß die Bedeutung von ‚‚ich wıll“, ‚es beliebt mir‘, hat. In
der Phrase „aliguem libido urinae lacessit“ hat !ibido die Bedeutung
von Dra ng. Auch die Bedeutung von sexueller Lüsternheit ist
klassisch vorhanden. Mit dieser durchaus allgemeinen klassischen
een mit ihm löse, diese und manche andere Einzelheiten der Schreber-
schen Wahnbildung klingen fast wie endopsychische Wahrnehmungen der Vor-
änge, de ; E : ei j
ver u Annahme ich hier einem Verständnis der Paranoia zugrunde ge-
!) Tusculanarum quaestionum lib. IV.
?) Pro Quint. 14.
Wandlungen und Symbole der Libido. | 171
Verwendung des Begriffes deckt sich auch der entsprechende ety-
mologische Kontext des Wortes libido:
Libido oder lubido (mit libet, älter lubet) es beliebt, und libens
oder lubens = gern, willig) sanskr. lübhyati = empfindet heftiges
Verlangen, löbhayati = erregt Verlangen, lubdha-h = gierig, löbha-h =
Verlangen, Gier. got. liufs, althochd. liob = lieb. Im weitern wird
dazugestellt got. lubains = Hoffnung und althochd. lobön = loben,
lob= Lob, Preis, Ruhm. Altbulg. Ijubiti = lieben, Ijuby = Liebe,
lit. häupsinti = lobpreisen!).
Man kann sagen, daß dem Libidobegriff, wie er sich in den neuen
Arbeiten Freuds und seiner Schule entwickelt hat, im biologischen
Gebiete funktionell dieselbe Bedeutung zukommt wie dem Begriff
der Energie auf physikalischem Gebiete seit Robert Mayer?). Es
dürfte nicht überflüssig sein, an dieser Stelle ein Weiteres über den Be-
griff der Libido zu sagen, nachdem wir der Gestaltung ihrer Symbole
bis zu ihrem höchsten Ausdruck in der menschlichen Gestalt des reli-
giösen Heros gefolgt sind.
11.
Über den Begriff und die genetische Theorie
der Libido.
Die hauptsächlichste Quelle für die Geschichte des Libido-
begriffes sind Freuds: ‚Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. Dort
wird der Terminus ‚Libido‘ in dem ihm (medizinisch) ursprünglich
eigenen Sinne des Sexualtriebes, des Sexualbegehrens gefaßt. Die Er-
1) Walde: Lat. etymol. Wörterbuch, 1910, s. libet. Liberi = Kinder
wird von Nazari (Riv. di Fil., XXXVI, 573 £.) zu libet gestellt. Sollte dies sich
bestätigen, so wäre der mit liberi unbezweifelt zusammengestellte Liber, der
italische Zeugungsgott, ebenfalls zu libet gestellt. Libitina ist die Leichen-
göttin, die mit Lubentina und Lubentia (Attribut der Venus), das zu libet gehört,
nichts zu tun haben soll. Der Name ist noch unerklärt. (Vgl. die späteren Aus-
führungen dieser Arbeit.) Libare = gießen (opfern?) soll mit liber nichts zu
tun haben.
Die Etymologie von libido zeigt nicht nur die zentrale Stellung des Begriffs,
sondern auch den Zusammenhang mit dem deutschen ‚‚Liebe“. Unter diesen
Umständen müssen wir sagen, daß nicht nur der Begriff, sondern auch das Wort
Libido für die vorliegende Sache trefflich gewählt ist.
2) Eine erkenntnistheoretische Korrektur des Satzes von der Erhaltung
der Energie könnte bemerken, daß dieses Bild die Projektion einer endopsychischen
Wahrnehmung der äquivalenten Libidoumwandlungen sei.
172 C. @. Jung.
fahrung nötigt zur Annahme einer Verlagerungsfähigkeit der Libido,
indem zweifellos Funktionen oder Lokalisationen nicht sexueller Trieb-
kräfte fähig sind, einen gewissen Betrag an sexueller Triebkraft, einen
„libidinösen Zuschuß“ aufzunehmen!). Es können dadurch Funktionen
oder Objekte Sexualwert erhalten, die unter normalen Umständen und
eigentlich nichts mit Sexualität zu tun haben?). Aus dieser Tatsache
ergibt sich der Freudsche Vergleich der Libido mit einem Strom,
der teilbar ist, der sich stauen läßt, der in Kollateralen überfließt usw.?).
Freuds ursprüngliche Auffassung erklärt also nicht ‚‚alles sexuell“
wie unsere Gegner zu behaupten belieben, sondern anerkennt die
Existenz besonderer ihrer Natur nach weiter nicht bekannter Trieb-
kräfte, denen Freud aber, gedrängt durch die offenkundigsten Tat-
sachen, die jedem Laien einleuchten, die Fähigkeit zuschreiben mußte,
„libidinöse Zuschüsse“ zu empfangen. Das zugrunde liegende hypo-
thetische Bild ist das Symbol des ‚Triebbündels“ *) worin der Sexual-
trieb als ein Partialtrieb des ganzen Systems figuriert.. Sein Über-
greifen in andere Triebgebiete ist eine Erfahrungstatsache. Die aus
dieser Auffassung sich abzweigende Theorie Freuds, wonach die Trieb-
kräfte eines neurotischen Systems eben jenen libidinösen Zuschüssen
zu anderen (nicht sexuellen) Triebfunktionen entsprechen’) ist dureh
) Freud (Drei Abhandlungen, 1. Aufl., $S. 26): ‚Neben einem, an sich
nicht sexuellen, aus motorischen Impulsquellen stammenden ‚,Trieb“ unterscheidet
man an — den Partialtrieben — einen Beitrag von einem Reize aufnehmenden
Organ (Haut usw.). Letzteres soll hier als erogene Zone bezeichnet werden, als
jenes Organ, dessen Erregung dem Triebe den sexuellen Charakter verleiht.“
2) Freud (l. c., 8. 12): „Eine bestimmte dieser Berührungen, die der
beiderseitigen Lippenschleimhaut, hat als Kuß — einen hohen sexuellen Wert
erhalten, obwohl die dabei in Betracht kommenden Körperteile nicht dem Ge-
schlechtsapparat angehören, sondern den Eingang zum Verdauungskanal bilden.“
®) Siehe Freud: l. ce. S. 28.
*) Eine alte Anschauung, der bekanntlich Möbius wieder zu ihrem Rechte
zu verhelfen suchte. Unter den Neuern sind es Fouillde, Wundt, Beneke,
Spencer, Ribot u. a., welche dem Triebsystem das psychologische Primat zuer-
kennen. Von den älteren Philosophen und Psychologen wollen wir ganz absehen.
5) Freud (Drei Abhandlungen, 1. Aufl., S. 22): „‚„Ich muß vorausschicken,
daß diese Psychoneurosen, soweit meine Erfahrungen reichen, auf sexuellen Trieb-
kräften beruhen. Ich meine dies nicht etwa so, daß die Knarde des Sexualtriebes
einen Beitrag zu den Kräften liefert, welche die krankhaften Erscheinungen unter-
halten, sondern ich will ausdrücklich behaupten, daß dieser Anteil der einzig
konstante und die wichtigste Energiequelle der Neurose ist, so daß das Sexual-
leben der betreffenden Personen sich entweder ausschließlich oder vorwiegend
oder nur teilweise in diesen Symptomen äußert.“
Wandlungen und Symbole der Libido. 173
die Arbeiten Freuds und seiner Schule meines Erachtens hinlänglich
in ihrer Richtigkeit erwiesen. Seit 1905, dem Zeitpunkt des Erscheinens
der drei Abhandlungen, ist eine Wandlung eingetreten!) in der An-
wendung des Libidobegriffes: sein Anwendungsgebiet wurde erweitert,
Ein besonders deutliches Beispiel dieser Erweiterung ist meine vor-
liegende Arbeit. Ich muß aber bemerken, daß auch Freud, gleich-
zeitig mit mir, sich genötigt sah, den Begriff der Libido zu erweitern,
allerdings mit jener zögernden Vorsicht, wie sie einem so schwierigen
Problem gegenüber am Platze ist. Ich muß bemerken, daß es die der
Dementia praecox so nahe verwandte Paranoia war, welche Freud
zu einer Lockerung der früheren Begriffsfassung zu nötigen scheint.
Der betreffende Passus, den ich wörtlich hierher setzen will, lautet
(Jahrbuch, Bd. III, S. 65):
„Eine dritte Überlegung, die sich auf den Boden der hier entwickelten
Anschauungen stellt, wirft die Frage auf, ob wir die allgemeine Ablösung
der Tibido von der Außenwelt als genügend wirksam annehmen sollen,
um aus ihr den ‚Weltuntergang‘ zu erklären, ob nicht in diesem Falle die
festgehaltenen Ichbesetzungen hinreichen müßten, um den Rapport mit
der Außenwelt aufrecht zu erhalten. Man müßte dann entweder das, was
wir Libidobesetzung (Interesse aus erotischen Quellen) heißen,
mit dem Interesse überhaupt zusammenfallen lassen oder die
Möglichkeit in Betracht ziehen, daß eine ausgiebige Störung in der Unter-
bringung der Libido auch eine entsprechende Störung in den Ichbesetzungen
induzieren kann. Nun sind dies Probleme, zu deren Beantwortung wir
noch ganz hilflos und ungeschickt sind. Könnten wir von einer gesicherten
Trieblehre ausgehen, so stünde es anders. Aber in Wahrheit verfügen wir
über nichts dergleichen. Wir fassen den Trieb als den Grenzbegriff des
Somatischen gegen das Seelische, sehen in ihm den psychischen Re-
präsentanten organischer Mächte und nehmen die populäre Unterscheidung
von Ichtrieben und Sexualtrieb an, die uns mit der biologischen Doppel-
stellung des Einzelwesens, welches seine eigene Erhaltung wie die der
Gattung anstrebt, übereinzustimmen scheint. Aber alles weitere sind
Konstruktionen, die wir aufstellen und auch bereitwillig wieder fallen
lassen, um uns in dem Gewirre der dunkleren seelischen Vorgänge zu orien-
tieren, und wir erwarten gerade von psychoanalytischen Untersuchungen
über krankhafte Seelenvorgänge, daß sie uns gewisse Entscheidungen
in den Fragen der Trieblehre aufnötigen werden. Bei der Jugend und
Vereinzelung solcher Untersuchungen kann diese Erwartung noch nicht
Erfüllung gefunden haben. Die Möglichkeit von Rückwirkungen der Libido-
!) Wie unglaublich tief die Scholastik unserer Zeit noch in den Knochen
steckt, sieht man an der Tatsache, daß man Freud zu guter Letzt auch noch
vorwirft, daß er gewisse Auffassungen geändert habe. Wehe denen, die die Menschen
zwingen, umzulernen ! „„Les savants ne sont pas curieux.“
174 ©. G. Jung.
störungen auf die Ichbesetzungen wird man so wenig von der Hand weisen
dürfen, wie die Umkehrung davon, die sekundäre oder induzierte Störung
der Libidovorgänge durch abnorme Veränderungen im Ich. Ja, es ist
wahrscheinlich, daß Vorgänge dieser Art den unterscheidenden Charakter
der Psychose ausmachen. Was hiervon für die Paranoia in Betracht kommt,
wird sich gegenwärtig nicht angeben lassen. Ich möchte nur einen einzigen
Gesichtspunkt hervorheben. Man kann nicht behaupten, daß der Paranoiker
sein Interesse von der Außenwelt völlig zurückgezogen hat, auch nicht
auf der Höhe der Verdrängung, wie man es etwa von gewissen anderen
Formen von halluzinatorischen Psychosen beschreiben muß. Er nimmt
die Außenwelt wahr, er gibt sich Rechenschaft über ihre Veränderungen,
wird durch ihren Eindruck zu Erklärungsleistungen angeregt und darum
halte ich es für weitaus wahrscheinlicher, daß eine veränderte Relation
zur Welt allein oder vorwiegend durch den Ausfall des Libidointeresses
zu erklären ist.‘
In diesem Passus tritt Freud deutlich an die Frage heran, ob
der notorische Wirklichkeitsverlust der paranoiden Demenz (und der
Dementia praecox!), auf den ich in meiner ‚‚Psychologie der Dementia
praecox?)“ ausdrücklich aufmerksam gemacht habe, auf den Rückzug
des „libidinösen Zuschusses“ allein zurückzuführen sei, oder ob dieser
zusammenfalle mit dem sogenannten objektiven Interesse überhaupt.
Es ist wohl kaum anzunehmen, daß die normale ‚„fonction du r&el“
(Janet)?) nur durch ‚„libidinöse Zuschüsse‘ oder erotisches Interesse
unterhalten wird. Die Tatsachen liegen so, daß in sehr vielen Fällen die
Wirklichkeit überhaupt wegfällt, so daß die Kranken nicht eine Spur
von psychologischer Anpassung oder Orientierung erkennen lassen.
(Die Realität ist in diesen Zuständen verdrängt und durch Komplex-
inhalte ersetzt.) Man muß notgedrungenerweise sagen, daß nicht nur
das erotische, sondern überhaupt das Interesse, d.h. die ganze Realitäts-
anpassung In Verlust geraten ist. In diese Kategorie gehören die stupo-
rösen und katatonischen Automaten.
An diesen Phänomenen wird es offenbar, daß die aus der Psycho-
logie der Neurosen (vorzugsweise Hysterie und Zwangsneurose) herüber-
genommene Differenzierung des nichtsexuellen Triebes von seinem
libidinösen Zuschuß bei der Dementia praecox (wozu die paranoide
Demenz gehört) versagt, und das aus guten Gründen. Ich habe mir
früher in meiner Psychologie der Dementia praecox mit dem Ausdruck
„Psychische Energie“ geholfen, weil ich die Dementia-praecox-Theorie
‘) Schrebers Fall ist keine reine Paranoia in modernem Sinne.
°) Ebenso in ‚‚Der Inhalt der Psychose“, 1908.
°) Vgl. dazu Jung: Psychologie der Dementia praecox, 8. 114.
Wandlungen und Symbole der Libido. 175
nicht auf die Theorie der Verlagerungen der libidinösen Zuschüsse
zu gründen vermochte. Meine damals vorzugsweise psychiatrische
Erfahrung erlaubte mir das Verständnis dieser Theorie nicht, deren
Richtigkeit für die Neurosen (streng genommen: für die Übertragungs-
neurosent) ich erst später, dank vermehrter Erfahrung auf dem Gebiet
der Hysterie und Zwangsneurose einsehen lernte. Im Gebiete dieser Neu-
rosen handelt es sich. tatsächlich darum, daß dasjenige Stück Libido,
welches durch die spezifische Verdrängung erübrigt, introvertiert wird
und regressiv frühere Übertragungsbahnen beschreitet (z. B. den Weg
der Elternübertragung?). Dabei bleibt aber die sonstige, nichtsexuelle
psychologische Anpassung an die Umgebung erhalten, soweit sie nicht die:
Erotik und ihre sekundären Positionen (die Symptome) betrifft. Das,
was diesen Kranken an der Wirklichkeit fehlt, ist eben das in der Neu-
rose befindliche Stück Libido. Bei der’ Dementia praecox hingegen
fehlt der Wirklichkeit nicht bloß das Stück Libido, das sich aus der
uns bekannten spezifischen Sexualverdrängung erübrigt, sondern‘
weit mehr, als man der Sexualität sensu strietiori aufs Konto schreiben
könnte. Es fehlt ein dermaßen großer Betrag an Wirklichkeitsfunktion,
daß auch noch Triebkräfte im. Verlust einbegriffen sein müssen, deren
Sexualcharakter durchaus bestritten werden muß?), denn es wird
niemandem einleuchten, daß die Realität eine Sexualfunktion ist.
Überdies müßte, wenn sie es wäre, die Introversion der Libido (sensu
strietiori) schon in den Neurosen einen Realitätsverlust zur Folge haben,
und zwar einen, der sich mit dem der Dementia praecox in Vergleich
setzen ließe. Diese Tatsachen haben es mir unmöglich gemacht, die
Freudsche Libidotheorie auf die Dementia praecox zu übertragen.
Ich bin daher auch der Ansicht, daß der Versuch Abrahams) vom
Standpunkt der Freudschen Libidotheorie theoretisch kaum haltbar
ist. Wenn Abraham glaubt, daß durch die Abkehr der „Libido“
1) Siehe Definition im I. Teil.
?2) Eine frigide Frau z. B., der es infolge spezifischer Sexualverdrängung
nie gelang, die Libido sexualis an den Mann zu bringen, hält die Elternimago in
sich wach und produziert Symptome, die in jene Umgebung gehören.
3) Ich bemerke übrigens, daß derartige Überschreitungen des sexuellen Trieb-
gebietes auch bei hysterischen Psychosen vorkommen können; das liegt schon in der
Definition der Psychose, die nichts anderes als eine allgemeine Anpassungsstörung
bedeutet.
4) Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der Dementia praecox.
Zentralbl. f. Nervenheilkunde u. Psychiatrie, 1908.
176 ©. @. Jung.
von der Außenwelt das paranoide System oder die schizophrene!t)
Symptomatologie entsteht, so ist diese Annahme vom Standpunkt
des damaligen Wissens aus nicht berechtigt, denn eine bloße Libido-
introversion und -regression führt, wie Freud klar gezeigt hat, un-
weigerlich in die Neurose (strenger gesagt: in die Übertragungsneurose)
und nicht in die Dementia praecox. Die bloße Übersetzung
der Libidotheorie auf die Dementia praecox ist unmöglich, weil
diese Krankheit einen Verlust aufweist, der durch den Ausfall
der Libido (s. s.) nicht erklärt werden kann.
Es gereicht mir zur besonderen Genugtuung, daß auch unser
Meister, als er seine Hand an den spröderen Stoff des paranoiden Geistes-
lebens legte, zu einem Zweifel an der Anwendbarkeit des bisherigen
Libidobegriffes genötigt wurde. Meine reservierte Stellung gegenüber
der Ubiquität der Sexualität, wie ich sie in der Vorrede zu meiner
Psychologie der Dementia praecox bei aller Anerkennung der psycho-
logischen Mechanismen einnahm, war diktiert durch die damalige
Lage der Libidotheorie, deren sexuelle Difinition mir nicht erlaubte,
Funktionsstörungen, welche das (unbestimmte) Gebiet des Hunger-
triebes ebensosehr betreffen wie das der Sexualität, durch eine sexuelle
Libidotheorie zu erklären. Die Libidotheorie erschien mir lange Zeit
unanwendbar bei der Dementia praecox. Bei meiner analytischen
Arbeit bemerkte ich aber mit wachsender Erfahrung eine langsame
Veränderung meines Libidobegriffes: an Stelle der deskriptiven
Definition der „Drei Abhandlungen“ trat allmählich eine genetische
Definition der Libido, welche es mir ermöglichte, den Ausdruck
„psychische Energie“ durch den Terminus ‚Libido‘ zur ersetzen.
Ich mußte mir sagen: Wenn schon die Wirklichkeitsfunktion heute nur
zum allergeringsten Teil aus Sexuallibido und zum allergrößten Teil
aus sonstigen „Triebkräften‘ besteht, so ist es doch eine sehr wichtige
Frage, ob nicht phylogenetisch die Wirklichkeitsfunktion,
wenigstens zu einem großen Teil, sexueller Provenienz
war. Diese Frage in bezug auf die Wirklichkeitsfunktion direkt zu
beantworten, ist nicht möglich. Wir versuchen aber auf einem Umweg,
zum Verständnis zu gelangen.
ar Fra red u zu !untwicklungsgeschichte genügt,
en a... erg e komplizierte Funktionen, denen
S allem Recht aberkannt werden muß,
‘) Freud sagt: Paraphrenie, was gewiß besser klingt.
Wandlungen und Symbole der Libido. 177
“ursprünglich doch nichts als Abspaltungen aus dem allgemeinen Pro-
pagationstrieb sind. Es hat sich ja, wie bekannt, in der aufsteigenden
Tierreihe eine wichtige Verschiebung in den Prinzipien der Propagation
vollzogen: die Masse der Fortpflanzungsprodukte mit der damit ver-
bundenen Zufälligkeit der Befruchtung wurde mehr und mehr ein-
geschränkt zugunsten einer sichern Befruchtung und einem wirk-
samen Brutschutz. Dadurch vollzog sich eine Umsetzung der Energie
der Ei- und Samenproduktion in die Erzeugung von Anlockungs- und
Brutschutzmechanismen. So erblicken wir die ersten Kunsttriebe in
der Tierreihe im Dienst des Propagationstriebes, beschränkt auf die
Brunstsaison. Der ursprüngliche Sexualcharakter dieser biologischen
Institutionen verliert sich mit ihrer organischen Fixation und funktio- _
nellen Selbständigkeit. Wenn schon über die sexuelle Herkunft der
Musik kein Zweifel obwalten kann, so wäre es eine wert- und geschmack-
lose Verallgemeinerung, wenn man Musik unter der Kategorie der
Sexualität begreifen wollte. Eine derartige Terminologie würde dazu
führen, den Kölner Dom bei der Mineralogie abzuhandeln, weil er auch
aus Steinen besteht.
Es kann nur einen Laien in entwicklungsgeschichtlichen Fragen
verwundern, wie wenig Dinge es eigentlich in der Welt der Menschen
sibt, die man nicht in letzter Linie auf den Propagationstrieb reduzieren
muß; ich denke, es sei so ziemlich alles, was uns lieb und teuer ist.
Wir sprachen bis jetzt von der Libido als dem Propagations-
trieb und hielten uns damit in den Schranken jener Auffassung, welche
Libido in ähnlicher Weise dem Hunger entgegensetzt, wie der In-
stinkt der Arterhaltung gern dem der Selbsterhaltung gegenüber-
gestellt wird. In der Natur gibt es natürlich diese künstliche Scheidung
nicht. Hier sehen wir nur einen kontinuierlichen Lebenstrieb, einen
Willen zum Dasein, der durch die Erhaltung des Individuums die
Fortpflanzung der ganzen Art erreichen will. Insofern deckt sich diese
Auffassung mit dem Begriff des Willens bei Schopenhauer, als
wir eine von außen gesehene Bewegung innerlich nur als Wollen er-
fassen können. (Die Sprache verrät es: bewegen, motivieren.) Dieses
Hineinlegen von psychologischen Wahrnehmungen in das Objekt
wird philosophisch als „Introjektion“ bezeichnet. (Ferenczis
Begriff der ‚„Introjektion‘ bezeichnet umgekehrt das Hereinnehmen
der Außenwelt in die Innenwelt: Vgl. Ferenczi, Introjektion und Über-
tragung. Dieses Jahrbuch, Bd. I, $. 422.) Durch die Introjektion wird
das Weltbild allerdings wesentlich verfälscht. Der Freudsche Begriff
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen, IV. 12
178 | C. G. Jung.
des Lustprinzips ist eine voluntaristische Formulierung des Intro-
jektionsbegriffes, während sein wiederum voluntaristisch gefaßtes
„Realitätsprinzip“ funktionell dem entspricht, was ich als ‚‚Realitäts-
korrektur‘‘ bezeichne und R. Avenarius als ‚empiriokritische Prin-
zipialkoordination“. (Vgl. Ave narius, Menschl. Weltbegr. 8. 25 ff.)
Derselben Introjektion verdankt der Kraftbegriff sein Dasein; wie
schon Galilei es klar ausgesprochen hat, daß sein Ursprung in der
subjektiven Wahrnehmung der eigenen Muskelkraft zu suchen ist.
Wenn wir schon einmal zu der kühnen Annahme gekommen sind,
daß Libido, die ursprünglich der Ei- und Samenproduktion diente,
nunmehr auch in der Funktion des Nestbaues fest organisiert und keiner
andern Verwendung mehr fähig auftritt, dann sind wir auch genötigt,
jedes Wollen überhaupt, also auch den Hunger, in diesen Begriff
einzubeziehen. Denn wir haben dann keinerlei Berechtigung mehr,
das Wollen des Nestbauinstinkts von dem Essenwollen prinzipiell zu
unterscheiden.
Diese Betrachtung führt uns auf einen Libidobegriff, der über
die Grenzen naturwissenschaftlicher Formung zu einer philosophischen
Anschauung sich erweitert, zu einem Begriff des Willens überhaupt.
Ich muß es dem Philosophen überlassen, mit diesem Stück eines psycho-
logischen Voluntarismus fertig zu werden. Ich verweise im übrigen
auf die hier entsprechenden Ausführungen Schopenhauerst). Was
das Psychologische dieses Begriffes (worunter ich, wohlverstanden,
nicht das Metapsychologische respektive Metaphysische verstehe)
anbelangt, so erinnere ich hier an die kosmogonische Bedeutung des
Eros bei Platon und bei Hesiod?) sowie an die orphische Figur
des Phanes, des „Leuchtenden‘, des Erstgewordenen, des ‚Vaters
des Eros“. Phanes hat auch (orphisch) die Bedeutung des Priapos,
er ist ein Liebesgott, zwiegeschlechtig und dem thebanischen Dio-
nysos Lysios gleichgesetzt?), Die orphische Bedeutung des Phanes
kommt der des indischen Käma gleich, dem Liebesgott, der auch
kosmogonisches Prinzip ist. Beim Neuplatoniker Plotin ist die Welt-
seele die Energie des Intellektest). Plotin vergleicht das Eine
(das schaffende Urprinzip) mit dem Licht überhaupt, den Intellekt
mit der Sonne (Z), die Weltseele mit dem Mond (2). Ein anderer
1) Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, $ 54.
®) Theogonie.
») Vgl. Roscher: Lex., 8. 2248 ff.
*) Drews: Plotin, Jena 1907, S. 127.
Wandlungen und Symbole der Libido. 179
Vergleich ist, daß Plotin das Eine mit dem Vater und den Intellekt
mit dem Sohne vergleicht!). Das Eine als Uranos bezeichnet ist trans-
zendent. Der Sohn als Kronos hat die Regierung der sichtbaren Welt.
Die Weltseele (als Zeus bezeichnet) erscheint als ihm untergeordnet.
Das Eine oder die Usia des gesamten Daseins wird von Plotin als
Hypostase bezeichnet, ebenso auch die drei Emanationsformen, also
ula obola Ev Toiolv Önoordosow; — wie Drews bemerkt, ist dies
aber auch die Formel der christlichen Trinität (Gott-Vater, Gott-Sohn
und Heiliger Geist), wie sie auf den Konzilien zu Nikäa und Konstanti-
nopel festgestellt wurde?). Es erübrigt noch anzumerken, daß gewisse
frühchristliche Sektierer dem Heiligen Geist (Weltseele, Mond) mütter-
liche Bedeutung beilegten. (Vgl. unten über das Chi im Timaeus.)
Die Weltseele hat bei Plotin Neigung zum geteilten Sein und
zur Teilbarkeit, der Conditio sine qua non aller Veränderung,
Schöpfung und Fortpflanzung (also mütterliche Qualität), sie ist ein
„unendliches All des Lebens“ und ganz Energie; sie ist ein lebendiger
Organismus der Ideen, die in ihr zur Wirksamkeit und Wirklichkeit ge-
langen). Der Intellekt ist ihr Erzeuger, ihr Vater, das in ihm Angeschaute
bringt sie im Sinnlichen zur Entfaltung®). ‚Was im Intellekt zusammen-
geschlossen liegt, das kommt als Logos in der Weltseele zur Entfaltung,
erfüllt sie mit Inhalt und macht sie gleichsam von Nektar trunken?).‘
Nektar ist analog Soma Fruchtbarkeits- und Lebenstrank, also Sperma.
Die Seele wird vom Intellekt befruchtet (also vom Vater, vgl. unten
die analogen ägyptischen Vorstellungen). Sie heißt als ‚‚obere‘“ Seele
hımmlische Aphrodite, als „untere“ irdische Aphrodite. Sie
kennt ‚‚die Schmerzen der Geburt‘) usw. Aphroditens Vogel, die
Taube, ist nicht vergebens Symbol des Heiligen Geistes.
Dieser Abschnitt aus der Geschichte der Philosophie, der sich
leicht noch vermehren ließe, zeigt die Bedeutung der endopsychischen
Wahrnehmung der Libido und ihrer Symbole für das menschliche
Denken.
In der Mannigfaltigkeit der natürlichen Erscheinung sehen wir
das Wollen, die Libido, in verschiedenster Anwendung und Formung.
1) l. c., S. 132.
2) ]. c., S. 138.
s) Plotin: Enneaden, II, 5, 3. ii
4) Enn., IV, 8, 3.
5) Enn., III, 5, 9.
6), e., 141.
12*
180 C. G. Jung.
Wir sehen die Libido im Stadium der Kindheit zunächst ganz in der
Form des Ernährungstriebes, der den Aufbau des Körpers versorgt,
Mit der Entwicklung des Körpers eröffnen sich sukzessive neue An-
wendungsgebiete der Libido. Das letzte und in seiner funktionellen
Bedeutung überragende Anwendungsgebiet ist die Sexualität, die
zunächst als außerordentlich an die Ernährungsfunktion gebunden
erscheint. (Beeinflussung der Fortpflanzung durch die Ernährungs-
bedingungen bei niederen Tieren und Pflanzen.) Im Gebiet der Sexualität
gewinnt die Libido jene Formung, deren gewaltige Bedeutung uns zur
Verwendung des Terminus Libido überhaupt berechtigt. Hier tritt
die Libido so recht eigentlich als Propagationstrieb auf, und zwar zu-
nächst in der Form einer undifferenzierten sexuellen Urlibido, die als
Wachstumsenergie schlechthin die Individuen zu Teilung, Sprossung
usw. veranlaßt. (Die klarste Scheidung der beiden Libidoformen findet
sich bei den Tieren, bei denen das Ernährungsstadium durch ein Puppen-
stadıum vom Sexualstadium geschieden ist.)
Aus jener sexuellen Urlibido, welche die Millionen Eier und
Samen aus einem kleinen Geschöpfe heraus erzeugte, haben sich mit
gewaltiger Einschränkung der Fruchtbarkeit Abspaltungen ent-
wickelt, deren Funktion durch eine speziell differenzierte Libido unter-
halten wird. Diese differenzierte Libido ist nunmehr ‚‚desexualisiert“,
indem sie der ursprünglichen Funktion der Ei- und Samenerzeugung
entkleidet ist und auch keine Möglichkeit mehr vorhanden ist, sie
wiederum zu ihrer ursprünglichen Funktion zurückzubringen. So besteht
überhaupt der Entwicklungsprozeß in einer zunehmenden Aufzehrung
der Urlibido, welche nur Fortpflanzungsprodukte erzeugte, in die
sekundären Funktionen der Anlockung und des Brutschutzes. Diese
Entwicklung setzt nun ein ganz anderes und viel komplizierteres Ver-
hältnis zur Wirklichkeit, eine eigentliche Wirklichkeitsfunk-
t1on voraus, die funktionell untrennbar mit den Bedürfnissen der
Propagation verbunden ist, d. h. die veränderte Propagationsweise
führt: als Korrelat eine entsprechend erhöhte Wirklichkeitsanpassung
mit sich!).
Auf diese Weise gelangen wir zur Einsi
Bedingungen der Wirklichkeitsfunktion. Es
ihre Triebkraft sei eine sexuelle, sie war in
cht in gewisse ursprüngliche
wäre grundfalsch zu sagen,
hohem Maße eine sexuelle.
‘) Damit soll natürlich nicht
ausschließlich der Differenzierun
unbestimmt große Anteil der
gesagt sein, daß die Wirklichkeitsfunktion
g der Propagation ihr Dasein verdanke. Der
Ernährungsfunktion ist mir bewußt. j
Wandlungen und Symbole der Libido. 181
Der Prozeß der Aufzehrung der Urlibido in sekundäre Betriebe
erfolgte wohl immer in Form des ‚libidinösen Zuschusses“, d. h. die
Sexualität wurde ihrer ursprünglichen Bestimmung entkleidet und als
Partialbetrag zum phylogenetisch sich allmählich steigernden Betriebe
der Anlockung- und Brutschutzmechanismen verwendet. Diese Über-
weisung von Sexuallibido aus dem Sexualgebiet sensu strictiori an
Nebenfunktionen findet noch immer statt!). Wo diese Operation ohne
Nachteil für die Anpassung des Individuums gelingt, spricht man von
Sublimierung, wo der Versuch mißlinst, von Verdrängung.
Der deskriptive Standpunktder Psychologie sieht die Vielheit
der Triebe, darunter als Partialphänomen den Sexualtrieb, außerdem
erkennt er gewisse libidinöse Zuschüsse zu nichtsexuellen Trieben an.
Anders der genetische Standpunkt: Er sieht das Hervorgehen
der Vielheit der Triebe aus einer relativen Einheit, der Urlibido?), er
sieht, wie fortwährend sich Partialbeträge von der Urlibido abspalten,
als libidinöse Zuschüsse sich neuformierenden Betrieben zugesellen und
darin schließlich aufgehen. Infolgedessen ist es dem genetischen Stand-
punkt unmöglich, den strengbegrenzten Libidobegriff des deskrip-
tiven Standpunktes festzuhalten, er führt unvermeidlich zu einer
Lockerung des Libidobegriffes. Damit gelangen wir zu dem. Libido-
begriff, wie ich ihn subreptive im ersten Teile dieser Arbeit eingeführt
habe, in der Absicht, dem Leser diesen genetischen Libidobegriff
mundgerecht zu machen. Die Aufklärung über diesen harmlosen Betrug,
die ich dem Leser schuldete, versparte ich auf den zweiten Teil.
Erst durch diesen genetischen Libidobegriff, der
nach allen Seiten über das Rezentsexuelle (oder Deskriptiv-
sexuelle) hinausgeht, wird die Übersetzung der Freudschen
Libidotheorie aufs Psychotische möglich. Wie der bisherige
Freudsche Libidobegriff mit den Problemen der Psychose kollidiert,
zeigt der oben zitierte Passus®). Wenn ich daher (in dieser Arbeit oder
ı) Der Malthusianismus ist die künstliche Fortsetzung der natürlichen
Tendenz.
2) Z. B. zunächst in der Form der Propagation als eines Unterfalles des
Willens überhaupt.
3) Freud, dessen absolut empirische Einstellung ich den das Gegenteil
behauptenden Gegnern gegenüber immer wieder verteidigen muß, hat in seiner
Paranoiaarbeit sich von den Tatsachen dieser Krankheit über den Rahmen seines
eigenen ursprünglichen Libidobegriffes hinausführen lassen. Er braucht dort
libido sogar für Wirklichkeitsfunktion, was ich mit dem Standpunkte der ‚Drei
Abhandlungen“ nicht vereinigen kann.
182 ©. G. Jung.
sonstwo) überhaupt von „Libido“ spreche, so verbinde ich damit den
genetischen Begriff, der das Rezentsexuelle um einen beliebig
großen Betrag an desexualisierter Urlibido erweitert, Wenn
ich sage, ein Kranker nehme seine Libido von der Außenwelt weg,
um die Innenwelt damit zu besetzen, so meine ich nicht, er nehme
bloß die libidinösen Zuschüsse zur Wirklichkeitsfunktion weg; sondern
er nimmt, nach meiner Auffassung, noch von jenen nicht mehr sexuellen
(„„desexualisierten‘‘) Triebkräften weg, welche die Wirklichkeitsfunktion
eigentlich und regelmäßig unterhalten. |
Auf Grund dieser Begriffsfassung bedürfen gewisse Stücke unserer
Terminologie ebenfalls der Revision. Wie bekannt, hat Abraham
den Versuch unternommen, die Libidotheorie auf die Dementia praecox
zu übertragen und hat den charakteristischen Mangel an gemütlichem
Rapport und die Aufhebung der Wirklichkeitsfunktion als Auto-
erotismus aufgefaßt. Dieser Begriff bedarf der Revision. Eine hy-
sterische Libidointroversion führt zu Autoerotismus, indem der Pa-
tient seine erotischen Zuschüsse zur Anpassungsfunktion introver-
tiert, wodurch sein Ich mit dem entsprechenden Betrag an erotischer
Libido besetzt wird. Der Schizophrene entzieht der Wirklichkeit aber
weit mehr als bloß die erotischen Zuschüsse, dafür entsteht in seinem
Innern aber auch etwas ganz anderes als beim Hysterischen. Er ist
mehr als autoerotisch, er bildet ein intrapsychisches Reali-
tätsäquivalent, wozu er notwendigerweise andere Dynamismen
zu verwenden hat als erotische Partialbeträge. Daher muß ich Bleuler
die Berechtigung zuerkennen, den von der Neurosenlehre her-
genommenen und dort legitimen Begriff des Autoerotismus abzulehnen
und durch den Begriff des Autismus!) zu ersetzen. Ich muß sagen,
daß dieser Terminus den Tatsachen besser gerecht wird als „Auto-
erotismus”. Damit anerkenne ich meine frühere Gleichsetzung von
Autismus (Bleuler) und Autoerotismus (Freud) als unberechtigt
und ziehe sie zurück?). Dazu nötigt mich die hier vorgenommene, wie
ich hoffe, gründliche Revision des Libidobegriffes.
Aus diesen Überlegungen dürfte zwingend hervorgehen, daß der
deskriptivpsychologische oder rezentsexuelle Begriff der Libido auf-
') Bleuler gelangt zu diesem Begriffe allerdings auf Grund anderer Über-
egungen, denen ich nicht immer zustimmen kann. Vgl. Bleuler: Dementia prae-
cox, in Aschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie |
*) Siehe Jung: Kritik über E, Ble
ed * ul 4 4 . R
Negativismus. Dieses Jahrbuch, Bd. III, 8 “ } Zur Theorie des schizophrenen
Wandlungen und Symbole der Libido. 185
gegeben werden muß, damit die Libidotheorie auch auf die Dementia
praecox Anwendung finden kann. Daß sie dort anwendbar ist, zeigt
am besten Freuds glänzende Untersuchung der Schreberschen
Phantasien. Die Frage ist nur, ob der von mir in Vorschlag gebrachte
genetische Libidobegriff nun auch noch für die Neurosen passe. Ich
glaube, diese Frage darf bejaht werden. Natura non facit saltus — es
ist nicht bloß zu erwarten, sondern sogar sehr wahrscheimlich, daß
wenigstens temporär und in verschiedenen Abstufungen auch bei den
Neurosen Funktionsstörungen vorkommen, die über die Reichweite
des Rezentsexuellen hinausgehen, auf jeden Fall gilt dies von psy-
chotischen Episoden.
Ich halte die Erweiterung des Libidobegriffes, die durch die jüng-
sten analytischen Arbeiten vorbereitet wurde, für einen wesentlichen
Fortschritt, der namentlich dem gewaltigen Arbeitsgebiet der Intro-
versionspsychosen zugute kommen wird. Dort liegen die Beweise für
die Richtigkeit meiner Annahme schon bereit. Es hat sich nämlich
durch eine Reihe von Arbeiten der Züricher Schule, die erst zum Teil
veröffentlicht sind!), herausgestellt, daß die phantastischen Ersatz-
produkte, welche an Stelle der gestörten Realitätsfunktion
treten, deutliche Züge archaischen Denkens tragen. Diese
Konstatierung geht dem oben aufgestellten Postulat parallel, wonach
der Wirklichkeit nicht bloß ein rezenter (individueller) Libidobetrag
entzogen wird, sondern auch eine bereits differenzierte (‚‚desexuali-
sierte‘‘) Libidomenge, welche beim normalen Menschen seit unvor-
denklichen Zeiten die Realitätsfunktion besorgte. Eine Wegnahme
der letzten Erwerbungen der Realitätsfunktion (oder Anpassung) muß
notwendigerweise durch einen früheren Anpassungsmodus ersetzt
werden. Wir finden diesen Grundsatz bereits in der Neurosenlehre,
daß nämlich eine infolge Verdrängung fehlschlagende rezente Über-
tragung durch einen alten Übertragungsweg ersetzt wird, nämlich durch
eine Regressivbelebung der Elternimago beispielsweise. In der (Über-
tragungs) Neurose, wo von der Realität bloß der rezentsexuelle Libido-
betrag durch die spezifische Sexualverdrängung weggenommen wird,
ist das Ersatzprodukt eine Phantasie individueller Provenienz und
Tragweite und es fehlen, bis auf Spuren, jene archaischen Züge an den
Phantasien jener Geistesstörungen, bei denen ein Stück allgemein
menschlicher und seit Alters organisierter Realitätsfunktion weg-
!) Spielrein: Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizo-
phrenie. Dieses Jahrbuch, Bd. III, S. 329.
184 C.G. Jung.
gebrochen wird. Dieses Stück kann nur durch ein entsprechendes all-
gemein gültiges archaisches Surrogat ersetzt werden. Ein einfaches
und klares Beispiel für diesen Satz verdanken wir der Forscherarbeit
des leider zu früh verstorbenen Honegger!):
Ein Paranoider von guter Intelligenz, der die Kugelgestalt der
Erde und ihre Rotation um die Sonne sehr wohl kennt, ersetzt in seinem
System die modernen astronomischen Einsichten durch ein bis ins
Detail ausgearbeitetes System, das man ein archaisches nennen
muß, indem die Erde eine flache Scheibe ist und die Sonne darüber
wandert?). (Ich erinnere auch an das im ersten Teil erwähnte Beispiel
vom Sonnenphallus, das wir ebenfalls Honegger verdanken.) Spiel-
rein hat uns ebenfalls einige sehr interessante Beispiele gebracht
von den archaischen Definitionen, welche in der Krankheit die Real-
bedeutungen der modernen Worte zu überwuchern beginnen.
Z. B. hat die Patientin Spielreins die mythologischen Bedeutungen
des Alkohols, des Rauschtrankes, als ‚„Samenerguß“ wieder richtig
aufgefunden?). Sie hat auch eine Symbolik des Kochens, welche ich
in Parallele setzen muß zu der überaus bedeutsamen alchemistischen
Vision des Zosimos®), der in der Höhlung des Altars kochendes
Wasser fand und darin Menschen’). Die Patientin setzt auch Erde
für Mutter‘), ebenso Wasser für Mutter?) Ich verzichte auf fernere
Beispiele, indem weitere Arbeiten aus der Züricher Schule noch eine
Fülle von Dingen dieser Art bringen werden.
Mein obiger Satz von der Ersetzung der gestörten Wirklichkeits-
funktion durch archaische Surrogate wird unterstützt durch ein treff-
liches Paradoxon Spielreins; die Autorin sagt 8. 397 ihrer zitierten
Arbeit: „Ich hatte mehrfach die Illusion, als seien die Kranken
‘) Seine Untersuchungen sind in meiner Hand und ihre Publikation ist
in Vorbereitung.
?) Honegger brachte dieses Beispiel in seinem Vortrage an der privaten
psychoanalytischen Vereinigung in N ürnberg 1910.
*) Spielrein: 1. c., 8. 338, 353 und 387. Zu Soma als ‚„Samenerguß“
vgl. unten. 7
. Vgl. Berthelot: Les Alch&mistes Grecs, und Spielrein:l. c., 8. 353.
4 ) Ich kann nicht umhin zu bemerken, daß diese Vision den ursprünglichen
inn der Alchemie enthüllt: ein ursprünglicher Befruchtungszauber, d. h. ein Mittel,
wie Kind 2
a. ar gemacht werden könnten ohne Mutter. Ich begnüge mich mit dieser
°) Spielrein: 1. c., S. 345,
”) Spielrein: 1. e., S. 338.
Wandlungen und Symbole der Libido. GER R:}:
einfach Opfer eines im Volke herrschenden Aberglaubens
geworden.“ Tatsächlich setzen die Kranken an Stelle der Wirklichkeit
Phantasien, ähnlich den real unrichtigen Geistesprodukten der Ver-
gangenheit, die aber einmal Wirklichkeitsanschauung waren. Wie die
Zosimosvision zeigt, waren die alten Superstitionen Symbolet),
welche Übergänge auch auf die entlegensten Gehiete gestatten. Dies
muß für gewisse archaische Zeitalter sehr zweckmäßig gewesen sein,
denn damit boten sich bequeme Brücken zur Überleitung eines libidi-
nösen Partialbetrages ins Geistige! Offenbar an eine ähnliche biologische
Bedeutung des Symbols denkt auch Spielrein, wenn sie sagt?):
„So scheint mir ein Symbol überhaupt dem Bestreben eines Kom-
plexes — nach Auflösung in das allgemeine Ganze des Denkens seinen
Ursprung zu verdanken. — Der Komplex wird dadurch des Persönlichen
beraubt. — Diese Auflösungs(Transformations)tendenz jedes einzelnen
Komplexes ist die Triebfeder für Dichtung, Malerei, für jede Art von Kunst.“
Wenn wir hier den formalen Begriff ‚Komplex‘ durch den Be-
griff der Libidomenge (= Affektgröße des Komplexes) ersetzen, was
eine vom Standpunkt der Libidotheorie aus berechtigte Maßnahme
ist, so läßt sich Spielreins Ansicht mit der meinigen unschwer zur
Deckung bringen. Wenn ein primitiver Mensch überhaupt weiß, was
ein Zeugungsakt ist, so kann er nach dem Prinzip des kleinsten Kraft-
maßes niemals auf die Idee kommen, die Zeugungsglieder durch Schwert-
griff und Weberschiffehen zu ersetzen (wie in dem obigen Beispiel).
Er müßte denn genötigt sein, ein Analogon zu ersinnen, um ein offenbar
sexuelles Interesse auf einen asexuellen Ausdruck zu
bringen. Das treibende Motiv dieser Überleitung rezentsexueller
Libido auf nicht sexuelle Vorstellungen kann meines Erachtens nur in
einem Widerstand aufgefunden werden, welcher sich der primi-
tiven Sexualität entgegenstellt.
Es scheint, als ob auf diesem Wege phantastischer Analogiebildung
allmählich immer mehr Libido desexualisiert wurde, indem zunehmend
Phantasiekorrelate für die primitiven Verrichtungen der Sexuallibido
eingesetzt wurden. Damit wurde allmähich eine gewaltige Erweiterung
des Weltbildes erzielt, indem immer neue Objekte als Sexualsymbole
assimiliert wurden: Es ist eine Frage, ob nicht überhaupt auf diese
!) Ich muß auch an jene Indianer erinnern, welche die ersten Menschen
aus der Vereinigung eines Schwertgriffes und eines Weberschiffehens hervor-
gehen lassen.
») 1.6.8. 399.
186 C. G. Jung.
Weise der menschliche Bewußtseinsinhalt ganz oder wenigstens zum
großen Teil zustande gekommen ist. Jedenfalls ist es evident, daß
diesem Trieb zur Analogiefindung eine gewaltige Bedeutung für die
menschliche Geistesentwicklung zukommt. Wir müssen Steinthal
durchaus Recht geben, wenn er meint, daß dem Wörtchen ‚„‚gleichwie‘
eine ganz unerhörte wichtigkeit für die Entwicklungsgeschichte des
Denkens zugestanden werden müsse. Es läßt sich leicht denken, daß
die Überleitung von Libido auf phantastische Korrelate die primitive
Menschheit zu einer Reihe der wichtigsten Entdeckungen geführt hat.
IIl.
Die Verlagerung der Libido als mögliche Quelle
der primitiven menschlichen Erfindungen.
Ich will im folgenden versuchen, an einem konkreten Beispiel
die Libidoüberleitung zu schildern : Ich behandelte einmal eine Patientin,
welche an einem katatonen Depressionszustande litt. Da es sich um
eine Introversionspsychose leichteren Grades handelte, so war die
Existenz zahlreicher hysterischer Züge nicht befremdlich. Im Beginn
er analytischen Behandlung verfiel sie einmal, während sie von einer
sehr schmerzlichen Angelegenheit erzählte, in einen hysterischen
Dämmerzustand, in welchem sie alle Zeichen sexueller Erregung
zeigte. (Es deutete auch alles darauf hin, daß sie während dieses Zu-
standes die Kenntnis meiner Gegenwart abgespalten hatte, aus ersicht-
lichen Gründen!) Die Erregung lief aus in einen masturbatorischen
Akt (frietio femorum). Dieser Akt war von einer sonderbaren Geste
begleitet: Sie macht mit dem Zeigefinger der linken Hand
an der linken Schläfe anhaltend sehr heftige rotierende
Bewegungen, wie wenn sie dort ein Loch bohren wollte.
Nachher bestand ‚völlige Amnesie“ für das Vorgefallene, auch war
über die sonderbare Geste mit der Hand nichts zu erfahren. Obschon
diese Handlung unschwer als ein an die Schläfe verlegtes Mund-, Nasen-
oder Ohrenbohren zu erkennen ist, das in das Gebiet des infantilen
ludus sexualis!), der die Sexualbetätigung vorbereitenden Übung,
gehört, so schien mir dieser Eindruck doch bedeutsam: warum, war
mir zunächst nicht klar. Viele Wochen später hatte ich Gelegenheit,
mit der Mutter der Patientin zu sprechen. Ich erfuhr von ihr, daß
!) Natürlich ein Onanievorspiel.
Wandlungen und Symbole der Libido. 187
Patientin schon ein recht sonderbares Kind gewesen sei: zweijährig
zeigte sie schon die Neigung, stundenlang sich rücklings an eine
offene Schranktür zu setzen und mit dem Kopf rhythmisch die Türe
zuzustoßen!), womit sie die ganze Umgebung zur Verzweiflung brachte.
Wenig später fing sie an, anstatt wie andere Kinder zu spielen, im
Kalkbewurf der Hausmauer mit dem Finger ein Loch zu
bohren. Sie tat das mit kleinen drehenden und schabenden Bewegungen
und war stundenlang bei der Arbeit. Den Eltern war sie ein völliges
Rätsel. (Vom 4. Jahre an etwa trat dann Onanie ein.) Es ist klar, daß wir
in dieser frühen infantilen Betätigung die Vorstufe des späteren Handelns
zu erblicken haben. Was als besonders merkwürdig dabei berührt,
ist, daß das Kind 1. die Handlung nicht am eigenen Körper ausführt,
und 2. die Assiduität, mit der es die Tätigkeit ausführt?). Man ist ver-
sucht, diese beiden Konstatierungen in einen Kausalnexus zu bringen
und zu sagen: Weil das Kind diese Handlung nicht am eigenen Körper
vollführt, daher komme vielleicht die Assiduität, indem es beim Bohren
in der Mauer nie zu der Befriedigung gelange, als wenn es die
Handlung am eigenen Körper onanistisch ausführe.
Das zweifellos onanistische Bohren der Patientin läßt sich in eine
sehr frühe Zeit der Kindheit zurückverfolgen, die vor der Zeit der
lokalen Onanie liegt. Jene Zeit ist psychologisch noch recht dunkel,
weil individuelle Reproduktionen noch in hohem Maße fehlen (ähnlich
wie beim Tier). Das zeitlebens Überwiegende beim Tier ist das seiner
Artim allgemeinen Eigentümliche (bestimmte Lebensart), wogegen beim
Menschen später das Individuelle gegenüber dem Rassentypus sich
durchdrückt. Um so mehr muß, die Richtigkeit dieser Überlegung
vorausgesetzt, das anscheinend ganz unbegreiflich individuelle Handeln
dieses Kindes in so frühem Alter auffallen. Wir wissen aus der späteren
Lebensgeschichte dieses Kindes, daß seine Entwicklung, die, wie immer,
unergründlich verwoben ist mit parallellaufenden äußeren Ereignissen,
zu jener Geistesstörung geführt hat, die für den Individualismus und
die Originalität ihrer Produkte ganz besonders bekannt ist, zur
!) Dieses echt katatonische Pendeln mit dem Kopfe sah ich im Falle einer
Katatonika aus allmählich nach oben verlagerten Koitusbewegungen entstehen,
was Freud als Verlegung von unten nach oben längst beschrieben hat. Ich wäre
der Kritik dankbar, wenn sie einmal, statt beständigen Streitens mit Worten
eine solche schlichte Tatsache diskutieren wollte.
2) Die kleinen Bröckel, die dabei herausfielen, steckte sieinden Mund,
und aß sie.
188 C. G. Jung.
Dementia praecox. Das Eigenartige dieser Krankheit scheint, wie wir
oben gezeigt zu haben glauben, auf dem stärkeren Hervortreten der
phantastischen Denkart, des Frühinfantilen überhaupt, zu beruhen;
aus diesem Denken gehen alle jene zahlreichen Berührungen mit mytho-
logischen Produkten hervor, und was wir für originelle und gänzlich
individuelle Schöpfungen halten, sind sehr oft nichts anderes als Bil-
dungen, die denen der Vorzeit zu vergleichen sind. Ich glaube, man
darf dieses Kriterium einmal an alle Bildungen dieser merkwürdigen
Krankheit anlegen, so vielleicht auch an dieses besondere Symptom
des Bohrens. Wir sahen bereits, daß das onanistische Bohren der
Patientin aus einer sehr frühen Jugendzeit stammt, d. h. aus jener
Vergangenheit wieder hervorgerufen wurde, indem die Kranke erst,
nachdem sie mehrere Jahre verheiratet war, wieder in die frühere Onanie
zurückfiel, und zwar nach dem Tode ihres Kindes, mit dem sie sich
durch eine überzärtliche Liebe identifiziert hatte. Als das Kind starb,
traten bei der damals noch gesunden Mutter die frühinfantilen Symp-
tome ein in Form einer kaum verhehlten anfallsweisen Masturbation,
die mit eben diesem Bohren verknüpft war. Wie schon bemerkt, trat
das primäre Bohren ein zu einer Zeit, die der aufs Genitale lokali-
sierten Infantilonanie voranging. Diese Konstatierung ist
insofern von Bedeutung, als dieses Bohren dadurch von einer ähnlichen
späteren Gewohnheit, die nach der genitalen Onanie eintritt, unter-
schieden ist. Die späteren übeln Angewohnheiten stellen in der Regel
einen Ersatz dar für verdrängte genitale Masturbation respektive für
Versuche in dieser Hinsicht. Als solche können diese Gewohnheiten
(Fingerlutschen, Nägelkauen, Zupfen, Ohren- und Nasenbohren usw.)
bis weit in das erwachsene Alter hinein andauern, als regelrechte
Symptome einer verdrängten Libidomenge.
Wie oben bereits angedeutet wurde, betätigt sich die Libido beim
jugendlichen Individuum zunächst ausschließlich in der Zone der
Ermährungsfunktion, wo im Saugakt durch rhythmische Bewegung
die Nahrung aufgenommen wird, unter allen Zeichen der Befriedigung.
Mit dem Wachstum des Individuums und der Ausbildung seiner Organe
schafft sich die Libido neue Wege des Bedürfnisses, der Betätigung
under etdigng Nunmehz gs, ds pindre Model dry
Fihklichtn zu een ae ln ir In en
a
libido“ umzusetzen Die Üb z ir 2 a Sich in „Sexual
ergang geschieht nicht etwa plötzlich
Wandlungen und Symbole der Libido. 18%
in der Pubertätszeit, wie laienhafte Voraussetzung -glaubt, sondern
ganz allmählich im Verlaufe des größeren Teiles der Kindheit. Die Libido
kann sich nur mit Schwierigkeit und ganz langsam (wie immer!) von
der Eigentümlichkeit der Ernährungsfunktion befreien, um in die
Eigentümlichkeit der Sexualfunktion einzugehen. In diesem Über-
gangsstadium sind, soweit ich dies zu beurteilen vermag, zwei Epochen
zu unterscheiden: die Epoche des Lutschens und die Epoche
der verlagerten rhythmischen Betätigung. Das Lutschen
gehört seiner Art nach noch ganz zum Rayon der Ernährungsfunktion,
überragt ihn jedoch dadurch, daß es nicht mehr Ernährungsfunktion
ist, sondern rhythmische Betätigung mit dem Endziel der Lust und der
Befriedigung ohne Nahrungsaufnahme. Als Hilfsorgan tritt hier die
Hand auf. In der Epoche der verlagerten rhythmischen Betätigung
tritt die Hand als Hilfsorgan noch deutlicher hervor, die Lustgewinnung-
verläßt die Mundzone und wendet sich anderen Gebieten zu. Der
Möglichkeiten sind nun viele. Es sind wohl in der Regel zunächst die-
anderen Körperöffnungen, die das Objekt des libidinösen Interesses
werden, sodann die Haut und besondere Stellen derselben. Die an diesen
Orten ausgeführte Tätigkeit, die als Reiben, Bohren, Zupfen usw.
auftreten kann, erfolgt in einem gewissen Rhythmus und dient der-
Erzeugung von Lust. Nach längerem oder kürzerem Verweilen der
Libido an diesen Stationen wandert sie weiter, bis sie in der Sexualzone
anlangt und dort zunächst Anlaß werden kann zu den ersten onanisti--
schen Versuchen. Auf ihrer Wanderung nimmt die Libido nicht Weniges
aus der Ernährungsfunktion mit in die Sexualzone, woraus sich un-
schwer die zahlreichen und innigen Verknüpfungen zwischen Ernährungs--
und Sexualfunktion erklären lassen. Erhebt sich nach erfolgter Be-
setzung der Sexualzone irgend ein Hindernis gegen diese nunmehrige-
Anwendungsform der Libido, so erfolgt nach bekannten Gesetzen
eine Regression auf die nächst zurückliegenden Stationen der beiden
oben erwähnten Epochen. Es ıst nun von besonderer Wichtigkeit,
daß die Epoche der verlagerten rhythmischen Betätigung im großen
und ganzen mit der Zeit der Geistes- und Sprachentwicklung
zusammenfällt. Ich möchte vorschlagen,’ die Periode von der Geburt bis.
zur Besetzung der Sexualzone (die im allgemeinen zwischen dem 3. und.
5. Lebensjahr erfolgen dürfte), als vorsexuelle Entwicklungs-
stufe zu bezeichnen. (Vergleichbar dem Puppenstadium des Schmetter-
lings.) Sie ist gekennzeichnet durch die wechselnde Mischung
von Elementen der Ernährungs- und der Sexualfunktion..
190 0. G. Jung.
Auf diese vorsexuelle Stufe können gewisse Regressionen zurück-
greifen: es scheint, nach den bisherigen Erfahrungen zu schließen,
dies bei der Regression der Dementia praecox die Regel zu sein. Ich
möchte zwei kurze Beispiele erwähnen: der eine Fall betrifft ein junges
Mädchen, das in der Verlobungszeit an Katatonie erkrankte. Wie sie
mich zum ersten Male sah, kam sie plötzlich auf mich zu, umarmte
mich und sagte: ‚Papa, gib mir zu essen !'" Der andre Fall betrifft eine
junge Magd, die sich beklagte, man verfolge sie mit Elektrizität und
bringe ihr damit ein sonderbares Gefühl an den Genitalien bei, „wie
wenn es da unten esse und trinke‘.
Diese regressiven Phänomene zeigen, daß auch von der Distanz
des modernen Geistes aus noch jene früheren Stationen der Libido
einer regressiven Besetzung fähig sind. Man kann daher annehmen,
daß in früheren Entwicklungsstadien der Menschheit dieser Weg noch
weit gangbarer war als heute. Es wäre daher von prinzipiellem
Interesse, zu erfahren, ob sich Spuren davon in der Geschichte erhalten
haben.
Wir verdanken es der verdienstvollen Arbeit Abrahams!),
daß wir auf eine völkergeschichtliche Phantasie des Bohrens auf-
merksam wurden, welche in der bedeutenden Schrift Adalbert Kuhns?)
eine besondere Bearbeitung gefunden hat. Durch diese Untersuchungen
werden wir mit der Möglichkeit bekannt gemacht, daß der Feuerbringer
Prometheus ein Bruder des indischen Pramantha, nämlich des
männlichen, feuerreibenden Holzstückes sein könnte. Der indische
Feuerholer heißt Mätarievan, und die Tätigkeit des Feuerbereitens
wird in den hieratischen Texten immer mit dem Verbum manthämi®)
bezeichnet, welches schütteln, reiben, durch Reiben hervor-
‚bringen heißt. Kuhn hat dieses Verbum in Beziehung zum Griechi-
schen saydavw gesetzt, welches „lernen“ heißt, und ebenso die Be-
griffsverwandtschaft erläutert*). Das Tertium comparationis dürfte im
‘) Traum und Mythus, Deuticke, Wien 1909.
a), A. Kuhn: Mythologische Studien. Bd. I: Die Herabkunft des Feuers
und des Göttertrankes. 2. Aufl., Güttersloh, 1886. Eine sehr gut zu lesende,
auszugsweise Mitteilung des Inhalts findet sich bei Steinthal: Die ursprüng-
liche Form der Sage von Prometheus. Zeitschr f. vö {
; . ft. Völkerpsychol h-
wissenschaft. Bd. II, 1862, ebenso bei Abraham. I Bet ee
®) Auch mathnämi und mäthäyati. Der W
eine besondere Bedeutung zu. Urzel; Mamdh. odoR Rai Be
*) Zeitschr. f. vergl. Sprachforschung, II, 395 u. IV, 124.
Wandlungen und Symbole der Libido. 191
Rhythmus liegen (das Hin- und Herbewegen im Geiste). Nach
Kuhn soll die Wurzel manth oder math über uaddavo (uddnua,
uddnoıs), roo-umd&oucaı auf Llooundeös führen, der bekanntlich der
griechische Feuerräuber ist, Durch ein im Sanskrit allerdings nicht
belestes Wort ‚„pramäthyus‘‘, das von pramantha her vermittelt und
dem die Doppelbedeutung von ‚‚Reiber“ und ‚Räuber‘ zukäme, wird
der Übergang auf Prometheus bewerkstelligt. Dabei verursacht aber
die Vorsilbe ‚‚pra‘ besondere Schwierigkeit, so daß die ganze Ableitung
von einer Reihe von Autoren bezweifelt und zum Teil für verfehlt
gehalten wird. Es wird dagegen hervorgehoben, daß, wie der thurische
Zeus den hier besonders interessierenden Beinamen Iloo-uavdeds
führt, so könnte auch Iloo-undeis gar kein ursprüngliches indo-
germanisches Stammwort, das zu skr. pramantha Beziehung hatte,
sein, sondern wäre nur Beiname. Dieser Auffassung kommt eine
Hesychglosse entgegen: ’Idas: 6 @v» Tiravmv xnov& TTooundevs.
Eine andere Hesychglosse erklärt Wawouaı (datvw erhitzen), als
degualvouaı, wodurch für ’/Yas die Bedeutung ‚‚der Flammende“
analog zu Aw» oder Dieydas herauskommt!). Die Beziehung
von Prometheus zu pramantha dürfte demnach wohl kaum eine so
direkte sein, wie Kuhn vermutet. Die Frage einer indirekten Be-
ziehung ist damit nicht ausgeschlossen. Vor allem ist Hooundevs
auch als Beiname zum ’Idds von großer Bedeutung, indem der ‚„‚Flam-
mende“ der ‚„‚Vorbedenker“ ist. (Pramati = Vorsorge ist auch Attribut
des Agni, obschon pramati anderer Ableitung ist). Prometheus aber
gehört auch dem Stamme der Phlegyer an, welche von Kuhn in un-
bestrittene Beziehung zu der indischen Priesterfamilie der Bhrgu
gesetzt werden?). Die Bhrgu sind wie Mätarigvan (der in der ‚Mutter
Schwellende‘) auch Feuerholer. Kuhn bringt eine Stelle bei, wonach
Bhrgu auch aus der Flamme entsteht, also gleich Agni. (,‚In der Flamme
entstand Bhrgu, Bhrgu geröstet, verbrannte nicht.‘‘) Diese Anschauung
führt auf eine verwandte Wurzel von Bhrgu, nämlich skr. bhräy —
leuchten, lat. fulgeo und griech. pA&yo (skr. bhargas = Glanz, lat.
fulgur) Bhrgu erscheint demnach als der ‚„Leuchtende“. BAeydas
heißt eine gewisse Adlerart wegen ihrer brandgelben Farbe.
Klar ist der Zusammenhang mit gA&yew = brennen. Die Phlegyer
!) Bapp in Roschers Lex. Sp. 3034.
?) Bhrgu = p/eyv, ein anerkannter Lautzusammenhang. Siehe Roscher,
Sp. 3034, 54.
192 C. G. Jung.
sind also die Feueradler!). Zu den Phlegyern gehört auch Prometheus.
Der Weg von Pramantha zu Prometheus geht nicht durch das Wort,
sondern durch die Anschauung und wir haben deshalb wohl für Pro-
metheus dieselbe Deutung anzunehmen, die sich aus der indischen
Feuersymbolik für den pramantha ergibt?).
Neuerdings sind die kompetenten Philologen wieder mehr der
Ansicht, daß Prometheus erst nachträglich seine Bedeutung als Vor-
bedenkender (belegt durch die Figur der ‚„Epimetheus“) angenommen
und ursprünglich doch mit pramantha, manthämi, mathäyati zu tun
habe, dagegen etymologisch mit roound&ouaı, uddnua, uavddvo nicht
zusammengebracht werden dürfe. Umgekehrt hat das mit Agni ver-
bundene pramati — Vorsorge mit manthämi nichts zu tun. Was man
also bei dieser verwickelten Sachlage einzig konstatieren kann, ist,
daß wir das Denken respektive das Vorsorgen, Vorbedenken in Ver-
bindung mit der Feuerbohrung vorfinden, ohne daß etymologisch
sichere Beziehungen zwischen den dafür gebrauchten Worten gegen-
‘) Der Adler als Feuertotem bei Indianern, siehe Roscher, Sp. 3034, 60.
®) Der Stamm ‚‚manth‘“ geht nach Kuhn im Deutschen in mangeln,
rollen (von der Wäsche) über. Manthara ist der Butterguirl. Als die Götter den
smrta (Unsterblichkeitstrank) durch die Umquirlung des Ozeans erzeugten,
gebrauchten sie den BergMandara als Quirl (siehe Kuhn: l. ce., 8. 17 ff.). Stein-
thal macht aufmerksam auf den lateinischen Ausdruck der poetischen Sprache:
mentula= männliches Glied, wobei ment — manth gesetzt wäre. Ich füge
noch hinzu: mentula ist als Diminutiv zu menta oder mentha (wivda) Minze
zu denken. Im Altertum hieß die Minze ‚‚Krone der Aphrodite‘ (Diose., II, 154).
Apulejus nennt sie ‚‚mentha venerea‘“, sie war ein Aphrodisiacum. (Der Gegen-
sinn findet sich bei Hippokrates: Si quis eam saepe comedat, ejus genitale
semen ita colliquescit, ut effluat, et arrigere prohibet et corpus imbecillum reddit,
und nach Dioscorides ist die Minze antikonzeptionelles Mittel; siehe
Aigremont: Volkserotik und Pflanzenwelt, Bd. I, 8. 127.) Von der Menta aber
sagten die Alten auch: „Menta autem appellata, quod suo odore mentem
feriat — mentae ipsius odor animum excitat“. Das führt uns auf den Stamm
ment — in mens: Geist — (engl. mind), womit die parallele Entwicklung zu
pramantha — I7ooundedg — vollzogen wäre. Beizufügen ist noch, daß ein besonders
starkes Kinn mento heißt (gew. mentum). Eine besondere Entwicklung des
Kinnes wird bekanntlich auch der priapischen Figur des Pulcinell beigegeben,
ebenso die spitzen Bärte (und Ohren) der Satyren und sonstigen priapischen
Dämonen, wie überhaupt alle Hervorragungen des Körpers männliche und alle
Vertiefungen oder Höhlen weibliche Bedeutung annehmen können. (Dies gilt
auch für alle anderen belebten und unbelebten Gegenstände. Vgl. Maeder: Psych.-
Neurol. Wochenschr., X. Jahr :
.. . gan R I:
fast mehr als unsicher. 8). Jedoch ist dieser ganze Zusammenhang
Wandlungen und Symbole der Libido. 193
wärtig nachzuweisen wären, Für gie Etymolo gie wird neben der Migration
der Wortstämme die Wanderung oder autochthone Wiederentstehung
gewisser urtümlicher Bilder oder Anschauungsweisen von ausschlag-
gebender Bedeutung sein.
Der Pramantha als das Werkzeug des Manthana (des Feueropfers)
wird im Indischen rein sexuell aufgefaßt: der Pramantha als Phallus
oder Mann, das untenliegende gebohrte Holz als Vulva oder Weibt).
Das erbohrte Feuer ist das Kind, der göttliche Sohn Agni. Kultisch
heißen die beiden Hölzer Purüravas und Urvaci und werden personifi-
ziert gedacht als Mann und Weib. Aus dem Genitale des Weibes wird
das Feuer geboren?). Eine besonders interessante Darstellung der
kultischen Feuererzeugung (manthana) gibt Weber?°):
„Ein bestimmtes Opferfeuer wird durch Reiben zweier Hölzer ent-
zündet; man nimmt ein Stück Holz mit den Worten: ‚Du bist des Feuers
Geburtsort‘, legt darauf zwei Grashalme: ‚Ihr seid die beiden Hoden‘,
auf diese die adharärani (das untergelegte Holz), ‚du bist Urvaci‘, salbt die
uttaräranı (das darauf zu legende Holzscheit) mit Butter: ‚Du bist Kraft‘
(semen, o Butter), legt sie dann auf die adhärarani: ‚Du bist Purüravas‘
und reibt beide dreimal: ‚Ich reibe dich mit dem Gäyatrimetrum‘, ‚Ich
reibe dich mit dem Trishtubhmetrum‘, ‚Ich reibe dich mit dem Jagati-
‘cc
metrum'.
Die sexuelle Symbolik dieser Feuererzeugung ist unverkennbar;
wir sehen hier auch die Rhythmik, das Metrum an ursprünglicher
Stelle als Sexualrhythmus, der sich über die Rhytkmisierung des
Brunstrufes zur Musik erhebt. Ein Lied des Rigveda (III, 29, 1—3)
bringt dieselbe Auffassung und Symbolik:
„Das ist das Drehholz, der Zeuger (Penis) ist bereitet, bring die
!) Abraham erwähnt, daß im Hebräischen die Bedeutung der Worte für
Mann und Weib auf diese Symbolik sich beziehen.
2) „Was das gulya (pudendum) genannt wird, das heißt die yoni (Geburts-
stätte) des Gottes; das Feuer, welches dort geboren wird, heißt segenbringend“.
Kätyäyanas Karmapradipa I, 7, übersetzt von Kuhn, Herabkunft des Feuers,
S. 67. Der etymologische Zusammenhang bohren — geboren ist möglich.
Das germanische börön (bohren) ist urverwandt mit lat. forare (id.) und gr. pagdo —=
pflügen. Es wird eine idg. Wurzel bher mit der Bedeutung tragen vermutet,
sanskr. bhar-, gr. peo-, lat. fer-; daraus althd. beran = gebären, engl. to bear,
lat. fero und fertilis, fordus (trächtig), gr. @00ög (id... Walde (Lat. Etym. s.
ferio) stellt forare allerdings zu der Wurzel bher-. Vgl. dazu unten die phallische
Pilugsymbolik.
3) Weber: Indische Studien, I, 197, zitiert Kuhn: I. e., S. 71.
Jahrbuch für psychoanalyt. und psychopathol, Forschungen, IV. 13
194 0. 6. Jıias
Herrin des Stammes!) herbei, den Agni laß uns quirlen nach altem
Brauch. >
In den beiden Hölzern liegt der jätavedas, wie in den Schwangern
die wohlbewahrte Leibesfrucht; tagtäglich ist Agni zu preisen von den sorg-
samen, opferspendenden Menschen.
In die Dahingestreckte laß hinein (den Stab), der du deß kundig bist;
sogleich empfängt sie, hat den Befruchtenden geboren; mit rötlicher Spitze,
leuchtend seine Bahn ward der Iläsohn in dem trefflichen Holze geboren‘).
Neben der unzweideutigen Koitussymbolik bemerken wir, daß
der Pramantha auch zugleich der Agni, der erzeugte Sohn ist: der
Phallus ist der Sohn oder der Sohn ist der Phallus, daher Agni in der
vedischen Mythologie triadischen Charakter hat. Damit gewinnen wir
wieder den Anschluß an den oben besprochenen kabirischen Vater-
Sohn-Kult. Auch in der heutigen deutschen Sprache haben wir An-
klänge an die uralten Symbole bewahrt: Ein Junge wird als „Bengel“
bezeichnet, im Hessischen als ‚‚Stift‘‘ oder ‚‚Bolzen?)‘‘ . Die Artemisia
Abrotanum L., welche zu Deutsch ‚„Stabwurz‘ heißt, wird im Eng-
lischen als boy’s-love bezeichnet. (Die Vulgärbezeichnung des Penis
als Knabe wurde bereits von Grimm und A. angemerkt.) Als aber-
gläubischer Gebrauch wurde die kultische Feuererzeugung in Europa
bis ins XIX. Jahrhundert festgehalten. Kuhn erwähnt einen solchen
Fall noch aus dem Jahre 1828, der sich in Deutschland ereignete.
Man hieß die feierliche Zauberhandlung das ‚‚Nodfyr“, Notfeuer‘)
und gebrauchte den Zauber hauptsächlich gegen die Viehseuchen.
Kuhn erwähnt aus der Chronik von Lanercost vom Jahre 1268 einen
‘) Oder der Menschen überhaupt. Vicpatni ist das weibliche Holz, vigpati,
ein Attribut des Agni, das männliche. Das Feuerzeug ist der Ursprung des Men-
schengeschlechtes aus derselben verkehrten Logik wie bei den oben erwähnten
Weberschiffehen und Schwertgriff. Der Koitus als Ursprung des Menschen-
geschlechtes soll dadurch negiert werden aus den unten noch näher zu erörternden
Motiven eines ursprünglichen Widerstandes gegen die Sexualität.
?) Das Holz als Symbol der Mutter ist der heutigen Traumforschung bekannt.
Vgl. Freud: Traumdeutung, 8. 211. Als Symbol des Weibes deutet es Stekel
(Sprache des Traumes, S. 128) an. Holz ist auch Vulgärbezeichnung für den
Busen („Holz vor dem Hause“). Die christliche Holzsymbolik ist ein Kapitel
für sich. „Uäsohn“: II& heißt die Tochter Manus, des Einzigen, der mit Hilfe
seines Fisches die Sintflut überstanden hat und dann mit seiner Tochter die Men-
schen wiedererzeugte.
bi Hirt: Etymol. der neuhochd. Sprache, 8. 348.
FERRER as ee Carlomanni von 942 verbot ‚‚illos sacrilegos ignes quos
y: vooant . Vgl. Grimm: Mythol., 4. Aufl., 8. 502. Hier sind auch Be-
schreibungen derartiger Feuerzeremonien zu finden.
Wandlungen und Symbole der Libido. 195
besonders merkwürdigen Fall von Notfeuer!), dessen Zeremonien die
phallische Grundbedeutung klar erkennen lassen:
„Pro fidei divinae integritate servanda recolat lector, quod cum
hoc anno in Laodonia pestis grassaretur in pecudes armenti, quam vocant
usitate Lungessouht, quidam bestiales, habitu claustrales non animo,
docebant idiotas patriae ignem confricetione de lignis educere et
simulacrum Priapi statuere, et per haec bestiis succurrere, Quod cum
unus laicus Cisterciensis apud Fentone fecisset ante atrium aulae, ac in-
tinetis testiculis canis in aquam benedictam super anımalia
sparsisset etc.‘
Diese Beispiele, welche eine klare Sexualsymbolik der Feuer-
erzeugung erkennen lassen, erweisen dadurch, daß sie aus verschiedenen
Zeiten und verschiedenen Völkern stammen, die Existenz einer durch-
gehenden Neigung, der Feuererzeugung nicht nur magische, sondern
auch sexuelle Bedeutung beizulegen. Das kultische oder zauberische
Wiederholen dieser uralten, längst überholten Erfindung zeigt, wie
sehr der menschliche Geist in alten Formen perseveriert und wie tief
eingewurzelt diese uralte Reminiszenz des Feuerbohrens ist, Man
wird zunächst geneigt sein, in der Sexualsymbolik der kultischen
Feuererzeugung eine relativ späte Zutat der Priestergelehrsamkeit
zu erblicken. Dies mag wohl berechtigt sein für die kultische Elaboration
des Feuermysteriums. Ob aber nicht ursprünglich die Feuererzeugung
überhaupt ein Sexualakt, d. h. ein Koitusspiel war, das ist noch
dıe Frage. Daß dergleichen bei sehr primitiven Völkern vorkommt,
wissen wir von dem australischen Stamm der Watschandies®), welche
im Frühling folgenden Befruchtungszauber aufführen: Sie graben ein
Loch in den Boden, so geformt und mit Büschen so umsteckt, daß es
ein weibliches Genitale nachahmt. Um dieses Loch tanzen sie die ganze
Nacht, wobei sie die Speere so vor sich halten, daß sie an einen Penis
in erectione erinnern. Sie umtanzen das Loch und stoßen die Speere
in die Grube, indem sie dazurufen: pulli nira, pulli nira, wataka! (non
fossa, non fossa, sed cunnus!). Solche obszönen Tänze kommen auch
bei anderen niederen Stämmen vor?).
In diesem Frühlingszauber sind die Elemente des Koitusspieles
enthalten: Loch und Phallus*). Dieses Spiel ist nichts anderes als ein
1) Kuhn, l. e., 8. 43.
2) Preuss: Globus, LXXXVI, 1905, 8. 358.
3) Vgl. dazu Fr. Schultze: Psychologie der Naturvölker. 8. 161 £.
4) Dieses primitive Spiel führt zur phallischen Pflugsymbolik. 4ooüv
heißt pflügen und besitzt daneben die poetische Bedeutung von schwängern.
13*
196 C. G, Jung.
Koitusspiel, d. h. ursprünglich war dies Spiel wohl einfach Koitus
in der Form der sakramentalen Begattung, welche noch lange ein
geheimer Bestandteil gewisser Kulte war und in Sekten wieder auf-
genommen wurdet). So lassen sich in den Zeremonien der Zinzen-
Das lateinische arare heißt bloß pflügen, die Phrase aber ‚‚fundum alienum arare“
heißt: ‚‚die Kirschen in Nachbars Garten pflücken“. Eine treffliche Darstellung
des phallischen Pfluges findet sich auf einer Vase des archäologischen Museums in
Florenz: Es sind darauf eine Reihe von 6 nackten ithyphallischen Männern abge-
bildet, die einen phallisch dargestellten Pflug tragen (Dieterich: Mutter Erde,
S. 107 ff.). Der, ‚carrus navalis“ (Carneval) unseres Frühlingsfestes war im Mittelalter
bisweilen ein Pflug. (Hahn: Demeter und Baubo. Zitiert b. Dieterich, l.c., S. 109.)
Herr Dr. Abegg in Zürich macht mich aufmerksam auf die geistreiche
Arbeit von R. Meringer: Wörter und Sachen. Indogerm. Forschungen, 16,
179/84, 1904. Wir werden hier mit einer sehr weitgehenden Verschmelzung der
Libidosymbole mit äußerem Stoff und äußerer Tätigkeit bekannt gemacht, welche
unsere obigen Überlegungen in außerordentlichem Maße stützt. Meringers
Überlegung geht von zwei indogermanischen Wurzeln aus, uen und ueneti.
Idg. *uen Holz, ai. van, vana. Agni ist garbhas vanam, ‚Leibesfrucht
der Hölzer‘.
Idg. * ueneti hieß ‚er ackert‘; damit ist das Anbohren des Bodens mittels
eines spitzen Holzes und das darauffolgende Aufreißen des Bodens gemeint. Dieses
Verbum selbst ist nicht belegt, da die damit bezeichnete primitive Bearbeitung
des Ackers (‚Hackbau‘) schon sehr früh ausgestorben ist. Als man eine bessere
Behandlung des Ackers kennen lernte, ging die Bezeichnung des primitiven Kultur-
bodens auf die Weide, die Trift über; hierher got. vinja vow); altisl. vin Gras-
platz, Weide. Dazu vielleicht auch die is]. Vanen als Ackerbaugötter.
Aus ‚ackern' entsteht coire (dieser Zusammenhang wäre wohl umzukehren);
dazu idg. * uenos ‚Liebesgenuß‘, lat. venus. (Vgl. dazu die Wurzelbedeutung uen =
Holz!)
Aus coire — ‚leidenschaftlich erstreben‘; vgl. ahd. vinnan ‚toben‘. Dazu
auch got. vens &Arig, ahd. wän Erwartung, Hoffnung; skrt. van begehren; ferner
‚Wonne‘; altisl. vinr Geliebter, Freund. Aus der Bedeutung ‚ackern‘ entsteht
‚wohnen‘; dieser Übergang hat sich nur im Germanischen vollzogen. Aus wohnen
gewöhnen, gewohnt sein; altisl. vanr ‚gewohnt‘. Aus ‚ackern‘ ferner > sich mühen,
plagen; altisl. vinna arbeiten; ahd. winnan sich abarbeiten: — got. vinnan rdoyeı,
vunns dönmua. Aus ‚ackern‘ entsteht anderseits ‚gewinnen, erlangen‘, ahd.
giwinnen; aber auch ‚verletzen‘: got. vunds ‚wund‘. »» Wund“ im ursprünglichsten
er somit zuerst der durch den Hackbau aufgerissene Boden. Aus ‚ver-
letzen‘ dann auch ‚schlagen, besiegen‘; ahd. winna Streit; altsächs, winnan kämpfen.
1) Der alte Brauch des „Brautlagers“ auf dem Acker, welches dazu bestimmt
war, den Acker fruchtbar zu machen, enthält den Urgedanken in elementarster
a ala em eg Weise ausgedrückt: So wie ich das
überaufdie Bebauaagund Betr ar >as Symbol leitet Sexuallibido
a BE eoselhat = tungderErde. Vgl. dazu Mannhardt
4 > eichliche Belege zu finden sind.
Wandlungen und Symbole der Libido. 197
dorfischen Religionsübung Anklänge an das Koitussakrament auf-
weisen, ebenso in anderen Sekten. (Vgl. dazu das letzte Kapitel.)
Man kann sich unschwer denken, daß, wie die oben erwähnten
Australneger das Koitusspiel in dieser Weise aufführen, dasselbe Spiel
auch In einer andern Weise aufgeführt werden könnte, und zwar eben
in Form der Feuererzeugung. Statt durch zwei auserwählte Menschen
wurde der Koitus durch zwei Simulacra von Menschen dargestellt,
durch Purüravas und Urvaci, durch Phallus und Vulva, durch Bohrer
und Loch. Wie hinter anderen Gebräuchen der primitive Gedanke
der sakramentale Beischlaf ist, so auch hier die Urtendenz eigentlich
der Akt selber ist. Denn der Akt der Befruchtung ist der Höhepunkt,
das eigentliche Fest des Lebens und wohl würdig zum Kern eines
religiösen Mysteriums zu werden. Wie wir schließen dürfen, daß die
Erdlochsymbolik der Watschandies zunächst an Stelle des Koitus
tritt mit dem weiteren Horizont der Erdbefruchtung, so wäre eben-
falls die Feuererzeugung als Ersatz des Koitus zu denken, und
zwar wäre aus diesem Raisonnement konsequent weiter zu schließen,
daß die Erfindung der Feuerbereitung eben dem Drange,
ein Symbol für den Sexualakt einzusetzen,
zu ver-
danken ist!).
Wir kehren hier für einen Moment zum infantilen Symptom
des Bohrens zurück. Denken wir uns, daß ein erwachsener kräftiger
Mann mit derselben Ausdauer und der entsprechenden Energie wie
dieses Kind, das Bohren mit zwei Hölzern ausführt, so kann er bei diesem
Spiel leicht die Feuererfindung machen. Von größter Bedeutung bei
!) Spielreins Kranke (Jahrbuch III, S. 371) bringt Feuer und Zeugung
ebenfalls unmißverständlich zusammen; sie sagt darüber folgendes: ‚‚Das Eisen
braucht man zum Zwecke der Erddurchbohrung, zum Zwecke des Feuerschlusses.
(Dazu ist aus der Mithrasliturgie anzumerken: In der Anrufung des feurigen
Gottes heißt es: 6 Ovvönoag nveiuarı ra Tioiwa xAeldoa TOÜ ObgavoD:
„Der du mit dem Geisthauch die feurigen Schlösser des Himmels verschlossen
hast — öffne mir.‘“‘) „Mit dem Eisen kann man aus dem Steine kalte Menschen
schaffen.“ Die Erddurchbohrung hat beiihr Befruchtungs- oder Geburtsbedeutung.
S. 382 sagt sie: „„Mit dem glühenden Eisen kann man den Berg durchbohren.
Das Eisen wird glühend, wenn man es in einen Stein bohrt.“
Vgl. dazu die Etymologie von bohren und gebären (oben). In ’Oiseau bleu
von Maeterlinck finden die beiden Kinder, die im Lande der ungeborenen
Kinder den blauen Vogel suchen, einen Knaben, der in der Nase bohrt. Von ihm
heißt es: Er werde ein neues Feuer erfinden, um die Erde wieder zu er-
wärmen, wenn sie erkaltet sein wird.
198 ©. G. Jung.
dieser Arbeit ist der Rhythmust). Diese Hypothese scheint mir psycho-
logisch wohl möglich. Es soll damit nicht gesagt sein, daß einzig auf
die Weise die Feuererfindung gemacht worden sei. Ebensogut kann sie
beim Feuersteinschlagen erfolgt sein. Das Feuer wird auch wohl kaum
bloß an einem Ort entdeckt worden sein. Was ich hier konstatieren
möchte, ist bloß der psychologische Prozeß, dessen symbolische An-
deutungen auf eine derartige Möglichkeit der Feuererfindung oder der
Feuerbereitung hinweisen.
Die Existenz des primitiven Koitusspiels- oder -ritus erscheint
mir hinlänglich erwiesen. Dunkel ist nur die Nachdrücklichkeit und
Energie des rituellen Spieles. Bekanntlich sind ja diese primitiven
Riten öfter von sehr blutigem Ernste und werden mit ungemeinem
Energieaufwand durchgeführt, was als ein großer Kontrast zu der
notorischen Faulheit primitiver Menschen erscheint. Dadurch verliert
die rituelle Handlung ganz den Charakter des Spieles und gewinnt
den der absichtlichen Anstrengung. Wenn gewisse Negerstämme
eine Nacht lang nach 3 Tönen in monotonster Weise tanzen können,
so fehlt für unser Gefühl daran der Charakter des Spielerischen gänzlich,
es mutet mehr an wie Übung. Es scheint eine Art Zwang zu bestehen,
Libido in derartige rituelle Betätigung überzuleiten, Wenn der Stoff
der Ritualhandlung der Sexualakt ist, so ist wohl anzunehmen, daß
er eigentlich Gedanke und Ziel der Übung ist. Unter diesen Umständen
erhebt sich aber die Frage, warum der primitive Mensch den $exual-
akt mit Anstrengung symbolisch darzustellen sich bemühe respek-
tive (wenn diese Fassung als zu hypothetisch erscheinen sollte) seine
Energie in solchem Maße anstrenge, um praktisch gänzlich wertlose
Dinge herzustellen, die ihn anscheinend nicht einmal besonders amü-
sieren?). Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß der Sexualakt auch
dem primitiven Menschen wünschenswerter vorkommt als absurde
er noch anstrengende Übungen. Es ist wohl nicht anders möglich,
a he aaa. tr prünglichen gem
von en Be Bad Hirapnanu8
orgiastischer Kulte deutet Nast ee re Fr; Be
heit des Lebens hin, so weni E: u Sr a
s 8 wie die asketische Symbolik des Christen-
!) Vgl. dazu die interessanten N. - m .
Beeren tue, n Nachweise bei Bücher: Arbeit und Rhyth-
*) Das Amüsement ist zweif
1 it vi N = i
nicht mit allen. Es gibt sehr un N verknüpft, jedoch lange
angenehme Dinge.
Wandlungen und Symbole der Libido. 199
tums auf eine besondere Sittlichkeit der Christen. Man verehrt das,
was man nicht hat oder nicht ist.) Dieser Zwang führt, um in der oben
formulierten Terminologie zu reden, einen gewissen Libidobetrag
von der eigentlichen Sexualbetätigung weg und schafft für das Verlorene
symbolischen und annähernd gültigen Ersatz. Diese Psychologie ist
bestätigt durch die oben erwähnte Watschandiezeremonie: während
der ganzen Zeremonie darf keiner der Männer auf eine
Frau blicken. Dieses Detail belehrt uns wiederum, wovon die Libido
weggezogen werden soll. Damit erhebt sich aber die dringende Frage,
woher dieser Zwang komme? Wir haben oben schon einmal angedeutet,
daß sich der primitiven Sexualität ein Widerstand entgegenstelle,
der zu einem seitlichen Austreten der Libido auf Ersatzhandlungen
(Analoga, Symbole) führte. Es ist undenkbar, daß es sich dabei um
irgend einen äußern Widerstand, um ein wirkliches Hindernis handle,
indem es keinem Wilden einfällt, seine schwer erreichbaren Jagdtiere
mit Rıtualzauber einzufangen, sondern es handelt sich um einen innern
Widerstand, indem Wollen gegen Wollen, Libido gegen Libido
tritt, denn ein psychologischer Widerstand entspricht als energetisches
Phänomen einem gewissen Libidobetrag. Der psychologische Zwang
zur Libidoüberleitung beruht auf einer ursprünglichen Uneinigkeit
des Wollens. Ich werde andernorts von dieser anfänglichen Spaltung
der Libido zu handeln haben. Hier dürfen wir uns nur mit dem Probleme
der Libidoüberleitung beschäftigen. Die Überleitung erfolgt, wie mehr-
fach angedeutet wurde, auf dem Wege der Verlegung auf ein Analogon.
Die Libido wird an der eigentlichen Stelle weggenommen und auf ein
anderes Substrat übersetzt.
_ Der Widerstand gegen die Sexualität zielt darauf ab, den Sexual-
akt zu verhindern, er sucht also Libido aus der Sexualfunktion heraus-
zudrängen. Wir sehen z. B. bei Hysterie, wie die spezifische Verdrängung
den aktuellen Übertragungsweg verlegt, dadurch ist die Libido genötigt,
einen andern Weg einzuschlagen, und zwar einen frühern, nämlich
den inzestuösen Weg zu den Eltern (in letzter Linie). Reden wir
aber vom Inzestverbot, welches die allererste Sexualübertragung
verhindert, dann gestaltet sich die Sachlage insofern anders, als dann
kein anderer früherer Realübertragungsweg vorhanden ist — außer der
vorsexuellen Entwicklungsstufe, wo die Libido noch zum Teil
Ernährungsfunktion war. Durch eine Regression auf die vorsexuelle
Stufe wird die Libido quasi desexualisiert. Da nun aber das Inzest-
verbot nur eine temporäre und bedingte Einschränkung der Sexualität
200 ©. G. Jung.
bedeutet, so wird nur derjenige Libidobetrag, welchen man am besten
als den inzestuösen Anteil bezeichnet, auf die vorsexuelle Stufe
zurückgedrängt; die Verdrängung betrifft also nur die Sexuallibido,
die sich dauernd bei den Eltern fixieren möchte. Der Sexuallibido
wird also nur der inzestuöse Anteil entzogen, auf die vorsexuelle Stufe
zurückgedrängt und dort, wenn die Operation gelingt, desexualisiert,
wodurch dieser Libidobetrag für eine asexuale Verwendung geschickt
wird. Es ist aber anzunehmen, daß die Operation nur mit Schwierig-
keiten bewerkstelligt wird, indem die inzestuöse Libido sozusagen
künstlich aus der Sexuallibido abgespalten werden muß, mit der
sie seit alters (durch die ganze Tierreihe) ununterscheidbar verknüpft
war. Die Regression des inzestuösen Anteils muß daher nicht nur mit
großen Schwierigkeiten erfolgen, sondern auch einen beträchtlichen
Sexualcharakter in die vorsexuelle Stufe hineintragen. Die Folge davon
ist, daß die hieraus entspringenden Phänomene zwar ganz den Charakter
der Sexualhandlung an sich tragen, aber doch de facto keine Sexual-
handlung mehr sind; sie entspringen der vorsexuellen Stufe und sind
unterhalten durch verdrängte Sexuallibido, daher ihnen doppelte
Bedeutung zukommt. So ist das Feuerbohren ein Koitus (und zwar
ein inzestuöser), aber ein desexualisierter, der seinen unmittelbaren
Sexualwert verloren hat, dafür aber indirekt der Propagation der
Spezies förderlich ist. Die vorsexuelle Stufe ist charakterisiert durch
zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten, weil die Libido dort ihre
definitive Lokalisation noch nicht gefunden hat. Es erscheint daher
verständlich, daß ein Libidobetrag, der regressiv diese Stufe wieder
betritt, sich mannigfachen Anwendungsmöglichkeiten gegenüber sieht.
Vor allem tritt ihm die Möglichkeit einer rein onanistischen Be-
tätigung entgegen. Da es sich bei dem regredierenden Libidoanteil
aber um Sexuallibido handelt, deren letzte Bestimmung die Propagation
st, daher ganz auf das äußere Objekt geht (Eltern), so wird sie diese
Bestimmung als ihren wesentlichen Charakter auch mit introvertieren.
Die Folge davon ist, daß die rein onanistische Betätigung sich als un-
genügend erweist und ein äußeres Objekt aufgesucht werden muß, dasan
die Stelle des Inzestobjektes tritt. Den Idealfall eines derartigen Objextes
er nr 8 nde Mutter Erde dar. Die Psychologie
Sezuallibido den Koitus "ri oa ü a a:
des Ackerbaues. In MB erandtun, Beer ii as: Bag
a Fanest. Die EUER a: ung des Ackerbaues mischt sich Hunger
e der Mutter Erde und der gesamte darauf
Wandlungen und Symbole der Libido. 201
gerichtete Aberglaube sahen in der Bebauung der Erde die Befruchtung
der Mutter. Das Ziel der Handlung ist aber ein desexualisiertes, denn
es Ist die Ackerfrucht und die in ihr liegende Nahrung. Die aus dem
Inzestverbot erfolgende Regression führt in diesem Fall zur Wieder-
besetzung der Mutter, diesmal aber nicht als Sexualobjekt, sondern
als Ernährerin.
Einer ganz ähnlichen Regression auf die vorsexuelle Stufe, speziell
auf die zunächst liegende Stufe der verlagerten rhythmischen Betätigung,
scheinen wir die Erfindung des Feuers zu verdanken. Die aus dem
Inzestverbot introvertierte Libido (mit der genaueren Bestimmung
der motorischen Bestandteile des Koitus) stößt, auf vorsexueller Stufe
angelangt, auf das verwandte infantile Bohren, dem sie nun, ent-
sprechend ihrer Bestimmung aufs Reale einen äußern Stoff gibt (daher
der Stoff passenderweise materia heißt, indem das Objekt die Mutter
ist, wie oben!). Wie ich oben zu zeigen versuchte, gehört zur Aktion
des infantilen Bohrens nur die Kraft und Ausdauer eines erwachsenen
Mannes und das geeignete „Material“, um Feuer zu erzeugen. Wenn
dem so ist, so kann erwartet werden, daß in Analogie zu unserem obigen
Fall von onanistischem Bohren auch die Feuererzeugung
ursprünglich als ein solcher, am Objekt dargestellter Akt
quasi onanistischer Betätigung zustandekam. Dieser Nachweis
ist selbstverständlich niemals wirklich zu leisten, aber es ist denkbar, daß
sich irgendwo Spuren dieser ursprünglichen onanistischen Vorübungen
zur Feuererzeugung erhalten haben. Es ist mir geglückt, in einem sehr
alten Monument indischer Literatur einen Passus aufzufinden, der
unzweifelhaft diesen Übergang der Sexuallibido durch die onanistische
Phase in die Feuerbereitung enthält. Dieser Passus findet sich im
Brihadäranyaka-Upanishadt); ich zitiere nach der Übersetzung von
Deussen?):
„Nämlich er (Atman?) war so groß wie ein Weib und ein Mann, wenn
sie sich umschlungen halten. Dieses, sein Selbst zerfällte er in zwei Teile;
1) Die Upanishaden gehören zur Brähmana, zur Theologie der vedischen
Schriften und enthalten den theosophisch-spekulativeu Teil der vödischen Lehren.
Die vedischen Schriften respektive Sammlungen sind zum Teil von ganz un-
bestimmbarem Alter und können, da sie lange nur mündlich überliefert wurden,
in eine sehr ferne Vorzeit zurückreichen.
2) Deussen: Die Geheimlehre des Veda, S. 23£.
®) Das Ur- und Allwesen, dessen Begriff sich, ins Psychologische zurück-
übersetzt, mit dem Libidobegriff deckt.
202 ©. G. Jung.
daraus entstanden Gatte und Gattin!). — Mit ihr begattete er sich; daraus
entstanden die Menschen. Sie aber erwog: ‚Wie mag er sich mit mir be-
gatten, nachdem er mich aus sich selbst erzeugt hat? Wohlan, ich will
mich verbergen!‘ — Da ward sie zu einer Kuh; er aber ward zu einem
Stier und begattete sich mit derselben. Daraus entstand das Rindvieh. —
Da ward sie zu einer Stute; er aber ward zu einem Hengste; sie ward zu
einer Eselin, er zu einem Esel und begattete sich mit derselben. Daraus
entstanden die Einhufer. — Sie ward zu einer Ziege, er zu einem Bocke;
sie zu einem Schafe, er zu einem Widder und begattete sich mit derselben;
daraus entstanden die Ziegen und Schafe. — Also geschah es, daß er alles,
was sich paart, bis hinab zu den Ameisen, dieses alles erschuf. — Da erkannte
er: ‚Wahrlich ich selbst bin die Schöpfung, denn ich habe die ganze Welt
erschaffen !' — Daraufrieber (dievordenMund gehaltenen Hände)
so; da brachte er ausdem Munde als Mutterschoß und aus den
Händen das Feuer hervor.“
Wir begegnen hier einer Schöpfungslehre besonderer Art, die
einer psychologischen Rückübersetzung bedarf: Im Anfang war die
Libido undifferenziert bisexuell?), darauf erfolgt die Differenzierung
in eine männliche und eine weibliche Komponente. Von da an weiß
der Mensch, was er ist. Nun folgt eine Kluft im Zusammenhang des
Denkens, in welche eben jener Widerstand gehört, den wir oben zur
Erklärung des Sublimierungszwanges postulierten. Darauf erfolgt der
aus der Sexualzone herausverlegte onanistische Akt des Reibens oder
Bohrens (hier Fingerlutschens), aus welchem die Feuererzeugung
hervorgeht?). Die Libido verläßt hier die ihr eigentlich zugehörige Be-
!) Ätman ist also als ursprünglich bisexuelles Wesen gedacht — entsprechend
der Libidotheorie. Die Welt entstand aus dem Begehren: Vgl. Brihadäranyaka-
Upanishad 1, 4, 1 (Deussen):
1. „Am Anfang war diese Welt allein der Atman — der blickte um sich: Da
sah er nichts anderes als sich selbst. — 2, Da fürchtete er sich; darum fürchtet
sich einer, wenn er allein ist. Da bedachte er: ‚Wovor sollte ich mich fürchten,
da nichts anderes außer mir da ist?‘ — 3, Aber er hatte auch keine Freude, darum
hat einer keine Freude, wenn er allein ist. Da begehrte er nach einem Zweiten.“
Hierauf folgt die oben zitierte Schilderung seiner Zerspaltung. Platons Vor-
stellung der Weltseele nähert sich dem indischen Bilde sehr an: „Der Augen be-
durfte sie keineswegs, denn es befand sich neben ihr nichts Sichtbares. — Nichts
trennte sich von ihr, nichts trat zu ihr hinzu, denn außer ihr gab es nichts.“
(Timaios, Übers. Kiefer, Jena 1909, S. 26.)
) vel. dazu Freuds: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.
°) Eine, wie es scheint, genaue Parallele zu der Handstellung im Upanishad-
text, erfuhr ich von einem kleinen Kind. Das Kind hielt die eine Hand vor den
Mund und rieb sich mit der andern darauf, eine Bewegung, die sich mit der des
Geigens vergleichen läßt. Es war eine frühi : -
hindurch anhielt. rühinfantile Gewohnheit, die lange Zeit
Wandlungen und Symbole der Libido, 203
tätigung als Sexualfunktion und regrediert auf die vorsexuelle Stufe,
wo sie entsprechend den obigen Auseinandersetzungen eine der Vor-
stufen der Sexualität besetzt, damit nach der Ansicht der Upanishaden
die erste menschliche Kunst und von da aus, wie die Ideen Kuhns
über den Stamm manth andeuten, vielleicht die höhere geistige Tätig-
keit überhaupt erzeugt. Dieser Entwicklungsgang hat für den Psy-
chiater nichts Fremdartiges, indem es eine schon längst bekannte,
psychopathologische Tatsache ist, wie nahe sich Onanie und exzessive
Phantasietätigkeit berühren. (Die Sexualisierung [Autonomisierung]
des Geistes durch den Autoerotismus!) ist eine so geläufige Tatsache,
daß Beispiele dafür überflüssig sind.) Der Weg der Libido ging also,
wie wir nach diesen Erfahrungen schließen dürfen, ursprünglich in
ähnlicher Weise wie bei dem Kinde, nur in umgekehrter Reihenfolge:
der Sexualakt wurde aus der ihm eigentlich zugehörigen Zone heraus-
gedrängt und in die analoge Mundzone verlegt?), wobei dem Munde
die Bedeutung des weiblichen Genitales zukam, der Hand respektive
den Fingern aber die phallische Bedeutung?). Auf diese Weise wird
in die regressiv wiederbesetzte Tätigkeit der vorsexuellen Stufe die
Sexualbedeutung hineingetragen, die ihr vorher allerdings auch schon
partiell zukam, aber in einem ganz andern Sinne. Gewisse Funktionen
der vorsexuellen Stufe erweisen sich als dauernd zweckmäßig und werden
deshalb als Sexualfunktionen später beibehalten. So wird z. B. die Mund-
zone als erotisch wichtig beibehalten, d.h. ihre Besetzung erweist sich
als dauernd fixiert. Was den Mund betrifft, so wissen wir, daß er auch bei
Tieren eine Sexualbedeutung insofern hat, als z. B. Hengste im Akte
die Stuten beißen, ebenso Kater, Hähne usw. Eine zweite Bedeutung
hat der Mund als Sprachapparat. Er dient in wesentlicher Weise
mit zur Erzeugung der Lockrufe, die meistens die bestausgebildeten
Töne der Tierwelt darstellen. Was die Hand betrifft, so wissen wir,
daß sie die wichtige Bedeutung des Kontrektationsorgans hat (z. B.
bei den Fröschen). Die vielfache erotische Anwendung der Hand
bei Affen ist bekannt. Ist nun ein Widerstand gegen die eigentliche
Sexualität gesetzt, so wird die Libidoaufstauung am ehesten diejenigen
1) Vgl. Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Dieses
Jahrbuch, Bd. I, S. 357.
2) Wie oben gezeigt wurde, wandert beim Kinde die Libido aus der Mund-
zone in die Sexualzone.
3) Vgl. oben das über Daktylos Gesagte. Reichliche Belege bei Aigremont:
Fuß- und Schuhsymbolik.
204 ©. G. Jung.
Kollateralen zu einer Überfunktion bringen, welche geeignet sind, den
Widerstand zu kompensieren, nämlich dıe nächsten Funktionen, welche
zur Einleitung des Aktes dienent); einerseits die Funktion der Hand,
anderseits die des Mundes. Der Sexualakt aber, gegen den sich der
Widerstand richtet, wird durch einen ähnlichen Akt der vorsexuellen
Stufe ersetzt, wofür der Idealfall das Fingerlutschen respektive Bohren
ist. Wie beim Affen auch der Fuß gelegentlich die Funktion der Hand
vertreten kann, so ist auch das Kind in der Wahl des Lutschobjektes
oft unsicher, indem es statt der Finger die große Zehe in den Mund steckt.
Diese letztere Geste gehört zu einem indischen Ritus, nur wird dort die
Großzehe nicht in den Mund gesteckt, sondern gegen das Auge gehalten?).
Durch die genitale Bedeutung von Hand und Mund wird diesen Organen,
dıe auf vorsexueller Stufe der Lustgewinnung dienten, eine zeugende
Eigenschaft erteilt, welche identisch ist mit jener oben erwähnten
Bestimmung, die auf das äußere Objekt abzielt, weil es sich um Sexual-
respektive Propagationslibido handelt. Wenn durch die wirkliche
Feuerbereitung der Sexualcharakter der dazu verwendeten Libido
erfüllt ist, dann bleibt aber die Mundzone ohne adäquate Betätigung:
nur die Hand hat jetzt ihr eigentliches rein menschliches Ziel in ihrer
ersten Kunst erlangt.
Der Mund hat, wie wir sahen, eine weitere wichtige Funktion,
die ebensoviel sexuelle Beziehung auf das Objekt hat wie die Hand,
nämlich die Erzeugung des Lockrufes. Bei dem Aufbrechen des auto-
erotischen Ringes, Hand-Mund®), wo die phallische Hand zum feuer-
‘) Wenn bei dem heutzutage enorm angewachsenen Sexualwiderstand die
Frauen die sekundären Geschlechtsmerkmale und sonstigen erotischen Reize durch
besonders konstruierte Korsetts hervorheben, so ist das eine Erscheinung, die
noch ins selbe Schema der Vermehrung der Anlockung gehört.
*) Die Ohröffnung beansprucht bekanntlich auch Sexualwert. In einem
Marienhymnus heißt es: ‚‚quae per aurem concepisti“. Rabelais’ Gargantua
wird Gurohs Ohr der Mutter geboren. Bastian (Beiträge z. vergl. Psychologie,
3. 238) erwähnt aus einem ältern Werke folgende Stelle: ‚‚Man findet in diesem
ganzen Köpigreiche auch unter den allerkleinsten Mägdlein keine Jungfrawn,
denn sie tun gleich in ihre zarte J ugend eine besondere Mixtur in ihr Gemächter
hinein, wie gleichfalls auch in die Ohrlöcher, machen dieselbige damit weit und
erhalten sie immerzu offen.“ — Auch der mongolische Buddha wird aus dem
Ohr seiner Mutter geboren. z
®) Das treibende Motiv zum Aufbrechen des
flüchtig bereits andeutete, in der Tats
tätigkeit (der verlagerte Koitus
Sättigung herbeizuführen,
Ringes wäre, wie ich oben
-atsache zu suchen, daß die sekundäre Sexual-
\ ) nie imstande ist oder sein wird, jene natürliche
wie die Betätigung an eigentlicher Stelle. Mit diesem
Wandlungen und Symbole der Libido, 205
zeugenden Instrumente wurde, hatte die der Mundzone zugeführte
Libido einen andern Funktionsweg zu suchen, der sich naturgemäß
in der bereits bestehenden Funktion des Brunstrufes eröffnete.
Der hier untertretende libidinöse Zuschuß muß die gewöhnlichen Folgen.
gehabt haben: nämlich Aktivierung der neubesetzten Funktion, also
eine Elaboration des Lockrufes.
Wir wissen, daß aus den Urlauten sich einmal die menschliche
Sprache entwickelt hat. Der psychologischen Sachlage entsprechend
müßte angenommen werden, daß die Sprache diesem Moment ihren
eigentlichen Ursprung verdankt, nämlich dem Augenblick, wo sich
der, auf vorsexuelle Stufe zurückgedrängte Trieb nach außen wandte,
um dort ein äquivalentes Objekt aufzufinden. Das eigentliche Denken
als bewußte Handlung ist, wie wir im ersten Teil sahen, ein Denken
mit positiver Bestimmung nach der Außenwelt hin, d. h. ein „sprach-
liches“ Denken. Diese Art von Denken scheint in jenem Moment ent-
standen zu sein, Es ist nun sehr merkwürdig, daß diese Ansicht, die auf
dem Wege des Raisonnements gewonnen wurde, wiederum durch alte
Tradition und sonstige mythologische Fragmente gestützt wird.
Im Aıtareyopanishad!) (Sekt. I, Part. II) findet sich bei der
Lehre von der Entwicklung des Menschen folgender Passus: ‚Being
brooded-o’er his mouth hatched out, like as an egg; from out his mouth
(came) speech, from speech the fire?).‘“ In Part. II wo geschildert
wird, wie die neugeschaffenen Dinge in den Menschen eingesetzt werden,
heißt es: „Fire, speech becoming, entered in the mouth.“ Diese Stellen
lassen die Zusammengehörigkeit von Feuer und Sprache deutlich er-
kennen?). Im Brihadäranyaka-Upanishad (3,2)*) findet sich der Passus:
‚ Yäynavalkya‘‘, so sprach er, ‚wenn nach dem Tode dieses Menschen
seine Rede in das Feuer eingeht, sein Odem in den Wind, sein Auge in die
Sonne usw. Eine weitere Stelle aus dem Brihadäranyaka-Upanishad (4, 3)
lautet: ‚Aber wenn die Sonne untergegangen ist, o Yäynavalkya, und der
ersten Schritte zur Verlagerung war auch der erste Schritt zur charakteristischen
Unzufriedenheit getan, welche den Menschen späterhin von Entdeckung zu Ent-
deckung trieb, ohne ihn je die Sättigung erreichen zu lassen,
1) Übersetzt von Mead und Chattopädhyäya.
?) „„Da er ihn bebrütete, spaltete sich sein Mund wie ein Ei, aus dem Mund
entsprang die Rede, aus der Rede Agni.‘“ (Übersetzt von Deussen.)
3) In einem Liede des Rigveda (10, 90) heißt es, daß die Hymnen und.
Opfersprüche, wie überhaupt sozusagen die ganze Schöpfung aus dem ‚gänzlich.
verbrannten“ Purusha (Urmensch-Weltschöpfer) hervorgegangen seien.
4) Übersetzt von Deussen,
206 ©. G. Jung.
Mond untergegangen ist, und das Feuer erloschen ist, was dient dann dem
Menschen als Licht?‘ — ‚Dann dient ihm die Rede als Licht; denn bei dem
Lichte der Rede sitzt er und gehet umher, treibt seine Arbeit und kehret
heim.‘ — Aber wenn die Sonne untergegangen ist, o Yäyhavalkya, und
der Mond untergegangen ist und das Feuer erloschen und die Stimme
verstummt ist, was dient dann dem Menschen als Licht?‘ — ‚Dann dient
er sich selbst (ätman) als Licht; denn bei dem Lichte des Selbstes sitzt
“cc
er und gehet umher, treibt seine Arbeit und kehret heim‘,
In diesem Passus bemerken wir, wie wiederum das Feuer in
nächster Beziehung zur Rede steht. Die Rede selber heißt ein „Licht“,
das seinerseitsreduziert wird auf das ‚‚Licht‘‘ des ätman, der schaffenden
seelischen Kraft, der Libido. So faßte die indische Metapsychologie
Rede und Feuer als Emanationen des innern Lichtes, von dem wir
wissen, daß es die Libido ist. Sprache und Feuer sind ihre Manifestations-
formen als die ersten menschlichen Künste, die aus ihrer Verlagerung
entstanden sind. Auf diesen gemeinsamen psychologischen Ursprung
scheinen auch gewisse Ergebnisse der Sprachforschung hinzuweisen.
Der indogermanische Stamm bhä bezeichnet die Vorstellung von
leuchten, scheinen. Dieser Stamm findet sich in griech. pa, palvo,
pdos, in altırl. ban = weiß, im nhd. bohnen = glänzend machen. Der-
selbe Stamm bhä bedeutet aber auch sprechen; er findet sich im
Sanskr. bhan = sprechen, arm. ban = Wort, im nhd. Bann, bannen,
griech. pa-ui, &pav, pärıs, lat. fä-ri, fänum. |
. Der Stamm bhelso mit der Bedeutung ‚‚klinge, belle“ findet
sich in Sanskr. bhas = bellen und bhäs = reden, sprechen, litth.
balsas = Stimme, Ton. Eigentlich ist bhel-sö= hell sein vgl.
paAds = hell, litth. bälti = weiß werden, mhd. blaß. |
Der Stamm lä mit der Bedeutung von tönen, bellen findet sich
in Sanskr. las läsati = erklingen und las läsati = strahlen,
glänzen.
j Der verwandte Stamm lesö mit der Bedeutung begehre findet
sich wiederum in Sanskr. las, läsati — spielen, lash, läshati = be-
gehren, griech. Adotavgos — geil, goth. lustus, nhd. Lust, lat. lascivus.
‚ Ein weiterer verwandter Stamm läsö — scheinen, strahlen
findet sich in las, läsati = strahlen, glänzen.
In dieser Gruppe kommen, wie ersichtlich, die Bedeutungen
hip ‚begehren, spielen, strahlen und tönen zusammen. Ein
ähnliches archaisches Zusammenfließen der Bedeutungen in die ur-
Eee Libidosymbolik (wie wir vielleicht schon sagen dürfen)
ın jener agyptischen Wörterklasse, die sich aus den nahe-
Wandlungen und Symbole der Libido. 207
verwandten Wurzeln ben und bel und der Reduplikation benben
und belbel herleitet. Die ursprüngliche Bedeutung dieser Wurzeln
ist: auswerfen, heraustreten, schwellen, hervorwallen (mit
dem Nebenbegriff sprudeln, blasenwerfen und Rundung). belbel,
von dem Zeichen des Obelisken (von ursprünglich phallischer Natur)
begleitet, bedeutet Lichtquell. Der Obelisk selber führte neben techenu
und men den Namen benben, seltener auch berber und belbelt). Die
Libidosymbolik erklärt diese Zusammenhänge, wie mir scheint.
Der indogermanische Stamm vel mit der Bedeutung von wallen
(Feuer) findet sich im Sanskr. ulunka = Brand. griech. Fal£a,
att. dA&a = Sonnenwärme, goth. vulan = wallen, ahd. mhd. walm =
Hitze, Glut. Der verwandte indogermanische Stamm velkö mit
der Bedeutung von leuchten, glühen findet sich in Sanskr. ulka =
Feuerbrand, griech. FeAyävos = Vulcanus. Derselbe Stamm vel heißt
aber auch tönen, in Sanskr. väni—= Getön, Gesang, Musik, tschech.
volati = rufen.
Der Stamm svenö=töne, klinge findet sich in Sanskr.
svan, svänati = rauschen, erklingen, zend. ganant, lat. sonäre,
altiran. senm, cambr. sain, lat. sonus, angels. svinsian = tönen. Der ver-
wandte Stamm svenos — Geräusch, Getön findet sich in ved. svänas —
Geräusch, lat. sonor, sonorus. Ein weiterer verwandter Stamm ist
svonös = Ton, Geräusch, in altiran. son = Wort.
Der Stamm sve&(n), loc, sveni, dat. sun&i, bedeutet Sonne
in zend. geng = Sonne (vgl. oben svenö zend. qanant) got. sun-na,
sunnö?).
Auch hier hat uns Goethe vorgearbeitet:
„Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.“ (Faust I. Teil.)
!) Vgl. Brugsch: Rel. u. Myth. d. alt. Ägypter, 8. 255 f. und das Ägyptische
Wörterbuch. |
?) Das deutsche Wort Schwan gehört hierher, daher er auch singt, wenn
er stirbt. Er ist die Sonne. Die Figur bei Heine fügt sich hier sehr schön an:
„Es singt der Schwan im Weiher
Und rudert auf und ab,
Und immer leiser singend,
Taucht er ins Flutengrab.“
Hauptmanns ‚Versunkene Glocke“ ist ein Sonnenmythus, wobei
Glocke = Sonne = Leben = Libido.
208 ©. @. Jung.
„Horchet, horcht dem Sturm der Horen!
Tönend wird für Geistesohren
Schon der neue Tag geboren.
Felsentore knarren rasselnd,
Phoebus’ Räder rollen prasselnd,
Welch Getöse bringt das Licht!
Es drommetet, es posaunet,
Auge blinzt und Ohr erstaunet,
Unerhörtes hört sich nicht.
Schlüpfet zu den Blumenkronen,
Tiefer, tiefer, still zu wohnen,
In die Felsen, unters Laub,
Trifft es euch, so seid ihr taub.“ (Faust II, Teil.)
Auch der schönen Verse Hölderlins dürfen wir nicht vergessen:
„Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir
Von all deiner Wonne; dennoch eben ist’s,
Daß ich gelauscht, wie goldner Töne
Voll, der entzückende Sonnenjüngling
Sein Abendlied auf himmlischer Leier spielt;
Es tönten rings die Wälder und Hügel nach—“.
Wie in der archaischen Sprache Feuer und Sprachlaut (Lockruf,
Musik) als Emanationsformen der Libido erscheinen, so werden auch
Lieht und Schall, in die Seele eintretend, zu Einem, zu Libido.
Manilius spricht es aus in seinen schönen Versen:
— „Quid mirum noscere mundum
Sı possunt homines, quibus est et mundus in ipsis
Exemplumque dei quisque est in imagine parva?
An quoguam genitos nisi caelo credere fas est
Esse homines?
Stetit unus in arcem
Erectus capitis vietorque ad sidera mittit
sidereos oculos.
Auf die für das Weltbild überhaupt fundamentale Bedeutung
der Libido weist uns der Begriff von Sanskr. töjas hin. Ich verdanke
Her Dr. Abegg in Zürich, einem trefflichen Kenner des Sanskrit,
die Zusammenstellung der 8 Bedeutungen dieses Wortes.
Tejas bedeutet:
1. Schärfe, Schneide.
2. Feuer, Glanz, Licht, Glut, Hitze.
3. Gesundes Aussehen, Schönheit.
25 Die feurige und farbeerzeugende Kraft im menschlichen Orga-
nısmus (in der Galle gedacht).
Wandlungen und Symbole der Libido. 209
5. Kraft, Energie, Lebenskraft.
6. Heftiges Wesen,
7. Geistige, auch magische Kraft; Einfluß, Ansehen, Würde,
8. Der männliche Same.
Hieraus vermögen wir zu ahnen, wie für das primitive Denken
die sogenannte objektive Welt subjektives Bild war und sein mußte.
Auf dieses Denken verlangt das Wort des ‚‚Chorus mysticus“ angewendet
zu werden:
„Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis.‘‘
Das Sanskritwort für Feuer ist agnis (das lateinische ignis)!),
das personifizierte Feuer ist der,Gott Agni, der göttliche Mittler?),
!) Mit ag-ilis, beweglich zusammenhängend. Siehe Max Müller: Vorl.
über den Ursprung und die Entwicklung der Religion, S. 237.
?) Ein eränischer Name des Feuers ist Nairyögagha = männliches
Wort. Indisch: Naräcamsa = Wunsch der Männer (Spiegel, Erän. Altertumsk.,
II, 49). Das Feuer hat Logosbedeutung (vgl. Kap. VII, Erläuterungen zu ‚‚Sieg-
fried“). Von Agni, dem Feuer, sagt Max Müller in seiner Einleitung in die ver-
gleichende Religionswissenschaft: ‚„„Es war eine dem Inder geläufige Vorstellung,
das Feuer auf dem Altar zugleich als Subjekt und Objekt zu fassen. Das Feuer
verbrannte das Opfer und war somit gleichsam der Priester, das Feuer trug das
Opfer zu den Göttern und war somit ein Vermittler zwischen Menschen und
Göttern; das Feuer stellte aber auch selbst etwas Göttliches, einen Gott vor,
und wenn diesem Gott Ehre erzeugt werden sollte, so war das Feuer sowohl Subjekt
als Objekt des Opfers. Daher die erste Vorstellung, daß Agni sich selbst opfert,
d. h. daß er sein eigenes Opfer für sich selbst darbringt, dann aber, daß er sich
selbst zum Opfer bringt.“ Die Berührung dieses Gedankengangs mit dem christ-
lichen Symbol liegt auf der Hand. Denselben Gedanken spricht Krishna aus
in Bhagavad-Gitä b, IV, (Transl. by Arnold, London 1910,)
“Als then God!
The sacrifice is Brahm, the ghee and grain
Are Brahm, the fire is Brahm, the flesh it eats
Is Brahm, and unto Brahm attaineth he
Who, in such office, meditates on Brahm.“
Hinter diesen Symbolismus des Feuers sieht die weise Diotima (in
Platons Symposion c. 23). Sie belehrt den Sokrates, daß Eros das „Mittel-
wesen zwischen Sterblichen und Unsterblichen‘ sei, ‚‚ein großer Dämon, lieber
Sokrates; denn alles Dämonische ist eben das Mittelglied zwischen Gott und
Mensch“. Eros hat die Aufgabe, ‚‚„Dolmetsch und Bote zu sein von den Menschen
bei den Göttern und von den Göttern bei den Menschen, von den einen für ihre
Gebete und Opfer, von den anderen für ihre Befehle und ihre Vergeltungen der
Opfer, und so die Kluft zwischen beiden auszufüllen, so daß durch seine Vermittlung
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. IV. 14
310 ©. G. Jung.
dessen Symbol gewisse Berührungen mit dem des Christos hat. Im
Avesta und in den Vedas ist das Feuer der Götterbote. Es gibt innerhalb
der christlichen Mythologie Einiges, das mit dem Agnimythus nahe
zusammenkommt. Daniel (3, 24 £.) berichtet von den 3 Männern im
Feuerofen:
„Da entsetzte sich der König Nebukadnezar und fuhr auf und sprach
zu seinen Räten: ‚Haben wir nicht 3 Männer gebunden in das Feuer lassen
werfen?‘ Sie antworteten und sprachen zum Könige: ‚Ja, Herr König.‘
Er antwortete und sprach: ‚Sehe ich doch 4 Männer los im Feuer
gehn und sind unversehrt; und der vierte ist, gleich als wäre
‘c“
er ein Sohn der Götter‘.
Dazu bemerkt die Biblia pauperum (nach einem deutschen
Ineunabulum von 147]):
‚Man list in dem propheten Daniel am III c. dass nabuchodonosor
der kunig zu babilon liess setzen 3 Kind in ein gluenden ofen und da der
kunig kam zu dem ofen und sach hinein, da sach er bey den III den vierten,
der was gleich dem Sun gotz. Die drei bedeuten uns die heiligen Drivaltig-
keit der person und der viert ainigkeit des wesen. Also Christus in seiner
erclarung bezaichet er die Drivaltigkeit der person und die ainigkeit des
wesen.“ |
Nach dieser mystischen Deutung erscheint die Legende der drei
Männer im Feuerofen als ein Feuerzauber, wobei der Gottessohn er-
scheint: die Dreiheit wird mit der Einheit zusammengebracht, oder
mit anderen Worten: durch den Koitus wird ein Kind erzeugt. Der
das All sich mit sich selber zusammenbindet“. Eros ist ein Sohn der Penia
(Armut, Bedürftigkeit), empfangen vom nektarberauschten Poros. Die Bedeutung
von Poros ist dunkel; zögog heißt Weg und Loch, Öffnung. Zielinski, Arch,
f. Rel. Wissensch., IX, 43 ff. setzt ihn mit Phoroneus, dem Feuerbringer identisch,
was bezweifelt wird, andere bringen ihn mit dem anfänglichen Chaos zusammen.
wiederum andere lesen willkürlich K6o0g und Mögog. Unter diesen Umständen —
in dubio pro reo — ist die Frage gestattet, ob nicht ein relativ einfacher Sexual-
symbolismus dahinter zu suchen sei. Eros wäre dann einfach der Sohn der Be-
dürftigkeit und der weiblichen Genitalien, denn diese Pforte ist Uranfang und
Geburtsstätte des Feuers. Diotima gibt eine treffliche Schilderung des Eros:
„Eur ist mannhaft, verwegen und beharrlich, ein gewaltiger Jäger (Bogenschütze!
vgl. unten) und unaufhörlicher Ränkeschmied, welcher stets nach der Weisheit
trachtet — ein gewaltiger Zauberer, Giftmischer und Sophist; und weder
wie ein Unsterblicher ist er geartet noch wie ein Sterblicher, sondern an dem-
selben Tage blüht er bald und gedeiht, wenn er die Fülle des Erstrebten
erlangt hat, bald stirbt er dahin; immer aber erwacht er wieder zum
Leben vermöge der Naturseines Vaters (Wiedergeburt!); das Gewonnene
jedoch rinnt ihm immer wieder von dannen — “ Zu dieser Charak-
verisierung sind Kap. V, VI und VII dieser Arbeit zu vergleichen.
Wandlungen und Symbole der Libido. 21l
glühende Ofen (wie der glühende „Dreifuß‘“ bei Faust) ist ein Mutter-
symbol, wo die Kinder gebacken werden. (Vgl. dazu auch Riklin:
Wunscherfüllung und Symb. in Mährchen, 8. 69, wo ein Kind dadurch
erzeugt wird, daß die Eltern ein Rübchen (!) in den Ofen!) legen.)
Der Vierte im Feuerofen erscheint als der Gottessohn Christus, im
Feuer sichtbarer Gott geworden. Die mystische Dreiheit und Einheit
sind unzweifelhaft sexualsymbolistisch. (Vgl. dazu die vielen Hinweise
bei Inman: Ancient pagan and modern christian symbolisms.) Vom
Retter Israels und seiner Feinde (dem Messias) heißt es Jes. 10, 17:
„Und das Licht Israels wird ein Feuer sein und sein Heiliger wird eine
Flamme sein.“
In einem Hymnus des Syrers Ephre m heißt es von Christus: ‚Du,
der ganz Feuer ist, erbarme Dich meiner.“
' Agnı ist die Opferflamme, der Opferer und das Geopferte
gleich wie der Christus. Gleich wie Christus sein erlösendes Blut als
ein pdouaxov ädavaoias im berauschenden Weine hinterließ, so ist
Agni auch der Soma, der heilige Begeisterungstrank, der Unsterblich-
lichkeitsmeth?). Soma und Feuer sind in der indischen Literatur
ganz identisch gesetzt, so daß wir in Soma leicht wieder das Libido-
symbol zu entdecken vermögen, wodurch sich eine Reihe anscheinend
paradoxer Eigenschaften des Soma ohneweiters auflösen lassen. Wie
die alten Inder im Feuer eine Emanation des innern Libidofeuers
erkannten, so erkannten sie auch im berauschenden Tranke (,‚PFeuer-
wasser‘, Soma-Agni, als Regen und Feuer) eine Libidoemanation.
Die vedische Definition des Soma als Samenerguß?) belegt diese Auf-
fassung. Die Somabedeutung des Feuers, ähnlich wie die Abendmahl-
bedeutung des Leibes Christi (Vgl. das in Kreuzform gebratene Passah-
lamm der Juden) erklärt sich durch die Psychologie der vorsexuellen
!) Das Motiv des Ofens, wo das Kind ausgebrütet wird, findet sich auch im
Typus des Walfischdrachenmythus wieder. Es ist dort ein regelmäßig wieder-
kehrendes Motiv, daß das Innere des ‚‚Drachen“ sehr heiß ist, so daß infolge der
Hitze dem Helden die Haare ausgehen; d. h. wohl, daß er dort den für den
erwachsenen Menschen charakteristischen Haarschmuck verliere und ein Kind
werde. (Natürlich beziehen sich die Haare auch auf die Sonnenstrahlen, die im
Untergang ausgelöscht werden.) Mannigfache Beispiele für dieses Motiv finden
sich bei Frobenius ‚‚Das Zeitalter des Sonnengottes“, Bd. I, Berlin 1904.
2) Diese Seite Agnis weist auf Dionysos hin, der sowohl mit der christ-
lichen wie mit der indischen Mythologie bemerkenswerte Parallelen hat.
®) „Alles nun, was auf der Welt feucht ist, das erschuf er aus dem Samen-
erguß; dieser aber ist der Soma.‘ Brihadäranyaka-Upanishad (1, 4) Deussen.
14*
212 ©. G. Jung.
Stufe, wo die Libido noch zum Teil Ernährungsfunktion war. Der Soma
ist der ‚„nährende Trank“, dessen mythologische Charakterisierung
dem Feuer und seiner Entstehung parallel läuft, daher beide in Agni
vereinigt sind. Auch wird der Unsterblichkeitstrank durch die indischen
Götter so gequirlt wie das Feuer. Durch das Zurücktreten der Libido
auf die vorsexuelle Stufe wird es klar, warum so viele Götter einerseits
sexuell definiert sind, anderseits aber gegessen werden,
Wie uns das Beispiel der Feuerbereitung zeigte, dürfte das Feuer-
instrument nicht nachträglich zu seiner Sexualsymbolik gekommen
sein, sondern die Sexuallibido war die treibende Kraft, welche zu seiner
Entdeckung führte, weshalb die nachmaligen Priesterlehren nichts als
Konstatierungen seines tatsächlichen Ursprunges waren, In derselben
Weise sind wohl auch andere primitive Entdeckungen zu ihrer Sexual-
symbolik gekommen; sie stammen eben aus Sexuallibido ab.
In den bisherigen Darlegungen, dio vom pramantha des Agni-
opfers ausgingen, haben wir uns nur mit der einen Bedeutung des Wortes
manthämi oder mathnämi beschäftigt, nämlich mit der, welche die
Bewegung des Reibens ausdrückt. Wie Kuhn zeigt, kommt diesem
Worte aber auch ‚die Bedeutung von abreißen, an sich reißen,
rauben zu!). Wie Kuhn zeigt, (Herabk. des Feuers, $. 18) ist diese
Bedeutung schon in den v@dischen Texten vorhanden. Die Entdeckungs-
sage faßt die Feuererzeugung immer als einen Raub auf (sie gehört
insofern zu dem über die ganze Erde verbreiteten Motiv der schwer
zu erreichenden Kostbarkeit). Die Tatsache, daß vielerorts,
nicht nur in Indien, die Feuerbereitung als ein ursprünglicher Raub
dargestellt wird, scheint auf einen allgemein verbreiteten Gedanken
hinzudeuten, wonach die Feuerbereitung etwas Verbotenes, Usurpiertes
oder Strafwürdiges wäre, das nur durch List oder Gewalttat (meist
durch List) erreicht werden kann?). Öfter ist es das heimliche Stehlen
oder das listige Übervorteilen, das, wenn es dem Arzte als ein Symptom
entgegentritt, immer das heimliche Erfüllen eines verbotenen Wunsches
bedeutet®). Historisch geht wohl dieser Zug zunächst auf die Tatsache,
') Die Frage ist, ob sich diese Bedeutung erst sekundär entwickelt hat.
Nach Kuhn scheint dies angenommen zu werden ; er sagt (Herabkunft des
Feuers, S. 18): „Mit der bisher entwickelten Bedeutung der Wurzel manth hat sich
aber auch schon in den V&den die aus dem Verfahren natürlich sich entwickelnde
Vorstellung des ‚‚Abreißens, usw. entwickelt.“
®) Beispiele bei Frobenius: Das Zeitalter des Sonnengottes.
*) Vgl. dazu Stekel: Die sexuelle Wurzel
f. Sexualwissenschaft, 1908. ee
Wandlungen und Symbole der Libido. 213
daß die rituelle Feuerbereitung im zauberischer Absicht angewendet
wurde, daher vom offiziellen Glauben verfolgt wurde; sodann war
sie rituelles Mysteriumt), deshalb von den Priestern gehütet und mit
Geheimnis umgeben. Die rituellen Vorschriften der Inder verheißen
dem schwere Strafe, der auf unrichtige Weise Feuer bereitete. Die Tat-
sache allein, daß etwas Mysterium ist, heißt, daß etwas in der Ver-
borgenheit getan wird. Was geheim bleiben muß, was man sonst nicht
sehen oder tun darf, etwas auch, das mit schweren Strafen des Leibes
und der Seele umgeben ist; also vermutlich etwas Verbotenes,
das eine kultische Lizenz erhalten hät. Nach all dem, was
oben über die Genese der Feuerbereitung gesagt wurde, ist es nicht mehr
schwer zu erraten, was das Verbotene ist: es ist die Onanie, Wenn
ich oben sagte, daß die Unbefriedigung es sein dürfte, welche den
autoerotischen Ring der verlagerten Sexualbetätigung am eigenen
Körper aufbreche und so die weiten Gefilde der Kultur eröffne, so
erwähnte ich nicht, daß dieser nur locker geschlossene Ring der ver-
lagerten onanistischen Betätigung viel fester geschlossen werden kann,
wenn nämlich der Mensch die andere große Entdeckung macht,
nämlich die der richtigen Onanie?). Damit tritt die Betätigung am
eigentlichen Orte ein und damit unter Umständen eine für lange Zeit
ausreichende Befriedigung, wodurch aber die Sexualität um ihre eigent-
lichen Absichten geprellt wird. Es ist ein Betrug an der natürlichen
Entwicklung der Dinge, indem alle die Spannkräfte, die der Kultur-
entwicklung dienen können und sollen, ihr durch die Onanie entzogen
werden, indem statt der Verlagerung eine Regression auf das Lokal-
sexuelle vollzogen wird, was gerade das Gegenteil ist von dem, was
als zweckmäßig erscheint. Psychologisch ist aber die Onanie eine
Erfindung von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Man ist geschützt
vor dem Schicksal, indem keine sexuelle Bedürftigkeit es dann vermag,
einen dem Leben auszuliefern. Man hat ja mit der Onanie den großen
Zauber in Händen, man braucht nur zu phantasieren und dazu zu
1) Auch in der katholischen Kirche herrschte an verschiedenen Orten die
Sitte, daß einmal im Jahre der Priester ‚„‚künstliches‘ Feuer erzeugte.
?) Ich muß bemerken, daß die Bezeichnung der ÖOnanie als einer großen
Entdeckung kein von mir ersonnener Scherz ist, sondern ich verdanke diesen
Eindruck zwei jugendlichen Patienten, die vorgaben, im Besitze eines schreck-
lichen Geheimnisses zu sein, sie hätten etwas Furchtbares entdeckt, das nie sonst
jemand wissen dürfte, weil sonst ein großes Elend über die Menschen käme: Sie
hatten nämlich die Onanie entdeckt.
214 0. G. Jung.
onanieren, so besitzt man alle Lüste der Welt und ist durch nichts
gezwungen, durch harte Arbeit und schweres Ringen mit der Wirk-
lichkeit, sich die Welt seiner Wünsche zu erobern!). Aladdin reibt
seine Lampe und die dienstbaren Geister stehen zu seiner Verfügung,
so drückt das Märchen den großen psychologischen Gewinn der billigen
Regression auf die lokale Sexualbefriedigung aus. Aladdins Symbol
deckt die Zweideutigkeit der magischen Feuerbereitung in feiner Weise.
Die nahe Beziehung der Feuererzeugung zum onanistischen Akte
wird durch einen Fall belegt, dessen Kenntnis ich Herrn Dr. Schmid
in Cery verdanke: Ein imbeciller Bauernknecht legte mehrmals Feuer.
Bei einer Brandstiftung wurde er durch sein Verhalten während des
Brandes dadurch verdächtig, daß er, die Hände in den Hosentaschen,
in der Tür eines gegenüberliegenden Hauses stand und dem Brande
vergnügt zusah. Während der Untersuchung in der Irrenanstalt schildert
er den Brand sehr weitläufig und macht dazu verdächtige Bewegungen
mit der Hand in der Hosentasche. Die sofort vorgenommene körperliche
Untersuchung ergab, daß er masturbiert hatte, Später gestand er, daß
er sich jeweilen masturbierte, wenn er sich am selbst gelesten Feuer
ergötzte.
Die Feuerbereitung an sich ist ein völlig nüchterner, nützlicher
und durch viele Jahrtausende überall geübter Gebrauch, dem an sich
wohl bald nichts mehr Geheimnisvolles zukam, so wenig wie dem Essen
und Trinken. Es war aber immer eine Tendenz da, von Zeit zu Zeit
einmal auf eine zeremonielle und geheimnisvolle Art Feuer zu bereiten
(ebenso wie das rituelle Essen und Trinken), was in genau vorge-
schriebener Weise zu erfüllen war, und wovon niemand abweichen durfte.
Diese der Technik gesellte geheimnisvolle Tendenz ist der stets neben
der Kultur vorhandene zweite Weg in die onanistische Regression.
sg Ei on er der Eifer der zeremoniellen Vor-
allernächst aus dieser ler ee - ee enge =
: die Zeremonie in ihrer praktischen Sinn-
3 Man muß billigerweise aber auch berücksichtigen, daß die durch unsere
Moral erheblich verschärften Lebensbedingungen so schwierig sind, daß es für
viele Menschen einfach praktisch unmöglich ist, zu jenem Ziel zu N das
man keinem Menschen mißgönnen möchte, nämlich der Möglichkeit der Liebe.
m diesem grausamen Domestikationszwang muß der Mensch zur Onanie
e Gr En er eine Irgendwie aktive Sexualität besitzt. Bekanntlich sind
gerade die nützlichsten und besten Menschen, die ihre Tugenden einer kräftigen
Libido verdanken. Ei sh
christliche N ae 7 Libido verlangt aber zeitweise mehr als bloße
Wandlungen und Symbole der Libido. 215
losigkeit ist eine äußerst sinnvolle Institution vom psychologischen
Standpunkt aus, indem sie einen durch Gesetze genau umschriebenen
Ersatz der onanistischen Regressionsmöglichkeit darstellt!). Dem Inhalt
der Zeremonie kann das Gesetz nicht gelten, denn es ist für die rituelle
Handlung eigentlich ganz gleichgültig, ob sie so oder so vorgenommen
wird. Dagegen ist es sehr wesentlich, ob die aufgestaute Libido durch
eine sterile Onanie abgeführt oder auf Sublimierungswege übergeleitet
wird. Der Onanie gelten in erster Linie jene strengen Schutzmaßregeln?),
Ich verdanke Freud einen weiteren bemerkenswerten Hinweis
auf die onanistische Natur des Feuerraubes oder vielmehr des Motivs
der schwer erreichbaren Kostbarkeit (wozu der Feuerraub ge-
hört). Es sind mehrfach in der Mythologie Formulierungen vorhanden,
die etwa folgendermaßen lauten: Das Kostbare soll von einem Tabu-
baume gepflückt oder abgerissen werden (Paradiesbaum, He-
speriden), was eine verbotene und gefährliche Handlung ist. Am klarsten
in jeder Hinsicht ist der altbarbarische Gebrauch im Dienste der Diana
von Aricia: Priester der Göttin kann nur werden, wer in ihrem heiligen
Hain einen Ast abzureißen wagt. Das ‚‚Abreißen“ hatsich in der Vul-
gärsprache (neben dem ‚‚Abreiben“) als Symbol des onanistischen
Aktes erhalten. So ist das ‚‚Reiben‘‘ wie das ‚‚Reißen‘“, welche beide
in manthämi enthalten und anscheinend nur durch den Mythus
des Feuerraubes verbunden sind, in einer tieferen Schicht, im ona-
nistischen Akt verknüpft, worin ‚Reiben‘ im eigentlichen, ‚„Reißen“
aber im übertragenen Sinne verwendet ist. Es wäre demnach vielleicht
zu erwarten, daß in der tiefsten Schicht, nämlich der inzestuösen,
die dem autoerotischen Stadium vorausgeht®), die beiden Bedeutungen
!) Vgl. dazu die grundlegenden Ausführungen Freuds: Zwangshandlungen
und Religionsübung. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, Bd. II,
S. 122 ff.
?) Ich bin mir wohl bewußt, daß die Onanie nur ein Zwischenphänomen
ist. Es erübrigt immer moch das Problem der originalen Libidozerspaltung.
®) Ich nenne in konsequenter Anwendung meiner im vorigen Kapitel
erörterten Terminologie das Stadium nach der Inzestliebe das Auto-Erotische,
wobei ich das Erotische hervorhebe als ein Regressivphänomen: die an der
Inzestschranke aufgestaute Libido besetzt regressiv eine ältere, der inzestösen
Objektliebe vorausgehende Funktionsweise, die man unter dem Bleuler-
schen Terminus Autismus begreifen könnte, nämlich die Funktion der puren
Selbsterhaltung, die vorzugsweise durch die Ernährungsfunktion gekenn-
zeichnet ist. Man kann aber auf die vorsexuelle Stufe den Terminus ‚,Autis-
mus‘ darum nicht mehr wohl anwenden, indem er bereits für den Geisteszustand der
216 C. G. Jung.
in eine zusammengehen, die aus Mangel an mythologischer Tradition
vielleicht nur etymologisch erschlossen werden kann.
IV.
Die unbewußte Entstehung des Heros.
Vorbereitet durch die vorausgehenden Kapitel nähern wir uns
der Personifikation der Libido in Gestalt eines Helden, eines Heros
oder Dämon. Damit verläßt die Symbolik das Gebiet des Sächlichen
und Unpersönlichen, das dem astralen und meteorischen Symbol
eignet, und nimmt menschliche Form an, die Gestalt des von Leid zu
Freude und von Freude zu Leid sich wandelnden Wesens, das bald,
der Sonne gleich, im Zenith steht, bald in finstere Nacht getaucht
ist und aus eben dieser Nacht zu neuem Glanze ersteht!). Wie die
Sonne in eigener Bewegung und aus eigenem inneren (Gesetz vom
Morgen zum Mittag aufsteigt, den Mittag überschreitet, und sich
zum Abend hinunterwendet, ihren Glanz hinter sich lassend, und
gänzlich in die alles verhüllende Nacht hinuntersteigt, so geht auch
nach unwandelbaren Gesetzen der Mensch seine Bahn und versinkt
nach vollbrachtem Lauf in der Nacht, um am Morgen in seinen
Kindern wieder zu neuem Kreislaufe zu erstehen. Der symbolische
Übergang von Sonne zu Mensch ist leicht und gangbar. Diesen Weg -
geht auch die dritte und letzte Schöpfung von Miß Miller. Dieses
Stück nennt sie „Chiwantopel, Drame hypnagogique“. Über das Zu-
standekommen dieser Phantasie berichtet sie folgendes:
„Nach einem Abend voll Sorge und Beängstigung legte ich mich
um 11'/, Uhr schlafen. Ich fühlte mich aufgeregt und unfähig zu schlafen,
obschon ich sehr ermüdet war. — Es war kein Licht im Zimmer. Ich schloß
die Augen und hatte dabei ein Gefühl, wie wenn irgend etwas geschehen
sollte. Dann überkam mich das Gefühl einer allgemeinen Entspannung,
und ich blieb so passiv wie möglich. Es erschienen vor meinen Augen Linien,
Funken und leuchtende Spiralen, gefolgt von einer kaleidoskopischen
Revue rezenter trivialer Vorkommnisse.“
| Der Leser wird es mit mir beklagen, daß wir, um der Diskretion
willen, nicht wissen können, was der Gegenstand ihrer Sorgen und
Dementia praecox gebraucht ist, wo er den Autoerotismus plus introvertierter
desexualisierter Libido zu decken hat. Au tismus bezeichnet also in erster Linie
ein pathologisches Phänomen von regressivem Charakter, die vorsexuelle
Stufe aber einen normalen Funktionszustand, das Pu RR
‘) Daher wohl jener schöne Name
des Sonnenheld i : h-
frohmensch. Vgl. Jensen: Gilgamesch Epos. ee
Wandlungen und Symbole der Libido. 217
Ängste war. Es wäre für das Folgende von großem Belang gewesen,
darüber unterrichtet zu sein. Diese Lücke in unserm Wissen ist um so
beklagenswerter, da seit dem ersten Gedicht (1898) 4 volle Jahre ver-
flossen sind bis zu der hier zu besprechenden Phantasie (1902). Über
die Zwischenzeit, in der gewiß das große Problem im Unbewußten
nicht geschlummert hat, fehlen alle Nachrichten. Vielleicht hat dieser
Mangel aber auch insofern sein Gutes, als unser Interesse durch keine
Anteilnahme am persönlichen Schicksal der Autorin abgelenkt wird
von der Allgemeingültigkeit der sich nunmehr gebärenden Phantasie,
Es fällt damit etwas weg, was den Analytiker in seiner täglichen Arbeit
öfter hindert, den Blick von der beschwerlichen Mühsal der Kleinarbeit
zu den weiten Zusammenhängen zu erheben, in denen jeder neurotische
Konflikt mit dem Ganzen menschlichen Geschickes steht.
Der Zustand, den uns die Autorin hier schildert, entspricht einem
solchen, wie er einem gewollten Somnambulismus voranzugehen pflegt!),
wie ihn also z. B. spiritistische Medien öfter schildern. Man muß wohl
eine gewisse Geneigtheit annehmen, auf die leisen nächtlichen Stimmen zu
horchen, sonst gehen derartig feine und kaum fühlbare innere Erlebnisse
unbemerkt vorüber. Wir erkennen in diesem Horchen eine nach Innen
führende Strömung der Libido, die nach einem noch unsichtbaren,
geheimnisvollen Ziel abzufließen beginnt. Es scheint, daß die Libido
plötzlich ein Objekt m den Tiefen des Unbewußten entdeckt hat, das
sie mächtig anzieht. Das von Natur aus ganz nach außen gewendete
Leben der Menschen erlaubt für gewöhnlich derartige Introversionen
nicht; es muß dazu schon ein gewisser Ausnahmezustand vorausgesetzt
werden, nämlich ein Mangel an äußeren Objekten, welcher das Indi-
viduum dazu zwingt, einen Ersatz dafür in der eigenen Seele zu suchen.
Es ist nun allerdings schwer zu denken, daß diese reiche Welt zu arm sein
sollte, um dem Lieben eines Menschenatomes kein Objekt bieten zu
können. Das kann auch der Welt und ihren Dingen nicht zugemutet
werden. Sie bietet unendlichen Raum für jeden. Es ist vielmehr die
Unfähigkeit zu lieben, welche den Menschen seiner Möglichkeiten
beraubt. Leer ist diese Welt nur dem, der.es nicht versteht, seine Libido
auf die Dinge zu lenken und sie für ihn lebendig und schön zu machen.
(Die Schönheit liegt ja nicht im den Dingen, sondern im Gefühl, das
wir den Dingen geben.) Was uns also zwingt, einen Ersatz aus uns
!) Vgl. dazu auch die interessanten Untersuchungen von H. Silberer:
Dieses Jahrbuch, Bd. I, S. 513 ff.
218 C. G. Jung.
selber zu schaffen, ist nicht der äußere Mangel an Objekten, sondern
unsere Unfähigkeit, ein Ding außer uns liebend zu umfassen. Gewiß
werden die Schwierigkeiten der Lebenslage und die Widrigkeiten
des Daseinskampfes bedrücken, aber auch schlimme äußere Situationen
werden uns das Ausgeben der Libido nicht verwehren, im Gegenteil,
sie können uns zu den größten Anstrengungen anspornen, wobei wir
unsere ganze Libido an die Realität heranbringen können. Nie werden
reale Schwierigkeiten die Libido dermaßen dauernd zurückzwingen
können, daß daraus z. B. eine Neurose entsteht. Dazu fehlt der Kon-
flikt, der die Bedingung jeder Neurose ist. Der Widerstand,
der sein Nichtwollen dem Wollen entgegensetzt, vermag es allein,
jene pathogene Introversion zu erzeugen, welche der Ausgangspunkt
jeder psychogenen Störung ist. Der Widerstand gegen das Lieben
erzeugt die Unfähigkeit zur Liebe. Wie die normale Libido einem
beständigen Strome gleicht, der seine Wasser breit in die Welt der
Wirklichkeit hinausergießt, so gleicht der Widerstand, dynamisch
betrachtet, nicht etwa einem im Flußbett sich erhebenden Felsen, der
vom Strom über- oder umflutet wird, sondern einem Rückströmen,
statt nach der Mündung, nach der Quelle hin. Ein Teil der Seele will
wohl das äußere Objekt, ein anderer Teil aber möchte zurück nach der
subjektiven Welt, wo die luftigen und leicht gebauten Paläste der Phan-
tasie winken. Man könnte diese Zwiespältigkeit menschlichen Wollens,
wofür Bleuler von psychiatrischen Gesichtspunkten aus den Begriff
der Ambitendenz!) geprägt hat, als etwas immer und überall Vor-
handenes annehmen und sich daran erinnern, daß auch der allerprimi-
tivste motorische Impuls schon gegensätzlich ist, indem z. B. beim
Streckakte auch die Beugemuskeln innerviert werden; diese normale
Ambitendenz aber führt niemals zur Erschwerung oder gar Verhinderung
des intendierten Aktes, sondern ist unerläßliche Vorbedingung für dessen
Vollkommenheit und Koordination. Daß aus dieser Harmonie fein
abgestimmter Gegensätzlichkeit dem Handeln ein störender Widerstand
erwachse, dazu gehört ein abnormes Plus oder Minus auf der einen
oder andern Seite. Aus diesem dazutretenden Dritten entsteht der
Widerstand). Dies gilt auch für die Zwiespältigkeit des Wollens, aus
der dem Menschen so viele Schwierigkeiten erwachsen. Erst das abnorme
Dritte löst die normalerweise in innigster Verbindung befindlichen
!) Siehe Bleuler: Psychiatr.-neurol. Wochenschr., XII. Br Nr. 18 bis 21.
2 . .
) Vgl. dazu meine Auseinandersetzung: Dieses Jahrbuch, Bd. III, $. 469.
Wandlungen und Symbole der Libido. 219
Gegensatzpaare und bringt sie als getrennte Tendenzen zur Er-
scheinung; erst dadurch werden sie eigentlich zu Wollen und Nicht-
wollen!), die einander hindernd in den Weg treten. Die Harmonie
wird so zur Disharmonie. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, zu
untersuchen, woher das unbekannte Dritte stamme und was es sei,
Bei unseren Kranken an der Wurzel gefaßt, enthüllt sich der ‚‚Kern-
komplex“ (Freud) als das Inzestproblem. Als Inzesttendenz er-
scheint uns die zu den Eltern regredierende Sexuallibido. Daß dieser
Weg so leicht möglich ist, scheint davon herzukommen, daß die Libido
auch eine ungeheure Trägheit besitzt, die kein Objekt der Ver-
sangenheit lassen will, sondern für immer festhalten möchte. Der
‚„tempelschänderische Griff rückwärts“, von dem Nietzsche spricht,
entpuppt sich, seiner Inzesthülle entkleidet, als ein ursprünglich passives
Steckenbleiben der Libido bei den ersten Kindheitsobjekten. Diese
Trägheit ist aber auch eine Leidenschaft, wie dies La Rochefoucauld?)
glänzend ausführt: ‚De toutes les passions, celle qui est la plus
inconnue & nous-mömes, c’est la paresse; elle est la plus ardente et
la plus maligne de toutes, quoique sa violence soit insensible, et
que les dommages qu’elle cause soient tres caches: si nous considerons
attentivement son pourvoir, nous verrons qu’elle se rend en toutes
rencontres maitresse de nos sentiments, de nos interets et de
nos plaisirs: c’est la r&more qui a la force d’arr&ter les plus grands
vaisseaux, c’est une bonace plus dangereuse aux plus importantes
affaires que les &cueils et que les plus grandes tempetes. Le repos
de la paresse est un charme secret de l’äme qui suspend sou-
dainement les plus ardentes poursuites et les plus opiniätres reso-
lutions. Pour donner enfin la v£eritable id6e de cette passion il
faut dire que la paresse est comme une be&atitude de
l’äme, qui la console de toutes ses pertes et qui lui tient lieu des
tous ses biens.“
Diese gefährliche, dem primitiven Menschen vor allen andern
zukommende Leidenschaft ist es, die unter der bedenklichen Maske
der Inzestsymbole erscheint, von der uns die Inzestangst wegzutreiben
hat, und die unter dem Bilde der ‚‚furchtbaren Mutter?) vor allem
!) Vgl. die Ermahnung Krishnas an den wankenden Arjuna in Bhagavad-
Gitä: „But thou, be free of the pairs of opposites!“ II. book. transl. by
E. Arnold, 1910.
2?) Pensees LIV.
®) Vgl. dazu die folgenden Kapitel.
220 C. @. Jung.
zu überwinden ist. Sie ist die Mutter so unendlich vieler Übel, nicht
zuletzt der neurotischen Beschwernisse. Denn ganz besonders aus dem
Dunste stehengebliebener Libidoreste entwickeln sich jene schädlichen
Phantasienebel, welche die Realität so verschleiern, daß die Anpassung
beinahe unmöglich wird. Wir wollen aber hier den Grundlagen der
Inzestphantasien nicht weiter nachspüren; die vorläufige Andeutung
meiner rein psychologischen Auffassung des Inzestproblems
möge genügen. Hier soll uns nur die Frage beschäftigen, ob der Wider-
stand, der bei unserer Autorin zur Introversion führt, eine bewußte
äußere Schwierigkeit bedeute oder nicht. Wäre es eine äußere Schwierig-
keit, so würde zwar die Libido heftig aufgestaut, sie würde eine Hoch-
flut von Phantasien erzeugen, die man am besten als Pläne bezeichnet;
nämlich Pläne, wie man das Hindernis überwinden könnte. Es wären
sehr konkrete Wirklichkeitsvorstellungen, welche Lösungen anzubahnen
suchen. Es wäre ein angestrengtes Nachdenken, das zu allem andern
wohl eher führte, als zu einem hypnagogischen Drama. Der oben ge-
schilderte passive Zustand will zu einem wirklichen äußern Hindernis gar
nicht passen,sondern deutet eben durch seine passive Ergebenheit auf eine
Tendenz, die unzweifelhaft reale Lösungen verschmäht und einen
phantastischen Ersatz bevorzugt. Es dürfte sich demnach in letzter
Linie und wesentlich nur um einen innern Konflikt handeln, etwa in
der Art jener früheren Konflikte, welche zu den beiden ersten unbe-
wußten Schöpfungen geführt haben. Wir sind demnach zu dem Schlusse
genötigt, daß das äußere Objekt nicht geliebt werden kann, weil ein
überwiegender Libidobetrag ein phantastisches Objekt bevorzugt,
das zum Ersatz der fehlenden Wirklichkeit aus den Tiefen des Un-
bewußten heraufgeholt werden soll.
= Die auf den ersten Stufen der Introversion sich ergebenden
visionären Phänomene rangieren unter den bekannten Erscheinungen‘)
der hypnagogischen Vision (sog. ‚„„Bigenlichterscheinungen“ des Auges).
Sie bilden, wie ich in einer früheren Arbeit auseinandersetzte, die
Grundlage der eigentlichen Visionen, der symbolischen Selbstwahr-
nehmungen der Libido, wie wir jetzt sagen könnten.
Miller fährt fort: „Ich hatte darauf den Ei '
RE | Bu» ndruck, als ob irgend eine
Mitteilung mir unmittelbar bevorstehe. Es schien mir, als ob die Worte
1 V . .. 5 ”
) Vgl. dazu: Joh. Müller: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen,
Coblenz, 1826, und i A
FEB und Jung: Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter
Wandlungen und Symbole der Libido. 221
sich in mir wiederholten: ‚Rede, o Herr, denn deine Magd hört, öffne du
selbst meine Ohren!“
Dieser Passus schildert sehr deutlich die Intention; der Ausdruck
„communique‘‘ (Mitteilung) ist sogar ein in spiritistischen Kreisen
geläufiger Ausdruck. Die biblischen Worte enthalten eine deutliche
Anrufung oder ‚‚Gebet“, d. h. ein an die Gottheit (den unbewußten
Komplex) gerichtetes Wünschen (= libido). Das Gebet bezieht sich
auf 1 Sam. 3, 1ff., wo Samuel nachts dreimal von Gott gerufen wird,
aber glaubt, Eli rufe ihn, bis ihn dieser belehrt, daß Gott es sei, der ihn
rufe und daß er ihm, wenn er wieder seinen Namen rufe, antworten
solle: ‚Rede, denn dein Knecht höret.‘“ Die Träumerin benutzt diese
Worte eigentlich in umgekehrtem Sinne, nämlich um damit den Gott
zu erzeugen; sie leitet ihre Wünsche, ihre Libido, damit in die Tiefen
ihres Unbewußten.
Wir wissen, daß so sehr die Individuen durch die Verschiedenheit
ihres Bewußtseinsinhaltes getrennt sind, sie um so ähnlicher sind,
was ihre unbewußte Psychologie betrifft. Es ist für jeden, der praktisch
psychoanalytisch arbeitet, ein bedeutender Eindruck, wenn er inne
wird, wie gleichförmig eigentlich die typischen unbewußten Komplexe
sind. Verschiedenheit entsteht erst durch die Individuation. Diese
Tatsache gibt einem wesentlichen Stücke der Schopenhauerschen
und Hartmannschen Philosophie eine tiefe psychologische Be-
rechtigung!). Diesen philosophischen Anschauungen dient die ganz
offenkundige Gleichförmigkeit des Unbewußten als psychologische
Grundlage. Das Unbewußte enthält jene durch die individuelle Dif-
ferenzierung überwundenen weniger differenzierten Reste früherer
psychologischer Funktion. Die Reaktionen und Produkte der tierischen
Psyche sind von einer allgemein verbreiteten Gleichförmigkeit und
Festigkeit, die wir beim Menschen anscheinend nur spurweise zu ent-
decken vermögen. Der Mensch erscheint uns als etwas ungemein
Individuelles im Gegensatz zum Tiere.
Das könnte nun allerdings auch eine gewaltige Täuschung sein,
indem wir die zweckmäßige Tendenz haben, immer nur die Verschieden-
heit der Dinge zu erkennen. Das erfordert die psychologische Anpassung,
welche ohne die minutiöseste Differenzierung der Eindrücke gar nicht
möglich wäre. Wir haben gegenüber dieser Tendenz sogar die denkbar
größte Mühe, die Dinge, mit denen wir uns tagtäglich beschäftigen,
1) Ebenso der verwandten Lehre der Upanishaden.
232 | C. G. Jung.
in ihren allgemeinen Zusammenhängen zu erkennen. Diese Erkenntnis
wird uns viel leichter bei Dingen, die uns ferner stehen. Es ist z. B,
für einen Europäer zunächst fast unmöglich in einer chinesischen
Volksmenge die Gesichter zu differenzieren, während doch die Chinesen
ebenso individuelle Gesichtsbildung haben, wie wir Europäer; aber
das Gemeinsame ihrer fremdartigen Gesichtsbildung ist dem Fern-
stehenden viel einleuchtender als die individuelle Verschiedenheit,
Tıeben wir aber unter den Chinesen, so verschwindet der Eindruck
des Einheitlichen mehr und mehr und schließlich sind auch die Chinesen
Individuen. Die Individualität gehört zu jenen bedingten Tatsächlich-
keiten, die wegen ihrer praktischen Bedeutsamkeit theoretisch ungeheuer
überschätzt werden; sie gehört nicht zu jenen überwältigend klaren und
sich darum aufdrängenden allgemeinen Tatsachen, auf welche zunächst
eine Wissenschaft sich zu gründen hat. Der individuelle Bewußtseinsinhalt
ist so das denkbar ungünstigste Objekt für eine Psychologie, weil er
eben das Allgemeingültige bis zur Unkenntlichkeit verschleiert hat.
Das Wesen des Bewußtseinsprozesses ist ja der in minutiösen Einzel-
heiten sich abspielende Anpassungsprozeß. Dagegen ist das Unbewußte
das Allgemeinverbreitete, das nicht nur die Individuen unter sich
zum Volke, sondern auch rückwärts mit den Menschen der Vergangen-
heit und ihrer Psychologie verbindet. So ist das Unbewußte in seiner
über das Individuelle hinausgehenden Allgemeinheit in erster Linie
das Objekt einer wirklichen Psychologie, die Anspruch darauf erhebt,
keine Psychophysik zu sein.
Der Mensch als Individuum ist eine verdächtige Erscheinung,
deren Existenzberechtigung von einem natürlichen biologischen Stand-
punkt aus sehr bestritten werden könnte, indem von dort aus das
Individuum nur Rassenatom ist und nur Sinn hat als Massenbestandteil.
Der Kulturstandpunkt aber gibt dem Menschen eine ihn von der Masse
trennende Individualtendenz, die im Laufe der Jahrtausende zur
Persönlichkeitsausbildung führte, womit Hand in Hand der Heroen-
kult Sich entwickelte und in den modernen individualistischen Per-
sönlichkeitskultus übergegangen ist. Der Versuch der rationalistischen
Theologie, den persönlichen Jesus festzuhalten als letzten und
kostbarsten Rest der ins Unvorstellbare entschwundenen Gottheit
entspricht dieser Tendenz. In dieser Hinsicht war die katholische
Kirche bedeutend praktischer, indem sie dem allgemeinen Bedürfnis
er dem sichtbaren oder doch wenigstens historisch beglaubigten
eros dadurch entgegenkam, daß sie einen kleinen, aber deutlich
Wandlungen und Symbole der Libido. 223
wahrnehmbaren Gott der Welt, nämlich den römischen Papa, den
Pater patrum und zugleich den Pontifex maximus des unsichtbaren
obern oder innern Gottes auf den Thron der Anbetung setzte. Die sinn-
liche Wahrnehmbarkeit des Gottes unterstützt natürlich den religiösen
Introversionsprozeß, in dem die menschliche Figur die Übertragung
wesentlich erleichtert, denn unter einem geistigen Wesen kann man
sich nicht leicht etwas Liebenswertes oder Verehrungswürdiges vor-
stellen. Diese überall vorhandene Tendenz hat sich in der ratio-
nalistischen Theologie mit Ihrem durchaus historisch gewollten Jesus
heimlicherweise erhalten. Nicht daß die Menschen. den sichtbaren
Gott liebten, sie lieben ıhn nicht so, wie er ist, denn er ist bloß ein
Mensch, und wenn die Frommen Menschen lieben wollten, so könnten
sie zu ihrem Nachbarn und zu ihrem Feinde gehen, um ihn zu lieben.
Die Menschen wollen im Gotte nur ihre Ideen lieben, nämlich das,
was sie von Vorstellungen in den Gott projizieren. Sie wollen damit
ihr Unbewußtes lieben, nämlich jene in allen Menschen gleichen Reste
uralten Menschtums und zehntausendjähriger Vergangenheit, d. h.
jenes von aller Entwicklung hinterlassene Gemeingut, das allen Menschen
geschenkt ist, wie das Sonnenlicht und die Luft. Indem aber die Menschen
dieses Erbgut lieben, lieben sie das, was allen gemeinsam ist; sie kehren so
zur Mutter der Menschen, nämlich zum Geiste der Rasse zurück, und ge-
winnen auf diese Weise wieder etwas von jenem Zusammenhang und von
jener geheimen und unwiderstehlichen Kraft, die das Gefühl der Zu-
sammengehöriskeit mit der Herde zu verleihen pflest. Es ist das Problem
des Antaeus, der nur durch die Berührung mit der Mutter Erde seine
Riesenkraft bewahrt. Dieses zeitweilige Insichselbstzurücktreten, was,
wie wir bereits gesehen haben, ein Zurückgehen in ein kindliches Ver-
hältnis zu den Elternimagines bedeutet, scheint innerhalb gewisser
Grenzen von günstiger Wirkung auf den psychologischen Zustand
des Individuums zu sein. Es ist überhaupt zu erwarten, daß die beiden
Grundmechanismen der Psychosen, die Übertragung und die Intro-
version, in weitem Maße auch höchst zweckmäßige normale Reaktions-
weisen gegen Komplexe sind: die Übertragung als ein Mittel, sich vor
dem Komplex in die Realität zu flüchten, die Introversion als ein
Mittel, sich mit dem Komplex von der Realität loszumachen.
Nachdem wir uns nunmehr unterrichtet haben über die allgemeinen
Absichten des Gebetes, sind wir gerüstet, weiteres über die Visionen
unserer Träumerin zu vernehmen: nach dem Gebet erscheint ‚‚der
Kopf einer Sphinx mit ägyptischen Kopfputz“, um rasch wieder zu
234 C. G. Jung.
verschwinden. Hier wurde die Autorin gestört, so daß sie für einen
Moment geweckt wurde. Diese Vision erinnert an die eingangs er-
wähnte Phantasie von der ägyptischen Statue, deren erstarrte Geste
hier als ein Phänomen der sog. funktionalen Kategorie ganz am
Platze ist. Die leichten Stadien der Hypnose werden auch technisch
als „„‚Engourdissement“ bezeichnet. Das Wort ‚‚Sphinx“ deutet in
der ganzen zivilisierten Welt auf ‚Rätsel‘; ein rätselhaftes Geschöpf,
das Rätselfragen stellt, wie die Sphinx des Ödipus, welche am Ein-
gang seines Schicksals steht als eine symbolische Ankündigung des
Unabwendbaren. Die Sphinx ist eine halb theriomorphe Darstellung
derjenigen Mutterimago, die man als die ‚‚furchtbare Mutter“, von der
sich in der Mythologie noch reichlich Spuren finden, bezeichnen kann.
Diese Deutung trifft bei Ödipus zu. Hier steht die Frage offen. Man
wird mir vorwerfen, daß nichts außer dem Wort ‚‚Sphinx“ die Anspielung
auf die Sphinx des Ödipus rechtfertige. Bei dem Mangel an subjektiven
Materialien, die im Millerschen Texte für diese Vision ganz fehlen,
wäre eine individuelle Deutung auch ganz ausgeschlossen. Die Andeutung
einer „ägyptischen“ Phantasie (Erster Teil, Kapitel III) ist ganz un-
genügend, um hier verwendet zu werden. Wir sind daher gezwungen,
wenn wir uns überhaupt an ein Verständnis dieser Vision wagen
wollen, — in vielleicht allzu kühner Weise — an die völkergeschichtlich
vorliegenden Materialien uns zu wenden unter der Voraussetzung,
daß das Unbewußte des heutigen Menschen seine Symbole noch ebenso
präge, wie fernste Vergangenheit. Die Sphinx in ihrer traditionellen
Form ist ein menschlich-tierisches Mischwesen, dem wir diejenige
Auffassung müssen zuteil werden lassen, die überhaupt für dergleichen
Phantasieprodukte Geltung hat. Ich verweise zunächst im allgemeinen
auf die Ausführungen des ersten Teiles, wo von der theriomorphen
Repräsentation der Libido gesprochen wurde. Dem Analytiker ist
diese Darstellungsweise aus den Träumen und den Phantasien der
Neurotiker (und Normalen) ganz geläufig. Der Trieb wird gern als
ein Tier dargestellt, als Stier, Pferd, Hund usw. Einer meiner Patienten,
der mißliche Beziehungen zu Weibern hatte und der sozusagen mit
der Befürchtung, ich werde ihm sicher seine Sexualabenteuer ver-
bieten, in die Behandlung eintrat, träumte, ich (sein Arzt) spieße ein
sonderbares Tier, halb Schwein, halb Krokodil, mit großer Geschick-
lichkeit an die Wand. Von derartigen theriomorphen Darstellungen
ii Gt wimmeln die Träume. Auch Mischwesen, wie in diesem
e, sind nicht selten. Eine Reihe von sehr schönen Belegen, wo
Wandlungen und Symbole der Libido. 225
besonders die untere animalische Hälfte theriomorph dargestellt ist,
hat uns Bertschinger gegebent). Die Libido, welche theriomorph
repräsentiert wird, ist die ‚tierische‘ Sexualität, welche sich in ver-
drängtem Zustande befindet. Bekanntlich geht die Geschichte der
Verdrängung auf das Inzestproblem zurück, wo sich die ersten Gründe
für den moralischen Widerstand gegen die Sexualität auftun. Die
Objekte der verdrängten Libido sind in letzter Linie die Imagines von
Vater und Mutter, daher die theriomorphen Symbole, sofern sie nicht
bloß allgemein die Libido symbolisieren, gern Vater und Mutter dar-
stellen (z. B. Vater durch einen Stier, Mutter durch eine Kuh dar-
gestellt). Aus dieser Wurzel dürften, wie wir früher zeigten, die therio-
morphen Attribute der Gottheit stammen. Insofern verdrängte Libido
unter gewissen Bedingungen sich wieder als Angst manifestiert, sind
diese Tiere meist schrecklicher Natur. Im Bewußtsein hängt man
mit allen Fasern der Pietät an der Mutter, im Traum verfolst sie einen
als schreckliches Tier. Die Sphinx, mythologisch betrachtet, ist nun
tatsächlich ein Angsttier, das deutliche Züge eines‘ Mutterderivates
erkennen läßt: In der Sage des Ödipus ist die Sphinx gesandt von
Here, welche Theben um der Geburt des Bacehus willen haßte. Indem
Ödipus die Sphinx, welche nichts anderes als die Angst vor der
Mutter ist, überwindet, muß er Jokaste, seine Mutter, freien, da der
Thron und die Hand der verwitweten Königin von Theben dem. zu-
gehörten, der das Land von der Sphinxplage befreite. Die Genealogie
der Sphinx ist reich an Beziehungen auf das hier angeregte Problem:
sie ist eine Tochter der Echidna, eines Mischwesens, oben eine schöne
Jungfrau, unten eine gräuliche Schlange. Dieses Doppelwesen ent-
spricht dem Bilde der Mutter: oben die menschliche liebenswerte
anziehende Hälfte, unten die anımalische, durch das Inzestverbot in
ein Angsttier umgewandelte, furchtbare Hälfte. Die Echidna stammt
von der Allmutter, der Mutter Erde, Gäa, welche mit Tartaros,
der personifizierten Unterwelt (dem Orte der Angst), sie zeugte. Echidna
selber ist die Mutter aller Schrecken, der Chimära, Sceylla, Gorgo, des
scheußlichen Cerberus, des nemeischen Löwen und des Adlers, der des
Prometheus Leber fraß, außerdem zeugte sie noch eine Reihe von
Drachen. Einer ihrer Söhne ist auch Orthrus, der Hund des ungeheuer-
lichen Geryon, der von Herakles getötet wurde. Mit diesem Hunde,
1) Bertschinger: Illustrierte Halluzinationen. Dieses Jahrbuch, Bd. III,
S. 69 £f,
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. IV. 15
2236 C. G. Jung.
ihrem Sohne, erzeugte Echidna in blutschänderischem Beischlafe
die Sphinx. Diese Materialien dürften genügen, um jenen Libidobetrag
zu charakterisieren, der Anlaß zum Sphinxsymbol wurde. Wenn wir
bei dem Mangel an subjektivem Material es überhaupt wagen dürfen,
einen Rückschluß auf das Sphinxsymbol bei unserer Autorin zu machen,
so müßten wir sagen, daß die Sphinx einen ursprünglich inzestuös ab-
gespaltenen Libidobetrag aus dem Verhältnis zur Mutter repräsentiere.
Vielleicht schieben wir aber diesen Schluß auf, bis wir die folgenden
Visionen vernommen haben.
Nachdem nun Miller sich wieder konzentriert hatte, entwickelten
sich die Visionen weiter: ‚Plötzlich erscheint ein Aztek, vollständig klar
in jedem Detail: die Hand offen mit großen Fingern, profilierter Kopf,
Rüstung, Kopfschmuck ähnlich dem Federschmuck des amerikanischen
Indianers. Das Ganze erinnert etwas an mexikanische Skulpturen.“
Das altertümliche Ägyptische der Sphinx ist hier durch die ameri-
kanische Vorzeit, durch das Aztekische ersetzt. Das Wesentliche hängt
daher weder an Ägypten, noch an Mexiko — denn beides läßt sich nicht
miteinander vertauschen — sondern an dem subjektiven Moment,
das die Träumerin aus ihrer eigenen Vorzeit produziert. Es ist zu be-
merken, daß ich bei Analysen von Amerikanern häufig beobachtet habe,
daß gewisse unbewußte Komplexe (d. h. die verdrängte Sexualität)
sich durch das Symbol des Negers oder Indianers darstellten, d. h.
wo ein Europäer in seinem Traum erzählte: ‚dann kam ein abgerissenes,
schmutziges Individuum daher. ... .“, ist es beim Amerikaner
und bei solchen, die in den Tropen lebten, ein Neger. Wie bei uns der
Vagabund, Verbrecher usw., so bezeichnet auch der N eger oder In-
dianer die eigene verdrängte, primitive und als minderwertig betrachtete
Sexualpersönlichkeit. Es lohnt sich auch auf die Einzelheiten
der Vision einzutreten, da verschiedenes bemerkenswert ist. Der Feder-
schmuck, der natürlich aus Adlerfedern zu bestehen hat, ist eine Art
Zauber. Der Held nimmt dadurch etwas von der sonnenhaften Art
dieses Vogels an, wenn er sich mit dessen Federn schmückt, so gut wie
man sich den Mut und die Kraft des Feindes aneignet, wenn man dessen
Herz verschluckt oder sein Skalp nimmt. Zugleich ist die Federkrone
eine Krone, was gleichbedeutend ist mit der Strahlenkrone der Sonne.
Wie wichtig historisch die Sonnenidentifikation ist, haben wir im
ersten Teil gesehen!).
1 7: R r ü 4
5. ) Wie sehr wichtig es Krönung und Sonnenidentifikation ist, das zeigen
nur zahllose alte Gebräuche, sondern auch die entsprechenden altertüm-
Wandlungen und Symbole der Libido. 227
Besonderes Interesse kommt der Hand zu, deren Stellung
als „offen“, und deren Finger als „large“ (& larges doigts) angegeben
werden. Es ist auffallend, daß es gerade die Hand ist, auf die ein deut-
licher Akzent fällt. Man hätte vielleicht eher eine Schilderung des
Gesichtsausdruckes erwarten können. Bekanntlich ist die Geste der
Hand bedeutsam; leider wissen wir hier nichts darüber. Immerhin
ist hier eine Parallelphantasie zu erwähnen, welche ebenfalls die Hand
akzentuiert: Der Patient sah im hypnagogischen Zustand seine Mutter
wie ein byzantinisches Kirchengemälde an die Wand gemalt, sie hielt
die eine Hand in die Höhe, weit offen mit gespreizten Fingern. Die
Finger waren sehr groß, an den Enden kolbig angeschwollen und
je von einer kleinen Strahlenkorona umgeben. Der nächste Einfall
zu diesem Bild waren die Finger eines Frosches mit Saugscheiben an
den Enden, dann die Penisähnlichkeit. Die altertümliche Aufmachung
dieses Mutterbildes ist ebenfalls von Belang. Offenbar hat bei dieser
lichen Sprachfiguren in der religiösen Sprache: Weish. Sal. 5, 17: „Darum werden
sie empfangen — eine schöne Krone von der Hand des Herrn.“ 1. Petr. 5, 2, 4:
„‚Weidet die Herde Christi, — so werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte,
die unverwelkliche Krone der Ehre empfangen.‘ In einem Kirchenliede von
Allendorf heißt es von der Seele: ‚‚Sie ist nun aller Not entnommen, Ihr Schmerz
und Seufzen ist dahin; Sie ist zur Freudenkrone kommen, Sie steht als Braut
und Königin, Im Golde ewger Herrlichkeiten, Dem großen König an der
Seiten“ usw. In einem Liede von Laurentius Laurentii heißt es (ebenfalls
von der Seele): ‚„Der Braut wird, weil sie überwunden, Die Krone nun vertraut.‘
In einem Liede von Sacer finden wir den Passus: ‚„‚„Schmückt meinen Sarg mit
Kränzen, Wie sonst ein Sieger prangt — Aus jenen Himmelslenzen, Hat meine
Seel’ erlangt, Die ewig grüne Krone; Die werte Siegespracht, Rührt her von
Goottes Sohne: Der hat mich so bedacht.‘ Eine Stelle aus dem oben erwähnten
Liede Allendorfs ist hier ergänzend anzufügen, damit das uralte Psychologem
von der Sonnenwerdung des Menschen, der wir im ägyptischen Triumphgesang
der aufsteigenden Seele begegneten, wieder voll werde: (Von der Seele. Fort-
setzung des obigen Passus.) ‚‚Sie sieht sein klares Angesicht (Sonne); Sein
freudenvoll, sein lieblich Wesen Macht sie nun durch und durch genesen; Sie
ist ein Lieht in seinem Licht. — Nun kann das Kind den Vater sehen, Es
fühlt den sanften Liebestrieb; Nun kann es Jesu Wort verstehen: Er selbst,
der Vater, hat dich lieb. Ein unergründlich Meer des Guten, Ein Abgrund ew’ger
Segensfluten, Entdeckt sich dem verklärten Geist; Er schauet Gott von An-
gesichte, Und weiß was Gottes Erb im Lichte Und ein Miterbe Christi
heißt. -— Der matte Leib ruht in der Erden; Er schläft bis Jesus ihn erweckt.
Dann wird der Staub zur Sonne werden, Den jetzt die finstre Gruft bedeckt;
Dann werden wir mit allen Frommen, Wer weiß, wie bald, zusammenkommen,
Und bei dem Herrn sein alle Zeit.‘‘ Ich habe durch Sperrdruck die bezeichnenden
Stellen herausgehoben ; sie sprechen für sich selbst, so daß ich nichts beizufügen habe.
15*
228 0. G. Jung.
letzteren Phantasie die Hand phallische Bedeutung. Diese Deutung
wird erhärtet durch eine höchst bemerkenswerte weitere Phantasie
desselben Patienten: Er sieht aus der Hand seiner Mutter etwas wie
eine Rakete aufsteigen, die bei genauerem Zusehen ein leuchtender
Vogel mit goldenen Flügeln ist, ein Goldfasan, wie ıhm dann einfällt.
Wir haben in den vorausgehenden Kapiteln gesehen, daß der Hand
tatsächlich eine phallische, zeugende Bedeutung zukommt, und daß
diese Bedeutung bei der Feuererfindung eine große Rolle spielt.
Zu dieser Phantasie läßt sich nur bemerken: mit der Hand wird das
Feuer gebohrt, aus der Hand kommt es also: Agni, das Feuer, wird
als ein goldbeschwingter Vogel gepriesen!). Daß es die Hand
der Mutter ist, das ist überaus bedeutsam. Ich muß es mir aber ver-
sagen, hier näher darauf einzutreten. Es möge genügen, durch die paral-
lelen Handphantasien auf die mögliche Bedeutung der Hand des
Azteken hingewiesen zu haben. Wir haben bei der Sphinx andeutungs-
weise die Mutter erwähnt. Der die Sphinx ersetzende Aztek weist
durch seine verdächtige Hand auf parallele Phantasien, wo die phallische
Hand tatsächlich der Mutter gehört. Ebenso stoßen wir bei den Parallel-
phanitasien auch auf das Altertümliche. Daß das Altertümliche, das wir aus
andern Erfahrungen als ein Symbol für ‚‚infantil‘“ ansprechen, tatsächlich
auch hier diesen Wert hat, bestätigt Miller in den Anmerkungen zu
ihren Phantasien, sie sagt: „Dans mon enfance, je m’interessais
tout particuli&rement aux fragments azt&ques et & l’histoire du P£rou et
des Incas.“ Durch die beiden Kinderanalysen, welche dieses Jahrbuch
gebracht hat, haben wir Einblick gewonnen in die kleine Welt des Kindes
und haben gesehen, welch brennende Interessen und Fragen heimlich
die Eltern umgeben, und daß es die Eltern sind, denen auf lange Zeit
hinaus alle Interessen gelten?). Man darf daher mit Recht vermuten,
daß das Altertümliche den ‚‚Alten“ gelte, d. h. den Eltern; daß mithin
dieser Aztek etwas von Vater oder Mutter an sich habe. Bis jetzt deuten
indirekte Hinweise nur auf die Mutter, was wiederum bei einer Ameri-
kanerin nicht erstaunlich ist, indem Amerika, infolge der starken
Ablösung vom Vater, charakterisiert ist durch einen meist enormen
Mutterkomplex, was wiederum mit der besondern sozialen Stellung
der Frau in den Vereinigten Staaten zusammenhängt. Diese Stellung
1) Ich muß, um Mißverständnisse zu vermeiden, hinzufügen, daß dies
dem Patienten gänzlich unbekannt war.
2 °) Das bestätigt auch die Analyse eines 11jährigen Mädchens, über die
ıch am I. Congrös International de Pedologie, 1911 in Brüssel berichtete.
Wandlungen und Symbole der Libido. 229
bedingt bei tüchtigen Frauen eine besondere Männlichkeit, die die
Symbolisierung in einer männlichen Figur leicht ermöglichtt).
Nach dieser Vision fühlte Miß Miller, wie sich ihr ein Name
„Stück für Stück“ formte, der diesem Azteken, ‚dem Sohn eines
Inka von Peru“, zuzugehören scheint. Der Name lautet: Chi-wan-to-pel.
Wie die Autorin andeutet, gehört etwas Derartiges zu ihren kindlichen
Reminiszenzen. Der Akt der Namengebung ist, wie die Taufe, etwas
für die Schöpfung der Persönlichkeit ungemein Wichtiges, mdem dem
Namen seit alters eine magische Gewalt zugetraut wird, mit der man
z. B. den Geist der Verstorbenen herbeizwingen kann. Den Namen
jemandes wissen, bedeutet mythologisch, Macht über ihn haben. Als
allgemein bekanntes Beispiel erwähne ich das Märchen vom Rumpel-
stilzchen. In einem ägyptischen Mythus nimmt Isis dadurch dauernd
dem Sonnengott R& die Macht, daß sie ihn nötigt, ihr seinen wahren
Namen mitzuteilen usw. Den Namen geben heißt daher, Macht geben,
eine bestimmte Persönlichkeit verleihen?). Über den Namen selber
bemerkt die Autorin, daß er sie sehr erinnere an den eindrucksvollen
Namen des Popocatepetl, der bekanntlich zu den unverlierbaren
Schulerinnerungen gehört und zur größten Indignation der Patienten
in der Analyse öfter in einem Traum oder Einfall auftaucht und den-
selben alten Scherz mitbringt, den man in der Schule gehört, selber
gemacht, und später wieder vergessen hat. Wenn man sich auch nicht
!) Die Identität des göttlichen Heros mit dem Mysten ist unzweifelhaft.
In einem Papyrusgebet an Hermes heißt es: 0b ydo &yo xai &y@ 00’ TO 00% Övoud
Euov ral Td Euöv 00V" Eyo yao el TO EeiWoAo» oov. (Kenyon: Greek Papyr.
in the Brit. Mus., 1893, S. 116. Pap. CXXII, 2ff. Cit. Dieterieh: Mithras-
lithurgie, S. 79.) Der Heros als Libidobild ist trefflich dargestellt im Leidener
Dionysoskopf (Roscher, I,-Sp. 1128), wo die Haare über der Stirn sich flammen-
artig emporschlängeln. Er ist — wie eine Flamme: ‚‚Dein Heiliger wird eine
Flamme sein.“ Firmicus Maternus (de errore prof. relig. 104, 28.) macht
uns auch bekannt mit der Tatsache, daß der Gott als Bräutigam und ‚‚junges
Licht“ begrüßt wurde. Er überliefert den verderbten griechischen Satz: Öe vuype
yawe vuvpe veov Po@g, dem er die christliche Auffassung naiv entgegen hält:
‚‚Nullum apud te lumen est nec est aliquis qui sponsus mereatur audire: unum
lumen est, unus est sponsus. Nominum horum gratiam Christus aceepit.“
So ist auch Christus heute noch unser Heros und Seelenbräutigam. Diese
Attribute werden sich im folgenden auch für den Helden von Miß Miller be-
stätigen.
2) Die Namengebung ist bei sogenannten spiritistischen Manifestationen
daher von Bedeutung. Siehe meine Schrift: Zur Psychologie und Pathologie
sogenannter okkulter Phänomene, 1902.
230 0. G. Jung.
scheut, diesen unheiligen Scherz ps ychologisch vorurteilslos
in Betracht zu ziehen, so wird man sich doch nach der Berechtigung
dazu fragen. Man muß aber auch die Gegenfrage stellen, warum ist es
denn gerade immer der Popocatepetl und nicht der benachbarte
Iztacceihuatl oder der noch höhere und ebenfalls benachbarte Orizaba?
Letzterer hat sogar den schöneren und leichter auszusprechenden
Namen. Popocatepstl ist eindrücklich um seines onomatopoetischen
Namens willen. Im Englischen ist das Wort to pop = paffen (popgun =
Knallbüchse usw.), welches hier als Onomatopoesie in Betracht kommt;
im Deutschen usw. die Wörter Hinterpommern, Pumpernickel, Bombe,
Petarde (le pet = Flatus). Das dem Deutschen geläufige Wort ‚‚Popo“
(Podex) existiert zwar im Englischen nicht, hingegen wird der Flatus
als ‚to poop“ bezeichnet, in der Infantilsprache ‚‚to poopy“ (amer!-
kanisch). Der Akt des Defäzierens bei Kindern wird gern als ‚‚to pop“
bezeichnet. Ein scherzhafter Name für den Posterior ist ‚‚the bum“.
(Poop heißt auch das Hinterteil des Schiffes.) Im Französischen geht
pouf! als Onomatopoesie, pouffer —= platzen, la poupe = Schifis-
hinterteil, le poupard = Wickelkind, la poup6se = Puppe. Poupon
sagt man als Kosewort für ein pausbäckiges Kind. Im Holländischen
pop = Puppe. Im Lateinischen ist puppis = poupe, bei Plautus
aber auch scherzhaft für den rückwärtigen Körperteil gebraucht;
pupus heißt Kind, pupula —= Mädchen, Püppchen. (Das griechische zo-
nödw bezeichnet einen schnalzenden, klatschenden oder blasenden
Schall. Man sagt es vom Küssen, bei Theokrit auch von den Neben-
geräuschen des Flötenblasens.) Die etymologischen Parallelen zeigen eine
bemerkenswerte Verwandtschaft des in Frage stehenden Körperteils
mit dem Kinde. Diese Beziehung wollen wir hier nur hervorheben,
um sie zunächst fallen zu lassen. Diese Frage wird uns unten beschäftigen.
i Einer meiner Patienten hat in seinen Knabenjahren immer den
Defäkationsakt mit der Phantasie verknüpft: sein Posterior sei ein
Vulkan und es finde eine gewaltige Eruption statt, Gaseexplosionen
und Lavaergüsse. Die Bezeichnungen für die elementaren Natur-
ereignisse sind ursprünglich sehr wenig poetisch, man denke z. B. an
eisen: a 2 Meteor, das die deutsche Sprache in un-
Indianer nennen nenn ern en Baer
eben nach dem Prinzip des kl ek a a : 7 an
aus nächster Quelle ZB A Übe De 2 er. Ber
Bezeichnung des nn als De } : mobonymunallen
„Schiffens“ auf das Regnen.)
Wandlungen und Symbole der Libido. 231
Es scheint nun zunächst sehr dunkel zu sein, wieso die geradezu
mystisch erwartete Figur des Chiwantopel, welchen Miß Miller in
einer Anmerkung dem Kontrollgeist der Spiritisten vergleicht!), in
eine so unehrerbietige Nachbarschaft gerät, daß sein Wesen (Name)
sogar mit jenen abgelegenen Körperregionen in Verbindung gebracht
wird. Um diese Möglichkeiten zu verstehen, muß man sich sagen:
wenn aus dem Unbewußten produziert wird, so wird zunächst das
dem Gedächtnis verloren gegangene Material der Infantilzeit herauf-
gebracht. Man hat sich daher auf den Standpunkt jener Zeit zu stellen,
in welcher jenes Infantilmaterial noch an der Oberfläche war. Wenn
nun ein sehr verehrter Gegenstand vom Unbewußten in die Nähe des
Analen gerückt wird, so muß man daraus schließen, daß damit etwas
Ähnliches ausgedrückt sei, nämlich eine hohe Wertschätzung. Die
Frage ist nur, ob das auch der Psychologie des Kindes entspricht.
Bevor wir auf diese Frage eintreten, ist zu konstatieren, daß das Anale
mit der Verehrung ganz nahe zusammenhängt: Man denke an die
traditionellen Fäkalien des Großmogul; ein orientalisches Märchen
berichtet das gleiche von den christlichen Rittern, die sich mit dem
Kote des Papstes und der Kardinäle einsalbten, um sich furchtbar zu
machen. Eine Patientin, für welche besondere Verehrung des Vaters
charakteristisch ıst, hatte die Phantasie, sie sehe ihren Vater würdevoll
auf dem Nachtstuhl sitzen und vorübergehende Leute grüßten ihn
devot?). Schließlich bewahrt die kräftigere Sprache die treffliche Figur:
„Einem vor Untertänigkeit inden A.... kriechen‘“. Die Nachbarschaft
des Analen schließt die Verehrung oder Wertschätzung keineswegs aus,
wie die Beispiele zeigen, und wie leicht auch aus der innigen Beziehung
von Kot und Gold zu ersehen ist?); auch hier tritt das äußerst Wert-
!) Die Alten kannten diesen Dämon als den ovvoraöog, den Begleiter
und Mitfolger. |
®) Eine Parallele zu diesen Phantasien sind die bekannten Deutungen der
Sella Petri des Papstes.
®) Als Freud aus analytischen Erfahrungen auf den Zusammenhang
Kot-Gold aufmerksam machte, fanden sich viele Ignoranten veranlaßt, diesen
Zusammenhang vornehm zu belächeln. Die Mythologen denken hierüber anders:
so sagt de Gubernatis, daß immer Kot und Gold zusammen seien.
Grimm berichtet folgenden Zaubergebrauch: Wenn man das ganze Jahr
hindurch Geld im Hause haben will, so muß man am Neujahrstag Linsen essen.
Dieser merkwürdige Zusammenhang erklärt sich einfach durch die physiologische
Tatsache der Schwerverdaulichkeit der Linsen, die in Form von Münzen wieder
zutage treten. So ist man ein Geldsch...... geworden.
232 C. G. Jung.
lose in nächste Beziehung zum äußerst Wertvollen. Dies gilt auch von
religiösen Wertschätzungen. Ich fand (damals zu meinem großen Fr-
staunen), daß eine sehr religiös erzogene junge Patientin in einem
Traume den Kruzifixus auf dem Grunde eines blaugeblümten Nacht-
geschirres darstellte, also in der Form eines Exkrementum. Der Gegen-
satz ist so enorm, daß man annehmen muß, die Wertschätzungen
der Kindheit müßten von den unserigen doch recht verschieden sein.
Das sind sie tatsächlich auch. Die Kinder bringen dem Defäkationsakt
und dessen Produkten eine Hochachtung und ein Interesse entgegen!),
wie es später nur noch der Hypochonder zustande bringt. Wir begreifen
dieses Interesse erst dann, wenn wir sehen, daß das Kind schon früh
eine Propagationstheorie damit verknüpft?). Aus diesem libidinösen
Zuschuß wohl erklärt sich das enorme Interesse für diesen Akt. Das
Kind sieht: das ist der Weg, auf dem produziert wird, auf dem etwas
„herauskommt“.
Dasselbe Kind, von dem ich in der kleinen Broschüre ‚‚Über
Konflikte der kindlichen Seele‘ berichtete und das bekanntlich eine
ausgebildete Analgeburtstheorie hatte, wie der kleine Hans, über den
Freud berichtete, hat später eine gewisse Gewohnheit angenommen,
sich längere Zeit auf dem Klosett zu verweilen. Einmal wurde der Vater
ungeduldig, ging zum Klosett und rief: ‚‚Komm doch endlich malraus;
was machst du denn?‘ Worauf von innen die Antwort kam: ‚Ein
Wägelehen und zwei Ponies!“ Die Kleine ‚‚macht‘‘ also ein Wägelchen
und zwei Ponies, nämlich Dinge, die sie sich zu jener Zeit besonders
wünschte. Auf diesem Wege kann man sich machen, was man sich
wünscht, und das Gemachte ist das Gewünschte. Das Kind wünscht sich
sehnlichst eine Puppe oder (im Grunde genommen) ein wirkliches
Kind (d. h. das Kind übt sich zu seiner zukünftigen biologischen Auf-
gabe), und auf dem Wege, auf dem überhaupt produziert wird, macht
es sich die Puppe?) als Vertreterin des Kindes oder überhaupt des
Gewünschten®). Von einer Patientin habe ich eine parallele Phantasie
') Ein Französisch sprechender Vater, der mir gegenüber für sein Kind
(natürlich) dieses Interesse bestreiten wollte, erwähnte aber doch, daß, wenn
das Kind von Cacao spreche, immer noch ‚,‚lit“ dazufüge; es meint nämlich
caca-au-lit.
°) Freud: Dieses Jahrbuch, Bd. I, S. ı#. J ERaEE h
Bd. I, S. 33 ££f. - ung: Dieses Jahrbuch,
°) Ich verweise auf den obigen etymologischen Zusammenhang.
*) Vgl. dazu Bleuler: Dieses Jahrbuch, Bd. III, S. 467 £.
Wandlungen und Symbole der Libido. 233
aus ihrer Kinderzeit erfahren; auf dem Klosett befand sich in der Mauer
eine Spalte. Sie phantasierte, aus dieser Spalte komme eine Fee heraus
und schenke ihr alles, was sie wünsche. Der ‚‚locus‘ ist bekanntlich
der Ort der Träume, wo manches gewünscht und geschaffen wird,
dem man später diesen Ursprungsort nicht mehr ansehen würde. Eine
hierhergehörige pathologische Phantasie berichtet Lombroso!) von
zwei geisteskranken Künstlern:
„Jeder von ihnen hielt sich für Gott selbst und den Beherrscher
der Welt. Sie schufen oder zeugten die Welt, indem sie dieselbe aus dem
Mastdarm hervorgehen ließen, gleichwie die Eier der Vögel dem Eierkanal
(d. h. Kloake) entspringen. Einer dieser beiden Künstler war mit wahrem
Kunstsinn ausgestattet. Er malte ein Bild, in welchem er sich eben im
Schöpfungsakt befindet; die Welt tritt aus seinem After hervor: das
männliche Geschlechtsglied ist in voller Erektion; er ist nackt, umgeben
von Weibern und allen Abzeichen seiner Macht.‘
Das Exkrementum ist also in einem gewissen Sinne das Gewünschte
und deshalb fällt ihm die entsprechende Wertschätzung zu. Erst als
ich diese Zusammenhänge einsah, wurde mir eine Beobachtung klar,
die ıch vor langen Jahren einmal machte, die ich nie recht verstand,
und die mich deshalb immer beschäftigte. Es war eine gebildete
Patientin, die unter sehr tragischen Umständen von Mann und Kind
sich trennen mußte und in die Irrenanstalt gebracht wurde. Sie zeigte
eine typische Affektlosigkeit und ‚‚Schnoddrigkeit“, die man auch als
affektive Verblödung auffaßt. Da ich damals schon an dieser Verblödung
zweifelte und darin eine sekundäre Einstellung zu erkennen geneigt
war, gab ich mir eine besondere Mühe, zu entdecken, wie ich in diesem
Fall die Existenz der Affektes entdecken könnte. Schließlich nach mehr
als dreistündiger Bemühung gelang es mir, einen Gedankengang auf-
zufinden, der die Patientin plötzlich zu einem vollständig adäquaten
und deshalb erschütternden Affekte brachte. In diesem Moment war
der affektive Rapport mit ihr völlig hergestellt. Das geschah am Vor-
mittag. Als ich abends um die abgemachte Zeit wieder auf die Ab-
teilung ging, um sie aufzusuchen, da hatte sie sich zu meinem Empfang
vom Kopf bis zu den Füßen mit Kot eingeschmiert und rief lachend:
‚„Gefall’ ich dir so®‘“ Das hatte sie nie zuvor getan, es war offenkundig
für mich bestimmt. Der Eindruck, den ich dadurch empfing, war so
persönlich beleidigend, daß ich infolgedessen von der affektiven Ver-
blödung solcher Fälle auf Jahre hinaus überzeugt war. Jetzt verstehen
t) Genie und Irrsinn.
234 ©. G. Jung.
wir diese Handlung als eine infantile Begrüßungszeremonie und Liebes-
erklärung.
Die Entstehung von Chiwantopel, d. h. einer unbewußten Per-
sönlichkeit, aus Popokatepetl, will also heißen, im Sinne der obigen
Erklärung, ‚ich mache, produziere, erfinde ihn selbst“. Es handelt
sich also um eine Art Menschenschöpfung oder Geburt auf analem
Wege. Die ersten Menschen werden aus Kot, Ton oder Lehm gemacht,
Das lateinische lutum, das eigentlich „aufgeweichte Erde“ bedeutet,
hat ebenfalls den übertragenen Sinn von Dreck. Bei Plautus ist es
sogar ein Schimpfwort, etwa: ‚Du Dreck!““. Die Geburt hintenhinaus
erinnert auch an das Motiv des Hintersichwerfens. Ein bekanntes
Beispiel ist das Orakel, das Deukalion und Pyrrha, die einzig Über-
lebenden aus der großen Flut, erhalten hatten: Sie sollten die Gebeine
der großen Mutter hinter sich werfen. Sie warfen sodann die Steine
hinter sich, woraus Menschen entstanden. In ähnlicher Weise
entstanden nach einer Sage die Daktylen aus dem Staub, den die
Nymphe Anchiale hinter sich warf. Einer scherzhaften Bedeutung
des analen Produktes ist noch zu gedenken: das Exkrementum wird
im Volkswitz oft als Denkmal oder Erinnerungszeichen aufgefaßt
(was ın der Form des grumus merdae beim Verbrecher eine besondere
Rolle spielt). Ich erinnere nur an die allbekannten Scherzerzählungen
von dem, der, von einem @eist durch labyrinthische Gänge zu einem
verborgenen Schatz geführt, als letztes Wegzeichen, nachdem er sich
aller Kleidungsstücke entledigt hat, noch ein Exkrementum hinpflanzt.
In einer fernen Vorzeit freilich kam einem derartigen Zeichen eine
ebenso große Bedeutung zu wie der Losung der Tiere als einer wichtigen
Kunde der Anwesenheit oder Zugrichtung. Einfache Steinmale (‚‚Stein-
männchen”) werden wohl die vergänglichere Losung ersetzt haben.
Es ist nun merkwürdig, daß Miller als Parallele zu dem Bewußt-
werden von Ghiwantopel einen andern Fall anführt, wo ein Name sich
ihr plötzlich aufdrängte, nämlich A-ha-ma-ra-ma mit dem Gefühl,
als ob es sich um ebwas Assyrisches handle!). Als mögliche Quelle fiel
Ihr dazu ein: „Asurabama — qui fabriqua des briques cun&iformes?)“,
!) Also auch hier wieder die Beziehung auf das ‚‚Altertümliche“, die in-
fantile Vorzeit. |
2) Dieses Faktum ist mir unbekannt. Es wäre möglich, daß irgendwo ein
sagenhäfter N ame eines Mannes erhalten wäre, der die Keilschrift erfand; (wie
B. selig als Dichter des Gilgameshepos). Es gelang mir aber nicht,
etwas Derartiges aufzufinden. Allerdings hat Aschschurbanaplu oder Asurbanipal
Wandlungen und Symbole der Libido. 239
also jene unvergänglichen, aus Lehm bereiteten Urkunden und
Monumente ältester Geschichte. Hervorzuheben ist, daß die ‚‚briques“
nicht „eundiformes“ sind, so würde es zweideutigerweise heißen:
„keilförmige Ziegel“, was eher im Sinne unserer Vermutung spräche
als im Sinne der Autorin. Es ist schmerzlich, diese Spuren und An-
deutungen nicht weiter verfolgen zu können. Dazu reichen meine
Kenntnisse nicht aus. Wir müssen daher notgedrungenerweise den
Gedankengang an dieser Stelle fallen lassen.
Miller bemerkt, daß neben dem Namen ‚Asurabama“ ihr noch
„Ahazuerus“, oder Ahasverus, eingefallen sei. Dieser Einfall führt
auf eine ganz andere Seite des Problems der unbewußten Persönlichkeit.
Wenn uns die bisherigen Materialien etwas aus der infantilen Menschen-
schöpfungstheorie verrieten, so eröffnet sich durch diesen Einfall
em Ausblick auf den Dynamismus der unbewußten Persönlichkeits-
schaffung. Ahasver ist bekanntlich der ewige Jude. Sein Charakteristikum
ist das endlose und ruhelose Wandern bis zum Weltuntergang.
Die Tatsache, daß der Autorin gerade dieser Name eingefallen ist,
berechtigt uns, dieser Spur zu folgen.
Die Legende des Ahasver, deren erste literarische Spuren dem
XIII. Jahrhundert angehören, scheint abendländischen Ursprungs
zu sein und gehört zu jenen Bildungen, die unverwüstliche Lebens-
kraft besitzen. Die Gestalt des ewigen Juden hat mehr literarische
Bearbeitungen erfahren als die Figur des Faust und diese Bearbeitungen
gehören in der Hauptsache alle dem letzten Jahrhundert an. Hieße
die Gestalt nicht Ahasver, sie wäre doch da unter anderm Namen,
vielleicht als der Comte de St. Germain, der geheimnisvolle Rosen-
kreuzer, dessen Unsterblichkeit versichert wird und dessen augenblick-
licher Aufenthaltsort (d. h. das Land) sogar bekannt sein sollt). Ob-
schon die Nachrichten von Ahasver nicht früher als im XIII. Jahr-
jene wunderbare keilschriftliche Bibliothek hinterlassen, die in Kujundschik
ausgegraben wurde. Vielleicht hat ‚„‚Asurubama“ mit diesem Namen zu tun. In
Betracht kommt ferner der Name von Aholi-bamah, dem wir im ersten Teil
begegnet sind. Das Wort ‚„Ahamarama‘ verrät ebenfalls Beziehungen zu Anah
und Aholibamah, welche eben jene Kainstöchter mit der sündigen Leidenschaft
zu den Gottessöhnen sind. Diese Möglichkeit weist auf Chiwantopel als den
ersehnten Gottessohn hin. (Dachte Byron an die beiden hurerischen Schwestern
Ohola und Oholiba? (Ezech. 23, 4.)
1) Das Volk gibt seinen wandernden Sonnenhelden nicht her. So wurde
auch Cagliostro nachgesagt, er sei einmal aus einer Stadt zu gleicher Zeit aus
allen Stadttoren mit vier weißen Pferden ausgefahren. (Helios!)
936 0. G. Jung.
hundert nachgewiesen werden können, kann die mündliche Tradition |
ja doch bedeutend weiter zurückreichen und es wäre nicht unmöglich,
daß eine Brücke zum Orient existierte. Dort ist dıe Parallelfisur Chidr
oder al Chadir, der von Rückert besungene Chidher, der „Ewig
Junge“. Die Legende ist rein islamitisch. Das sonderbare aber ist,
daß Chidher nicht nur ein Heiliger, sondern in sufischen Kreisen!)
sogar bis zu göttlicher Bedeutung emporsteigt. Bei dem strengen
Monotheismus des Islam ist man geneigt, bei Chidher an eine vor-
islamitische arabische Gottheit zu denken, die von der neuen Religion
zwar offiziell nicht anerkannt, aber aus politischen Gründen toleriert
worden sei. Davon ist aber nichts nachzuweisen. Die ersten Spuren des
Chidher finden sich in den Korankommentatoren Buchäri (gest,
870 p. Chr.) und Tabari (gest. 923 p. Chr.), und zwar im Kommentar
zu einer merkwürdigen Stelle der 18. Sure des Koran. Die 18. Sure
ist betitelt: ‚‚die Höhle“, nämlich nach der Höhle der Siebenschläfer,
die nach der Legende 309 Jahre darin schliefen und so der Verfolsuns
entgingen und in einer neuen Ära erwachten. Ihre Legende wird in der
18. Sure erzählt und daran werden allerhand Betrachtungen geknüpft.
Die wunscherfüllende Idee der Legende ist ganz klar. Der mystische
Stoff dazu ist die unveränderliche Vorlage des Sonnenlaufes: die Sonne
geht zeitweise unter, stirbt aber nicht. Sie verbirgt sich im ‚‚Schoße“
des Meeres oder in einer unterirdischen Höhle?) und wird am Morgen
wieder heil „geboren“. Die Sprache, in welche dieses astronomische
Ereignis sich kleidet, ist von klarer Symbolik: die Sonne kehrt in den
Mutterschoß zurück und wird nach einiger Zeit wieder geboren.
Natürlich ist dieser Vorgang eigentlich eine inzestuöse Handlung, wovon
auch mythologisch noch deutliche Spuren erhalten sind, nicht zum
mindesten in dem Umstande, daß die sterbenden und wiedererstehenden
Götter die Liebhaber der eigenen Mutter sind, respektive sich durch
die eigene Mutter hindurch erzeugt haben. Christos als der fleisch-
gewordene Gott hat sich durch Maria selbst erzeugt; Mithras hat das
gleiche getan. Diese Götter sind unverkennbare Sonnengötter, daher
die Sonne dasselbe auch tut, um sich wieder zu erneuern. Natürlich
ist nicht anzunehmen, daß die Astronomie zuerst kam und dann solche
Göttervorstellungen; der Weg war, wie immer, umgekehrt, und zwar
!) Mystiker. .
”) Auch Agni, das Feuer, verbirgt sich bisweilen in einer Höhle, muß
deshalb wieder geholt respektive durch Zeugung aus der Höhle des weiblichen
Holzes herausgebracht werden. Vgl. Kuhn: Herabk des Feuers
Wandlungen und Symbole der Libido. 237
war es wohl so, daß ein primitiver Wiedergeburtszauber (Taufe,
allerhand abergläubische Gebräuche vom Durchziehen der Kranken
usw.) an den Himmel projiziert wurden. Diese Jünglinge waren also
aus der Höhle (dem Leib der Mutter Erde) wie der Sonnengott zu
einer neuen Zeit geboren und haben so den Tod überstanden. Sie waren
insofern Unsterbliche. Es ist nun interessant zu sehen, wie der Koran
nach längeren ethischen Betrachtungen im Verlauf derselben Sure
zu folgendem Passus gelangt, der für die Entstehung der Chidhermythe
von besonderer Bedeutung ist; ich zitiere darum den Koran wörtlich:
„Moses saste einst zu seinem Diener (Josua, Sohn des Nün): Ich
will nicht aufhören zu wandern, und sollte ich auch 80 Jahre
lang reisen, bis ich den Zusammenfluß der zwei Meere erreicht habe.
Als sie nun diesen Zusammenfluß der zwei Meere erreicht hatten, da vergaßen
sie Ihren Fisch (den sie nämlich zur Zehrung mitgenommen), der seinen
Weg durch einen Kanal ins Meer nahm. Als sie nun an diesem Orte
vorbei waren, da sagte Moses zu seinem Diener: Bringe uns das Mittags-
brod; denn wir fühlen uns von dieser Reise ermüdet. Dieser aber erwiederte:
Sieh nur, was mir geschehen! Als wir dort am Felsen lagerten, da vergaß
ich den Fisch. Nur der Satan kann die Veranlassung sein, daß ich ihn ver-
gessen und mich seiner nicht erinnert habe, und auf eine wunderliche Weise
nahm er seinen Weg ins Meer. Da sagte Moses: Dort ist denn die Stelle,
die wir suchen. Und sie gingen den Weg, den sie gekommen, wieder zurück.
Und sie fanden einen unserer Diener, den wir!) mit unserer
Gnade und Weisheit ausgerüstet hatten. Da sagte Moses zu ihm:
Soll ich dir wohl folgen, damit du mich, zu meiner Leitung, lehrest einen
Teil der Weisheit, die du gelernt hast? Er aber erwiederte: Du wirst bei
mir nicht aushalten können; denn wie solltest du geduldig ausharren bei
Dingen, die du nicht begreifen kannst?“
Moses begleitet nun den geheimnisvollen Diener Gottes, der
allerhand Dinge tut, die Moses nicht begreifen kann, schließlich nimmt
der Unbekannte Abschied von Moses und sagt folgendes zu ihm:
„Die Juden werden dich über den Dhulgarnein fragen?). Antworte:
ı) Wir = Allah.
2) Der ‚„„Zweihörnige“. Gemeint ist nach den Kommentatoren Alexander
der Große, der in der arabischen Sage etwa die Rolle des deutschen Dietrieh von
Bern spielt. Der Zweihörnige bezieht sich auf die Kraft des Sonnenstieres. Auf
Münzbildern findet sich Alexander öfter mit den Hörnern des Jupiter Ammon.
Es handelt sich um Idendifikationen des sagenumwobenen Herrschers mit der
Frühlingssonne im Zeichen des Stieres und des Widders. Es ist unverkennbar,
daß die Menschheit ein stärkstes Bedürfnis hat, das Persönliche und Menschliche
ihrer Helden auszulöschen, um sie schließlich durch eine verdoraoıg der Sonne
gleich, d. h. ganz zum Libidosymbol zu machen. Denken wir mit Schopenhauer,
so werden wir wohl sagen: Libidosymbol. Denken wir aber mit Goethe, so
sagen wir: Sonne; denn wir sind, weil uns die Sonne sieht.
938 C. G. Jung.
Ich will euch eine Geschichte von ihm erzählen. Wir befestigten sein Reich
auf Erden und wir gaben ihm die Mittel, alle seine Wünsche zu erfüllen.
Er ging einst seines Weges, bis er kam an den Ort, wo die Sonne unter-
geht, und es schien ihm, als ginge sie in einem Brunnen mit schwarzem
Schlamm unter. Dort traf er ein Volk... .“
Es folgt eine moralische Betrachtung, darauf fährt die Erzäh-
lung fort:
„Dann verfolgte er seinen Weg weiter, bis er kam an den Ort, wo
die Sonne aufgeht . . .“
Wenn wir nun wissen wollen, wer der unbekannte Diener Gottes
ist, so belehrt uns darüber dieser Passus: er ist der Dhulgarnein,
Alexander, die Sonne, er geht zum Ort des Untergangs und
geht zum Ort des Aufgangs. Der Passus von dem unbekannten
Diener Gottes wird von den Kommentatoren durch eine ganz bestimmte
Legende erklärt. Der Diener ist Chidher, ‚‚der Grünende“, ‚‚der nie
ermüdende Wanderer, der durch Jahrhunderte und Jahrtausende
über die Länder und Meere schweift, der Belehrer und Berater frommer
Menschen, der Weise in göttlichen Dingen — der Unsterbliche‘).
Die Autorität des Tabarı bringt Chidher in Beziehung zum Dhul-
qarnein: Chidher habe im Zuge Alexanders den ‚‚Lebensstrom“ erreicht,
und beide hätten, ohne es zu wissen, daraus getrunken, so daß sie un-
sterblich geworden seien. Ferner wird Chidher von den alten
Kommentatoren mit Elias identifiziert, der auch nicht
gestorben ist, sondern auf feurigem Wagen zum Himmel fuhr.
Elias ist ein Helios?). Es ist zu bemerken, daß auch von Ahasver
vermutet wird, er verdanke seine Existenz einer dunkeln Stelle der
heiligen christlichen Schrift. Diese Stelle findet sich Matth. 16, 13 f.
Zuerst kommt die Szene, wo Christus den Petrus als den Felsen seiner
Kirche einsetzt und ihn zum Statthalter seiner Macht ernennt?), darauf
folgt die Prophezeiung seines Todes und dann kommt die Stelle:
„Wahrlich, ich sage euch, es sind einige unter denen, die hier stehen,
welche den Tod nicht kosten werden, bis sie den Sohn des Menschen kommen
sehen in seinem Reich.“
Hier folgt auch die Szene der Verklärung:
‘) Vollers: Chidher. Archiv für Religionswissenschaft, S. 235 f., Bd. X,
1909, Ich entnehme dieser Arbeit die Ansichten der Korankommentare,
?®) Hier schließt sich die Himmelfahrt des Mithras und des Christos an.
Siehe Erster Teil.
®) Parallele im Mithrasmysterium! Siehe unten.
Wandlungen und Symbole der Libido. 239
„Und ward vor ihnen verwandelt, indem sein Angesicht leuchtete
wie die Sonne, seine Kleider aber wurden weiß wie das Licht. Und siehe,
es erschienen ihnen Moses und Elias, die unterredeten sich mit ihm. Petrus
aber hob an und sagte zu Jesus: Herr, hier ist für uns gut sein; wenn es
dir recht ist, will ich hier drei Zelte aufschlagen, eines für dich, eines für
Elias und eins für Mosest).‘“
Aus diesen Stellen geht hervor, daß Christus auf gleicher Höhe
mit Elias stehe, aber nicht identisch mit ihm set), obschon er vom Volke
für Elias gehalten wird. Die Himmelfahrt setzt Christus aber identisch
mit Elias. Die Weissagung Christi läßt erkennen, daß außer seiner eigenen
Person noch eine oder einige Unsterbliche existieren, die nicht sterben
werden bis zur Parusie. Nach Joh. 21, 21ff. wurde auch der Jünger
Johannes als dieser Unsterbliche angesehen und in der Legende ist
er tatsächlich nicht tot, sondern er schläft bloß in der Erde bis zur
Parusie und atmet, so daß der Staub auf seinem Grabe aufwirbelt?).
Es führen, wie ersichtlich, gangbare Brücken von Christos über Elias
zu Chidher und zu Ahasver. Es heißt in einem Bericht*), daß Dhul-
garnein seinen ‚„‚Freund“ Chidher zur Lebensquelle geführt hätte,
um ihn Unsterblichkeit trinken zu lassen). (Alexander hat auch im
Lebensstrom gebadet und die rituellen Waschungen verrichtet.) Wie
ich oben in der Fußnote erwähnte, ist nach Matth. 17, 11 ff. Johannes
der Täufer der Elias, also identisch zunächst mit Chidher. Nun ist aber
zu bemerken, daß in der arabischen Legende Chidher gern als Begleiter
oder als begleitet auftritt. (Chidher mit Dhulgarnein oder mit Elias,
„‚gleichwie‘“ diese oder identisch mit ihnen®).) Es sind also zwei Ähn-
!) Parallelen dazu sind die Unterredungen Mohammeds mit Elias, dort.
passiert ebenfalls die Geschmacklosigkeit, daß bei dieser Gelegenheit ‚‚Himmels-
speise‘‘ serviert wird. Im Neuen Testament beschränkt sich die Tölpelhaftigkeit.
auf den Vorschlag des Petrus. Dergleichen Züge gehen gewiß auf den Infantil-
charakter solcher Szenen, so gut wie die Riesengestalt des Elias im Koran, ferner:
die Erzählungen der Kommentatoren, daß Elias und Chidher jährlich einmal
in Mekka zusammenkommen, sich unterreden und sich bei dieser Gelegenheit
auch gerade gegenseitig den Kopf rasieren.
2) Hingegen ist nach Matth., 17, 11ff. Johannes der Täufer als Elias:
aufzufassen.
®) Vgl. die Kyffhäusersage.
*) Vollers |]. c.
5) Ein anderer Bericht sagt, daß Alexander mit seinem ‚Minister‘ Chidher-
auf dem Adamsberg in Indien gewesen sei.
6) Diese mythologischen Gleichungen folgen ganz den Regeln des Traumes,
wo der Träumer in einem Traume in mehrere analoge Gestalten zerlegt sein kann..
240 ©. G. Jung.
liche, die aber doch unterschieden sind. Die analoge Situation im
Christlichen finden wir in der Jordanszene, wo Johannes den Christum
„zur Lebensquelle führt“. Christus ist dabei zunächst der Unter-
geordnete, Johannes der Übergeordnete, ähnlich wie Dhulgarnein
und Chidher oder Chidher und Moses, auch Elias. Namentlich letzteres
Verhältnis ist so, daß Vollers!) Chidher und Elias einerseits mit Gil-
gamesh und seinem sterblichen Bruder Eabani, anderseits mit den
Dioskuren, von’denen auch der eine sterblich und der andere unsterblich
ist, vergleicht. Diese Beziehung findet sich auch bei Christus und
Johannes dem Täufer?) einerseits und Christus und Petrus anderseits.
Letztere Parallele findet ihre Erklärung allerdings erst durch die Ver-
gleichung mit dem Mithrasmysterium, wo uns wenigstens durch Monu-
mente der esoterische Inhalt verraten wird. Auf dem mithrischen
Marmorrelief von Klagenfurt?) ist dargestellt, wie Mithras den vor
iım Knieenden oder von unten auf ihn zuschwebenden Helios mit der
Strahlenkrone krönt oder ihn heraufführt (?). Auf einem mithrischen
Monument von Österburken ist Mithras dargestellt, wie er mit der rechten
Hand die mystische Rindsschulter über den vor ihm geneigt stehen-
den Helios hält, die linke Hand ruht am Schwertgriff. Eine Krone
liegt zwischen beiden am Boden. Cumont?) bemerkt zu dieser Szene,
daß sie wahrscheinlich den göttlichen Prototyp der Zeremonie der Ein-
weihung in den Grad des Miles darstelle, wobei dem Mysten ein Schwert
und eine Krone verliehen wurden. Helios wird also zum Miles des
Mithras ernannt. Überhaupt scheint Mithras sich in einer gönnerhaften
Rolle gegenüber dem Helios zu bewegen, was an die Kühnheit des
Herakles gegenüber Helios erinnert: auf seinem Zuge gegen Geryon
brennt Helios zu heiß, voll Zorn bedroht ihn Herakles mit seinen nie
fehlenden Pfeilen. Dadurch wird Helios zum N achgeben gezwungen und
leiht dem Heros sein Sonnenschiff, mit dem er übers Meer zu fahren pflegt.
So gelangt Herakles nach Erythia, zu den Rinderherden des Geryon?).
ls
?) „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“
®) Cumont: Text. et Mon., S. 172 ft.
*) 10,8: 478:
°) Die Farallele zwischen Herakles und Mithras ist noch weiter zu führen.
Wie Herakles ist Mithras ein trefflicher Bogenschütze. Nach gewissen Monu-
menten zu urteilen, scheint nicht nur die J ugend des Herakles von einer Schlange
bedroht zu sein, sondern auch die des Mithras. Der Sinn des ddAog des Herakles
(das Werk) deckt sich mit dem mithrischen Mysterium der Stierüberwältigung
und Opferung. (Siehe Cumont: Myst. des Mithras, II, Aufl., 1911.)
Wandlungen und Symbole der Libido. 241
Auf dem Klagenfurter Monument ist Mithras ferner dargestellt,
wie er dem Helios die Hand drückt, wie zum Abschied oder zu einer
Bestätigung. In einer weiteren Szene besteigt nun Mithras den Wagen
des Helios zur Himmelfahrt respektive zur ‚‚Meerfahrt‘!). Cumont ist
der Ansicht, daß Mithras dem Helios (oder Sol), eine Art feierlicher
Belehnung gibt und seine göttliche Macht weiht, indem er ihn eigen-
händig krönt?). Dieses Verhältnis entspricht dem von Christus zu Petrus.
Petrus hat durch sein Attribut, den Hahn, den Charakter eines Sonnen-
gottes. Nach der Himmelfahrt (Meerfahrt) Christi ist er der sichtbare
Statthalter der Gottheit, er erleidet daher denselben Tod (Kreuzigung)
wie Christus, wird zum römischen Hauptgott (zum Sol invietus), zu
der im papa sich verkörpernden ecelesia militans et triumphans; in
der Malchuszene schon erweist er sich als der miles Christi, dem das
Schwert verliehen, und als der Felsen, auf den die Kirche gegründet
ist, und als dem, der die Macht besitzt, zu binden und zu lösen, ist ihm
auch die Krone?) gegeben. So ist er als Sol der sichtbare Gott, der Papst
aber, als Erbe des römischen Cäsar, der ‚‚solis invicti comes“. Die
abtretende Sonne ernennt einen Nachfolger, dem sie die Sonnenkraft
übergibt*). Dhulgarnein gibt Chidher das ewige Leben, Chidher teilt
dem Moses die Weisheit mit?); es existiert sogar ein Bericht, wo der
vergeßliche Diener Josua ahnungslos aus der Lebensquelle trinkt,
dadurch unsterblich wird und nun von Chidher und Moses (zur Strafe)
in ein Schiff gesetzt und aufs Meer hinausgesendet wird. — Wieder
ein Fragment aus einem Sonnenmythus, das Motiv der ‚Meerfahrt‘®).
Das uralte Symbol, das jenen Teil des Zodiacus bezeichnet,
in dem die Sonne mit der Wintersonnwende wieder den Jahreskreislauf
antrıitt, ist der Ziegenfisch, der alyox&ows; die Sonne steigt wie eine
Ziege auf die höchsten Berge und geht später ins Wasser wie ein Fisch.
Der Fisch ist das Symbol des Kindes’), denn das Kind lebt vor seiner
!\ Diese drei Szenen sind auf dem Klagenfurter Monument alle in einer
eihenfolge dargestellt, so daß man deren dramatische Zusammengehörigkeit
vermuten darf. Abbildung in Cumont: D. Myst. des Mithras,.'
2) Cumont: Siehe s. Mithras. Roscher: Lex. Sp. 3048, 42 ff.
®) Sogar die dreifache Krone.
4) Die christliche Reihenfolge ist: Johannes — Christus, Petrus — Papst,
5) Die Unsterblichkeit des Moses ist durch die Parallelsetzung mit Elias
bei der Verklärung erwiesen.
6) Vgl. Frobenius: Das Zeitalter des Sonnengottes.
7) Daher der ‚‚Sohn‘‘ Gottes das Fischsymbol hat, zugleich ist das
kommende Weltzeitalter das der Fische.
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. IV. 16
949, C. G. Jung.
Geburt im Wasser, wie ein Fisch; und die Sonne wird, indem sie ins
Meer taucht, Kind und Fisch zugleich. Der Fisch ist aber auch ein
phallisches Symbolt), ebenso ein Symbol für das Weib?), kurz gesagt:
der Fisch ist ein Libidosymbol, und zwar, wie es scheint, vorwiegend
für die Wiedererneuerung der Libido.
Die Reise des Moses mit seinem Diener Josua ist eine Lebens-
reise (80 Jahre). Sie werden alt und verlieren die Lebenskraft (Libido),
d.h. den Fisch, ‚der auf wunderliche Weise seinen Weg ins Meer nimmt“;
d. h. die Sonne geht unter. Wie die beiden den Verlust bemerken, da
finden sie an jener Stelle, wo sich die Lebensquelle befindet (wo
der tote Fisch wiederbelebt wurde und ins Wasser sprang), den
Chidher, in seinen Mantel vermummt?), auf der Erde sitzen, nach
anderer Version auf einer Insel im Meere oder ‚‚am feuchtesten
Orte der Erde“; d. h. eben geboren aus der mütterlichen
Wassertiefe. Wo der Fisch verschwand, wird Chidher, ‚‚der Grünende“
geboren, als ein ‚„Sohn der Wassertiefe‘, das Haupt verhüllt, ein Kabır,
ein Verkünder göttlicher Weisheit, der alte babylonische Oannes - Ea,
der in Fischgestalt dargestellt wurde und täglich als Fisch aus dem
Meere kam, um dem Volk die Weisheit zu lehren‘).
Seın Name wird mit Johannes in Zusammenhang gebracht.
Durch den Aufgang der wiedererneuerten Sonne wird das, was Wasser-
tier, Fisch war, in der Dunkelheit lebte, von allen Schrecken der Nacht
und des Todes umgeben’), zum leuchtenden, feurigen Tagesgestin.
So gewinnen die Worte des Täufers Johannes besonderen $inn?):
') Riklin: Wunscherfüllung und Symbolik.
®) Inman: Ance. pag. and mod. Christ. Symb.
°) Amnionhülle?
*) Der etrurische Tages, der „frischausgeackerte Knabe“, der aus der
eben gezogenen Ackerfurche entsteht, ist auch ein Weisheitslehrer. In der Lita-
olanemythe der Basutos (Frobenius 1 c., 8. 105) wird geschildert, wie ein
Ungeheuer alle Menschen verschlungen hat, und nur ein Weib übrig blieb, das
in einem Stalle (statt Höhle, vgl. unten die Etymologie dieses Mythos) mit
einem Sohn, dem Helden, niederkam. Bis sie ein Lager aus Stroh für den
Neugeborenen hergerichtet hatte, war er bereits aufgewachsen und sprach „Worte
der Weisheit“. Das schnelle Aufwachsen des Helden, ein häufig wiederkehrendes
Motiv, scheint darzutun, daß die Geburt und anscheinende Kindheit des Helden
darum so sonderbar sind, weil seine Geburt eigentlich seine Wiedergeburt be-
deutet, daher er sich nachher so rasch an seine Heldenrolle gewöhnt. Vgl. unten.
°) Kampf des R& mit der Nachtschlange.
6) Matth. 3, 11.
Wandlungen und Symbole der Libido. 243
„Ich taufe euch mit Wasser zur Buße, der aber nach mir kommt, ist
stärker denn ich, der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer
taufen.‘
Mit Vollers dürfen wir auch Chidher und Elias (Moses und
seinen Diener Josua) mit Gilgamesh und seinem Bruder-Diener Eabani
in Vergleich setzen. Gilgamesh durchwandert die Welt, von Angst und
Sehnsucht getrieben, die Unsterblichkeit zu finden. Sein Weg führt
ihn übers Meer zum weisen Utnapishtim (Noah), der das Mittel kannte,
um über die Wasser des Todes zu kommen. Dort hat Gilgamesh nach
der zauberischen Pflanze auf den Grund des Meeres zu tauchen, die
ihn wieder ins Land der Menschen zurückführen soll. Wie er wieder
in die Heimat gekommen, stiehlt ihm eine Schlange das Zauber-
kraut (der Fisch schlüpft wieder ins Meer). Auf der Rückkehr vom
Lande der Seligen begleitet ihn aber ein unsterblicher Schiffer, der,
durch einen Fluch des Utnapishtim verbannt, nicht mehr ins
Land der Seligen zurückkehren darf. Durch den Verlust des zauberischen
Krautes hat Gilgamesh’s Reise den Zweck verloren, er ist dafür von
einem Unsterblichen begleitet, dessen Schicksal wir allerdings aus
den Fragmenten des Epos nicht mehr erfahren können. Dieser ver-
bannte Unsterbliche ist die Vorlage zu Ahasver, wie Jensen!) treffend
bemerkt.
Wir treffen auch hier auf das Motiv der Dioskuren, sterblich und
unsterblich, untergehende und aufgehende Sonne. Dieses Motiv
wird auch als aus dem Heros heraus projiziert dargestellt:
Das Sacrifieium mithriacum (das Stieropfer) ist in seiner kul-
tischen Darstellung sehr oft flankiert durch die beiden Dadophoren,
Cautes und Cautopates, der eine mit aufrechter und der andere mit
gesenkter Fackel. Sie stellen eine Art Brüderpaar dar, welches seinen
Charakter durch die Symbolik der Fackelstellung verrät. Cumont
bringt sie nicht vergebens mit den sepulkralen Eroten in Verbindung,
die als Genien mit der umgekehrten Fackel traditionelle Bedeutung
haben. Der eine wäre also der Tod, der andere das Leben. Ich kann
nicht umhin, vom Sacrifictum mithriacum (wo das Stieropfer in der
Mitte von beiden Seiten von den Dadophoren flankiert ist) auf das
christliche Lammes(Widder)opfer hinzuweisen. Der Kruzifixus ist
auch traditionell flankiert durch die beiden Schächer, wovon der eine
aufsteigend zum Paradiese ist, der andere herunterfahrend zur
!) Das Gilgameshepos in der Weltliteratur, Bd. I, S. 50.
16*
244 0.G.J ung.
Höllet). Der Gedanke des Sterblichen und des Unsterblichen scheint
also auch in den christlichen Kultus übergegangen zu sein.
Semitische Götter werden öfter als von 2 Paredroi flankiert
dargestellt, z. B. der Baal von Edessa, begleitet von Aziz und Monimos
(Baal als Sonne begleitet auf ihrem Laufe durch Mars und Merkur,
wie die astronomische Deutung lautet). Nach chaldäischer Anschauung
sind die Götter in Triaden gruppiert. In diesen Anschauungskreis
gehört auch die Trinität, die Idee des dreieinigen Gottes, als welcher
auch Christos in seinem Einssein mit dem Vater und dem Heiligen Geiste
angesehen werden muß. So gehören die beiden Schächer auch innerlich
zu Christus. Die beiden Dadophoren sind, wie Cumont nachweist,
nichts als Abspaltungen?) aus der Hauptfigur des Mithras, dem ein
geheimer triadischer Charakter zukommt. Nach einer Nachricht bei
Dionysius Areopagita feierten die Magier ein Fest ‚‚to® zoıAaoiov
Midoov“?). Eine ähnliche auf Trinität sich beziehende Bemerkung
macht Plutarch von Ormuzd: ‚‚zois E&avröv adEnoas Antornoe oü
hAtov'*). Die Dreieinigkeit als drei verschiedene Zustände des Einen ist
auch ein christlicher Gedanke. In allererster Linie ist darin ein Sonnen-
mythus zu suchen. Eine Bemerkung bei Macrobius 1, 18 kommt
dieser Auffassung zu Hilfe:
Hae autem aetatum diversitates ad solem referuntur, ut parvulus
videatur hiemali solstitio, qualem Aegyptii proferunt ex adyto die certa,...
aequinoctio vernali figura juvenis ornatur. Postea statuitur aetas ejus
‘) Der Unterschied zum Mithrasopfer scheint ungemein bezeichnend zu
sein. Die Dadophoren sind harmlose Lichtgötter ohne Anteilnahme am Opfer.
Im Christusopfer fehlt das Tier. Dafür sind es zwei Verbrecher, die den gleichen
Tod erleiden. Die Szene ist ungeheuer viel dramatischer. Die innere Beziehung
der Dadophoren zu Mithras, auf die ich unten zu sprechen komme, läßt das
gleiche auch für Christus und die Verbrecher vermuten. Die Szene mit Barabbas
verrät, daß Christos der abtretende Jahresgott ist, der von einem Verbrecher
dargestellt wurde, während man den des kommenden Jahres frei ließ.
.) Z. B. zeigt ein Monument folgende Widmung: Dfeo) I(nvicto) M(ithrae)
Cautoyati. Man findet bald Deo Mithrae Caute oder Deo Mithrae Cautopati,
in ähnlicher Abwechslung wie Deo Invicto Mithrae — oder bloß — Deo Invieto —
oder gar nur — Invicto —. Es kommt auch vor, daß die Dadophoren mit Messer
und Bogen, den Attributen des Mithras, ausgerüstet sind. Es ist daraus zu
schließen, daß die drei Figuren quasi drei verschiedene Zustände einer einzigen
Person repräsentieren. Vgl. Cumont: Text. et Mon., 8. 208 £.
®) Cumont: Text. et Mon., 8. 208.
*) Zitiert bei Cumont: Text, et Mon., S. 209.
Wandlungen und Symbole der Libido. | 245
plenissima effigie barbae solstitio aestivo ........ exunde per diminu-
tiones veluti senescenti quarta forma deus figuraturt).
Wie Cumont berichtet?), tragen Cautes und Cautopates ge-
legentlich der eine einen Stierkopf, der andere einen Skorpion in
Händen?). Taurus und Skorpio sind Äquinoktialzeichen, was klar darauf
hinweist, daß die Opferszene sich zunächst auf den Sonnenlauf be-
zieht: die aufsteigende, die in der Sommerhöhe sich selbst opfernde
und die untergehende Sonne. In der Opferszene, dem Sonnensymbol,
war der Aufgang und der Untergang nicht leicht zu veranschaulichen,
daher dieser Gedanke aus dem Opferbild heraus verlegt wurde.
Wir haben oben angedeutet, daß die Dioskuren einen ähnlichen
Gedanken darstellen, allerdings in einer etwas andern Form: Die eine
Sonne ist immer sterblich, die andere unsterblich. Da diese ganze
Sonnenmythologie nur an den Himmel projizierte Psychologie ist,
so lautet wohl der zugrunde liegende Satz: So wie der Mensch aus einem
Sterblichen und einem Unsterblichen besteht, ist auch die Sonne ein
Brüderpaar?), wovon der eine Bruder sterblich, der andere unsterblich
ist. Dieser Gedanke liegt der Theologie überhaupt zugrunde: der Mensch
ist zwar sterblich, aber es sind doch welche, die unsterblich sind (oder
es ist In uns etwas, das unsterblich ist). So sind die Götter oder ein
Chidher oder ein Comte de St. Germain unser Unsterbliches, das
irgendwo, unfaßbar, unter uns weilt. Der Sonnenvergleich belehrt uns
irmmer wieder, daß die Götter Libido sind; sie ist unser Unsterbliches,
indem sie jenes Band darstellt, durch welches wir uns als nie erlöschend,
in der Rasse fühlen?). Sie ist Leben vom Leben der Menschheit. Ihre
1) Zitiert bei Cumont: |. c.
2) Text. et Mon., S. 210.
3) Taurus und Scorpio sind die Äquinoktialzeichen für den Zeitraum von
4300—2150 a. Chr. n. Diese längst überholten Zeichen wurden also konservativ
bis in die nachchristliche Zeit noch aufbewahrt.
4) Unter Umständen ist es auch Sonne und Mond.
5) Um die individuelle und die Allseele, den persönlichen und den über-
persönlichen Ätman zu charakterisieren, gebraucht ein Vers des Shvetäshvatara-
Upanishad (Deussen) folgendes Gleichnis:
„Zwei schön beflügelte verbundne Freunde
Umarmen einen und denselben Baum;
Einer von ihnen speist die süße Beere,
Der andre schaut, nicht essend, nur herab.
246 0. G. Jung.
aus den Tiefen des Unbewußten emporströmenden Quellen kommen,
wie unser Leben überhaupt, aus dem Stamme der ganzen Menschheit,
indem wir ja nur ein von der Mutter abgebrochener und verpflanzter
Zweig sind.
Da das ‚‚Göttliche“ in uns die Libido ist!), so dürfen wir uns
nicht wundern, wenn wir in unserer Theologie urtümliche Bilder seit
alten Zeiten mitgenommen haben, welche dem Gotte die dreifache
Gestalt geben. Wir haben diesen zoımAaoıov Veöv aus derphallischen
Symbolik übernommen, deren Ursprünglichkeit wohl unbestritten
sein mag?). Das männliche Genitale ist die Grundlage dieser Dreiheit.
Es ist eine anatomische Tatsache, daß der eine Testikel meist etwas
höher steht als der andere, und es ist ferner ein uralter, aber stets ncch
lebendiger Aberglaube, daß der eine Testikel Knaben und der andre
Mädchen zeuge®). An diese Auffassung scheint eine spätbabylonische
Gemme aus der Sammlung Lajards‘) anzuklingen: In der Mitte des
Bildes steht ein androgyner Gott (männliches und weibliches Gesicht).
Auf der rechten, männlichen Seite befindet sich eine Schlange mit
einem Sonnenhalo um den Kopf, auf der linken, weiblichen Seite be-
Zu solehem Baum der Geist, herabgesunken,
In seiner Ohnmacht grämt sich, wahnbefangen;
Doch wenn er ehrt und schaut des andern Allmacht
Und Majestät, dann weicht von ihm sein Kummer. —
Aus dem die Hymnen, Opferwerk, Gelübde,
Vergangnes, Künftiges, Vedalehren stammen,
Der hat als Zaubrer diese Welt geschaffen,
In der der andre ist verstrickt durch Blendwerk.
*) Unter den den Menschen zusammensetzenden Elementen wird in der
Mithrasliturgie besonders das Feuer als das Göttliche hervorgehoben und be-
zeichnet als rö eig &um» xodoıw VEeoöwenTov Dietrich, 1. c., S. 58.
?) Es genügt, auf das liebevolle Interesse hinzuweisen, das der Mensch
und sogar der Gott des Alten Testamentes für die Beschaffenheit des Penis haben,
und wie viel dort davon abhängt.
®) Die Testikel gelten gern für Zwillinge. Daher heißen vulgär die Hoden
es Siamois. (Anthropophyteia VII, S. 20. Zitiert bei Stekel: Sprache des
Traumes, S. 169.)
*) Recherches sur le culte ete. de Venus, Paris 1837. Zitiert bei Inman:
Ancient pagan and modern Christian Symbolism. New-York, 8. 4.
°) Das androgyne Element ist in den Gesichtern von Adonis, Christus,
Dionysus und Mithras nicht zu verkennen. Anspielung auf die Bisexualität der
Libido. Das glattrasierte Gesicht und die Weiberkleider der katholischen Priester
enthalten einen sehr alten, femininen Einschlag aus dem Attis-Kybele-Kult.
Wandlungen und Symbole der Libido. 247
findet sich ebenfalls eine Schlange, mit dem Mond über dem Kopfe.
Über dem Kopfe des Gottes sind drei Sterne. Dieses Ensemble dürfte
die Trinität!) der Darstellung sichern. Die Sonnenschlange rechts ist
männlich, die Schlange links (durch den Mond) weiblich. Dieses Bild
besitzt nun ein symbolisches Sexualsuffix, das die Sexualbedeutung
des Ganzen aufdringlich macht; auf der männlichen Seite befindet
sich eine Raute, ein beliebtes Symbol des weiblichen Genitales, auf
der weiblichen Seite befindet sich ein Rad ohne Felgen. Ein Rad weist
immer auf die Sonne, die Speichen sind aber am Ende kolbig verdickt,
was auf phallische Symbolik hinweist; es scheint ein phallisches Rad
zu sein, wie es der Antike nicht unbekannt war. Es gibt obszöne Gemmen,
wo Amor ein Rad aus lauter Phalli dreht?). Was die phallische Be-
deutung der Sonne betrifft. so weist hier nicht nur die Schlange darauf
hin; ich zitiere aus der Fülle der Belege bloß einen besonders auf-
dringlichen Fall: In der Antikensammlung von Verona habe ich eine
spätrömische mystische Inschrift gefunden, in der sich folgende Dar-
stellung findet):
Diese Symbolik liest sich sehr einfach: Sonne-Phallus, Mond-
Vagina (Uterus). Bestätigt wird diese Deutung durch ein anderes
Monument derselben Sammlung. Dort findet sich die gleiche Dar-
stellung, nur ist das Gefäß?) ersetzt durch die Gestalt eines Weibes.
!) Stekel (Sprache des Traumes) hat vielfach die Trias als phallisches
Symbol angemerkt, z. B. S. 27.
2) Sonnenstrahlen = Phalli.
®) Die Abbildung stammt nicht von einer Photographie, sondern bloß von
einer Bleistiftskizze des Verfassers.
*) Ineiner Bakairimythe kommt ein Weib vor, das aus einem Mais mörser
entstanden ist. In einer Zulumythe heißt es: Eine Frau soll einen Blutstropfen
in einem Topfe auffangen, dann den Topf verschließen, für 8 Monate beiseite
stellen und im 9. wieder öffnen, Sie folgt dem Rate, öffnet im 9. Monat den Topf
und findet ein Kind darin. (Frobenius: Das Zeitalter des Sonnengottes, I
S. 237.)
248 C. G. Jung.
In ähnlicher Weise sind wohl auch die Münzdarstellungen auf-
zufassen, wo sich in der Mitte eine Palme von einer Schlange um-
wunden findet, flankiert von 2 Steinen (Testikel), oder in der Mitte
ein Stein umwunden von einer Schlange, rechts eine Palme und links
eine Muschel (= weibliches Genitalet). Bei Lajard (Recherch. s. 1.
culte de Venus) findet sich eine Münze von Perga, wo die Artemis
von Perga durch einen konischen (phallischen) Stein dargestellt ist,
flankiert von einem Mann (angeblich Men) und einer weiblichen Figur
(angeblich Artemis). Auf einem attischen Basrelief findet sich Men
(der sogenannte Lunus) mit einem sogenannten Speer (einem Scepter
von phallischer Grundbedeutung) flankiert von Pan mit einer Keule
(Phallus) und einer weiblichen Figur’). Die traditionelle Darstellung
des Kruzifixus flankiert von Johannes und Maria schließt sich eng an
diesen Vorstellungskreis an, ebensowohl wie der Kruzifixus mit den
Schächern. Wir sehen daraus, wie neben der Sonne immer wieder der
nock viel ursprünglichere Vergleich der Libido mit dem Phallischen
auftaucht. Eine besondere Spur verdient hier noch aufgezeigt zu werden.
Der den Mithras vertretende Dadophor Cautopates wird auch mit
Hahn?) und Pinienapfel dargestellt. Diese aber sind die Attribute des
phrygischen Gottes Men, dessen Kult eine große Verbreitung hatte.
Men wurde mit dem Pileus®), Pinienzapfen, und Hahn dargestellt,
ebenfalls in der Gestalt eines Knaben, wie auch die Dadophoren
knabenhafte Figuren sind. (Diese letztere Eigenschaft nähert sie mit
Men den Kabiren an.) Nun hat Men ganz nahe Beziehungen zu Attis,
dem Sohn und Geliebten der Kybele. In der römischen Kaiserzeit
wurden Men und Attis ganz verschmolzen. Wie oben schon angemerkt
wurde, trägt auch Attis den Pileus, wie Men, Mithras und die Dado-
phoren. Als Sohn und Geliebter seiner Mutter führt er uns wieder
zur Quelle dieser religionsbildenden Libido, nämlich zum Mutterinzest.
Der Inzest führt logischerweise zur sakralen Kastration im Attis-
Kybele-Kultus, indem auch der Heros sich, von seiner Mutter rasend
gemacht, selbst verstümmelt5). Ich muß es mir versagen, an dieser
!) Inman: |. ce., S. 10, Pl. IX.
; EN ee "% en siehe s. Men.
wo 1 n oo ps
9 ER me 2 ee phallisches Symbol häufig.
) Die Kastration im Dienste der Mutter i
Weise Exod. 4, 25: „Da nahm Zipporah einen a a ask ea
10 ERBENE und rührte ihm seine Füße an und sprach: ‚„Du bist mir ein Blut-
rautigam.““ Diese Stelle zeigt, was die Beschneidung bedeutet.
Wandlungen und Symbole der Libido. 249
Stelle tiefer zu gehen, da ich das Inzestproblem erst am Schlusse be-
sprechen möchte. Der Hinweis genüge, daß die Analyse dieser Tibido-
symbolık von verschiedenen Seiten her immer wieder zum Mutter-
inzest führt. Wir dürfen daher vermuten, die Sehnsucht der zum Gott
erhobenen (ins Unbewußte verdrängten) Libido ist eine ursprünglich sog.
inzestuöse, die der Mutter gilt. Durch den Verzicht auf die Männlichkeit
der ersten Geliebten gegenüber tritt das feminine Element mächtig
hervor, daher jener stark androgyne Charakter der sterbenden und
auferstehenden Gottheilande. Daß diese Heroen fast immer Wanderer
sind!), ist ein psychologisch klarer Symbolismus: Das Wandern ist ein
Bild der Sehnsucht?), des nie rastenden Verlangens, das nirgends sein
Objekt findet, denn es sucht die verlorene Mutter, ohne es zu wissen.
Über das Wandern ist der Sonnenvergleich auch unter diesem Aspekt
leicht verständlich, daher die Helden auch immer der wandernden
Sonne ähnlich sind, woraus man sich zum Schlusse berechtigt glaubt,
der Mythus des Helden sei ein Sonnenmythus. Der Mythus vom Helden
aber ist, wie uns scheinen will, der Mythus unseres eigenen leidenden
Unbewußten, das jene ungestillte und selten stillbare Sehnsucht nach
allen tiefsten Quellen seines eignen Seins, nach dem Leibe der Mutter,
und in ihm nach der Gemeinschaft mit dem unendlichen Leben in den
unzähligen Formen des Daseins hat. Ich muß hier das Wort dem Meister
lassen, der die tiefsten Wurzeln faustischer Sehnsucht geahnt hat:
Ungern entdeck’ ich höheres Geheimnis.
Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit,
Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.
Die Mütter sind es!
_——— Göttinnen, ungekannt
Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen,
Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen.
Wohin der Weg?
Kein Weg! Ins Unbetretene,
Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene,
Nieht zu Erbittende. Bist du bereit?
Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,
Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
!) Gilgamesh, Dionysos, Herakles, Christus, Mithras usw.
?) Vgl. dazu Graf: R. Wagner im Fliegenden Holländer. Schriften zur
angewandten Seelenkunde.
250
C. G. Jung.
Hast du Begriff von Öd und Einsamkeit?
Und hättest du den Ozean durchschwommen
Das Grenzenlose dort geschaut,
So sähst du dort doch Well’ auf Welle kommen,
Selbst wenn es dir vorm Untergange graut.
Du sähst doch etwas. Sähst wohl in der Grüne
Gestillter Meere streichende Delphine;
Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne;
Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,
Den Schritt nicht hören, den du tust,
Nichts Festes finden, wo du ruhst.
—i mm mi pm ji jmm wii wi jmiii ji ji sim ji ji ji se sim
Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern,
Folg ihm hinab, er führt dich zu den Müttern.
Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige!
S’ist einerlei. Entfliehe dem Entstandnen,
In der Gebilde losgebundne Räume;
Ergötze dich am längst nicht mehr Vorhandnen;
Wie Wolkenzüge schlingt sich das Getreibe,
Den Schlüssel schwinge, halte sie vom Leibe.
Ein glühnder Dreifuß!) tut dir endlich kund,
Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund.
Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn;
Die einen sitzen, andre stehn und gehn;
Wie’s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.
Umschwebt von Bildern aller Kreatur;
Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur.
Da faß ein Herz, denn die Gefahr ist groß,
Und gehe grad auf jenen Dreifuß los,
Berühr ihn mit dem Schlüssel!
V
Symbole der Mutter und der Wiedergeburt.
Die der Schöpfung des Heros folgende Vision beschreibt Miller
als ‚ein Gewimmel von Personen‘. Dieses Bild ist uns aus der Traum-
Altar
') Ich habe oben, gelegentlich der Zosimosvision, angedeutet, daß der
den Uterus bedeute, entsprechend dem Taufbecken.
Wandlungen und Symbole der Libido. 251
deutung zunächst als das Symbol des Geheimnissest) bekannt. Es
scheint, daß die Rücksicht auf Darstellbarkeit (Freud) diese Symbol-
wahl bedingt: Der Träger des Geheimnisses der Menge der Nicht-
wissenden gegenübergestellt. Der Besitz an Geheimnissen trennt
von der Gemeinschaft der übrigen Menschen. Da für den Libido-
haushalt der möglichst reibungslose und vollständige Rapport
mit der Umgebung von großer Bedeutung ist, so pflegt der Besitz an
subjektiv wichtigen Geheimnissen sehr störend zu wirken.
Man kann sagen, daß sich die ganze Lebenskunst auf das eine Problem
einschränkt, wie man Libido auf möglichst unschädliche Weise los wird.
Es ist daher für den Neurotiker in der Behandlung eine ganz besondere
Wohltat, wenn er sich endlich seiner verschiedenen Geheimnisse ent-
ledigen kann. Das Symbol der Volksmenge, vorzugsweise der strömenden
und sich bewegenden Menge ist, wie ich öfter gesehen habe, auch für
die große Bewegung des Unbewußten gesetzt, gern bei Personen, die
nach außen stilles Wasser sind.
Die Vision des Gewimmels entwickelt sich weiter: es treten
Pferde auf, eine Schlacht wird geschlagen.
Ich möchte die Bedeutung dieser Visionen mit Silberer zunächst
als zur „funktionalen Kategorie‘ gehörig erkennen, indem der Grund-
gedanke des durcheinanderströmenden Gewimmels nichts als ein Symbol
für die nunmehr anstürmende Gedankenmasse ist, ebenso die Schlacht
und eventuell die Pferde, welche die Bewegung veranschaulichen.
Die tiefere Bedeutung des Auftretens von Pferden wird sich erst im
weiteren Verlauf unserer Behandlung der Muttersymbole ergeben.
Bestimmteren und auch inhaltlich bedeutenderen Charakter hat die
folgende Vision: Miß Miller sieht eine ‚‚Cite de r&ve“, eine Stadt der
Träume. Das Bild ist so, wie sie es kurz zuvor auf dem Einband eines
‚Magazines‘ gesehen hatte. Leider erfahren wir nichts weiteres darüber.
Man darf sich wohl ruhig unter dieser ‚‚Cit& de r&ve‘ einen erfüllten
Wunschtraum vorstellen, nämlich etwas recht Schönes und Ersehntes,
eine Art von himmlischem Jerusalem, wie es sich der Apokalyptiker
geträumt hat.
Die Stadt ist ein mütterliches Symbol, ein Weib, das die
Bewohner wie Kinder in sich hegt. Es ist daher verständlich, daß die
beiden Muttergöttinnen, Rhea und Kybele, beide die Mauerkrone
tragen. Das Alte Testament behandelt die Städte Jerusalem, Babel
usw. wie Weiber. Jesaja (47, 1ff.) ruft aus:
!) Freud: Die Traumdeutung.
252 0. @. Jung.
‚‚Herunter Jungfrau, du Tochter Babel, setze dich in den Staub, setze
dich auf die Erde; denn die Tochter der Chaldäer hat keinen Stuhl
mehr. Man wird dich nicht mehr nennen: du Zarte und Üppige.
Nimm die Mühle und mahle Mehl; flicht deine Zöpfe aus, hebe die Schleppe,
entblöße den Schenkel, wate durchs Wasser,
Daß deine Blöße aufgedeckt und deine Schande gesehen werde. —
Setze dich in die Stille, gehe in die Finsternis, du Tochter der Chaldäer;
denn du sollst nicht mehr heißen: Frau über Königreiche.“
Jeremia (50, 12) sagt von Babel:
„Eure Mutter steht mit großen Schanden, und die euch geboren hat,
ist zum Spott worden.‘
Feste, nie bezwungene Städte sind Jungfrauen; Kolonien sind
Söhne und Töchter einer Mutter. Städte sind auch Huren: Jesaja
sagt von Tyros (23, 16):
„Nimm die Harfe, gehe in der Stadt um, du vergessene Hure“
und
„Wie geht das zu, daß die fromme Stadt zur Hure worden ist?“
Einer ähnlichen Symbolik begegnen wir im Mythus des Ogyges,
dem. vorzeitlichen König, der im ägyptischen Theben herrschte und
dessen Frau entsprechenderweise Thebe hieß. Das von Kadmus ge-
gründete böotische Theben erhielt daher den Beinamen: „ogygisch”.
Diesen Beinamen führt auch die große Flut, die die ‚„ogygische“
heißt, weil sie unter Ogyges kam. Dieses Zusammentreffen wird sich
unten als wohl kaum zufällig herausstellen. Die Tatsache, daß Stadt
und Frau des Ogyges denselben Namen führen, weist darauf hin, daß
irgend eine Beziehung zwischen der Stadt und der Frau existieren
muß, was unschwer einzusehen ist, indem die Stadt eben einfach
identisch ist mit dem Weibe. Einer ähnlichen Vorstellung begegnen
wir im Indischen, wo Indra als Gemahl der Urvarä gilt, Urvarä aber
heißt das ‚„‚fruchtbare Land“. Ebenso wird die Besitzergreifung eines
Landes durch den König als Vermählung mit der Ackererde aufgefaßt.
Ahnliche Vorstellungen müssen auch in Europa geherrscht haben.
Die Fürsten hatten bei ihrem Regierungsantritt etwa eine gute Ernte
zu garantieren. Der schwedische König Domaldi wurde wegen Mißratens
der Ernte sogar getötet ( Ynglingasage 18). In der Rämasage vermählt
sich der Held Räma mit Sitä, der Ackerfurche!). In den gleichen Vor-
‘) Ich verdanke die Nachweise von Indra und Urvarä, Domaldi und Räma .
Herrn Dr. Abegg in Zürich.
Wandlungen und Symbole der Libido. 253
stellungskreis gehört die chinesische Sitte, daß der Kaiser beim
Regierungsantritt zu pflügen hat. Diese Idee, daß der Boden weiblich
sei, schließt auch den Gedanken in sich vom beständigen Zusammensein
mit dem Weibe, einem körperlichen Inemanderleben. Shiva,der phallische
Gott ıst als Mahadeva und Parwati männlich und weiblich; er hat
seiner Gemahlin Parwati sogar die eine Hälfte seines Körpers zur
Wohnung eingeräumtt). Jnman?) bringt die Zeichnung eines Punditen
von Ardanari-Iswara: Die eine Hälfte des Gottes ist männlich, die
andere weiblich und die Genitalien sind in beständiger Koha-
bitation. Das Motiv der beständigen Kohabitation findet sich
auch ausgedrückt in dem bekannten Lingamsymbol, das überall in
indischen Tempeln zu finden ist: Die Basis ist em weibliches Symbol
und drin steht der Phallus?). Dieses Symbol kommt den griechischen,
mystischen Phalluskörben und -kisten sehr nahe. (Vergleiche dazu
unten die Eleusinischen Mysterien.) Die Kiste oder Lade ist hier weib-
liches Symbol, nämlich der Mutterleib, was den älteren Mythologen
eine ganz bekannte Auffassung war®). Die Kiste, das Faß oder Körbchen
mit dem kostbaren Inhalt wird gern als auf dem Wasser schwimmend
gedacht, in einer bemerkenswerten Umkehrung der natürlichen Tat-
sache, daß das Kind im Fruchtwasser schwimmt und dieses sich im
Uterus befindet. Durch diese Umkehrung aber wird ein großer Subli-
mierungsvorteil erzielt, indem eine ungeheure Anwendungsmöglichkeit
für die mythenspinnende Phantasie dadurch geschaffen wird, nämlich
der Anschluß an den Sonnenlauf. Die Sonne schwimmt über das
Meer als der unsterbliche Gott, der jeden Abend in das mütterliche
Meer untertaucht und am Morgen wieder erneuert geboren wird.
!) Auch das christliche Mittelalter dachte sich. die Trinität als im Leibe
der hl. Jungfrau wohnend,.
2) Symbolism. Plate VII.
®) Eine andere Form desselben Motivs ist die persische Anschauung vom
Lebensbaume, der im Regensee Vourukasha steht. Die Samen dieses Baumes
werden dem Wasser beigemischt und dadurch wird die Fruchtbarkeit der Erde
unterhalten. Vendidäd 5, 57 ff. heißt es: Die Gewässer fließen ‚‚zum See Vouru-
kasha, hin zu dem Baum Hväpa, dort wachsen meine Bäume alle, von allen
Gattungen, diese lasse ich dort herabregnen als Speise für den reinen Mann, als
Weide für die wohlgeschaffene Kuh. (Befruchtung auf vorsexueller Stufe aus-
gedrückt!) Ein weiterer Lebensbaum ist der weiße Haoma, der in der Quelle
Ardvieüra, dem Lebenswasser, wächst. Spiegel: Erän. Altertumskunde, I
465, 467.
4) Schöne Nachweise hierfür bringt die Schrift Ranks: D. Myth. v. d.
Geburt des Helden.
254 ©. G. Jung.
Frobenius (Das Zeitalter des Sonnengottes, S. 30) sagt:
„Tritt nun für den blutigen Sonnenaufgang etwa die Anschauung
auf, daß hier eine Geburt stattfindet, die Geburt der jungen Sonne, so
schließt sich hieran unbedingt die Frage, woher denn die Vaterschaft komme,
wie dies Weib zu der Schwangerschaft gelangt sei. Und da nun dies Weib
dasselbe symbolisiert wie der Fisch, nämlich das Meer (indem wir von
einer Annahme ausgehen, daß die Sonne sowohl im Meer untergeht als
aus dem Meer emporsteigt), so ist die urmerkwürdige Antwort, daß dies
Meer ja vordem die alte Sonne verschluckt habe. Es bildet sich demnach
die Konsequenz mythe, da das Weib ‚‚Meer‘‘ vordem die Sonne verschluckt
hat und jetzt eine neue Sonne zur Welt bringt, so ist sie offenbar schwanger
geworden.“
Alle diese meerbefahrenden Götter sind Sonnensymbole. Sie sind
für die ‚„„Nachtmeerfahrt“ (Frobenius) in ein Kästchen oder in eine
Arche eingeschlossen, öfter mit einem Weibe zusammen (wiederum
in Umkehrung des tatsächlichen Verhältnisses, aber in Anlehnung
an das Motiv der beständigen Kohabitation, dem wir oben begegnet
sind). Während der Nachtmeerfahrt ist der Sonnengott im Mutter-
leibe eingeschlossen, öfter von allerhand Gefahren bedroht.
Statt vieler Einzelbeispiele begnüge ich mich, das Schema, das
Frobenius (l. c.) für zahllose Mythen dieser Art konstruiert hat,
hier, wiederzugeben:
Hitze -Haar
{ West OSt. ) Ausschkide
Verschlin g en. USB up en
7 Öffnen
Ä BP Landen
N "92 )
gi P Puegung - (Meerfaht 2
Be ee,
Ten, hi e
er u
“,
Frobenius gibt dazu folgende Legende:
„Ein Held wird von einem Wasserungetüm im Westen verschlungen
(‚verschlingen‘). Das Tier fährt mit ihm nach Osten (‚Meerfahrt‘). In-
zwischen entzündet er in dem Bauche ein Feuer (‚Feuerentzünden‘) und
schneidet sich, da er Hunger verspürt, ein Stück des herabhängenden
Herzens ab (‚Herzabschneiden‘). Bald darauf merkt er, daß der Fisch
ie das Trockene ‚gleitet (‚Landen‘); er beginnt sofort das Tier von innen
eraus aufzuschneiden (‚Öffnen‘); dann schlüpft er heraus (‚Ausschlüpfen‘).
Wandlungen und Symbole der Libido. 259
In dem Bauche des Fisches ist es so heiß gewesen, daß ihm alle Haare aus-
gefallen sind (‚Hitze‘, ‚Haar‘). — Vielfach befreit der Held noch gleich-
zeitig alle, die vorher verschlungen wurden (‚Allverschlingen‘) und die
nun alle auch ausschlüpfen (‚Allausschlüpfen‘).‘“
Eine sehr naheliegende Parallele ist Noahs Fahrt auf der Sint-
flut, in der alles Lebende stirbt, nur er und das von ihm bewahrte
Leben werden einer neuen Geburt der Schöpfung entgegengeführt.
In emer melapolynesischen Sage (Frobenius |. c. S. 61) heißt es,
daß der Held im Bauche des Kombili (Königsfisch) seinen Obsidian
nimmt und dem Fisch den Bauch aufschneidet. ‚‚Er schlüpfte hinaus,
und sah einen Glanz. Und er setzte sich nieder und überlegte: ‚Ich
wundere mich, wo ich bin?‘ sagte er. Da stieg die Sonne mit
einem Ruck empor und warf sich von einer Seite zur andern.“ Die
Sonne ist wieder ausgeschlüpft. Frobenius (8. 173f.) erwähnt aus
dem Ramayana die Mythe des Affen Hanumant, der den Sonnenhelden
repräsentiert: ‚‚Die Sonne, in welcher Hanumant durch die Luft eilt,
wirft einen Schatten auf das Meer; ein Meerungeheuer bemerkt den-
selben und zieht durch ihn Hanumant an sich. Als dieser sieht, daß das
Ungeheuer ihn verschlucken wıll, dehnt er seine Gestalt ganz
maßlos aus; das Ungeheuer nimmt dieselben gigantischen Propor-
tionen an. Als es das tut, wird Hanumant so klein wie ein Daumen,
schlüpft in den großen Leib des Ungeheuers hinein und kommt auf
der andern Seite wieder hinaus.‘“ An einer andern Stelle des Gedichtes
heißt es, er sei zum rechten Ohre des Ungeheuers wieder heraus-
gekommen. (Wie Rabelais’ Gargantua, der auch aus dem Ohr der
Mutter geboren wurde.) „Hanumant nimmt darauf seinen Flug wieder
auf und findet ein neues Hindernis in einem andern Meerungeheuer,,
das ist die Mutter Rahus (des sonnenverschlingenden Dämons).
Diese zieht ebenfalls den Schätten!) Hanumants an sich; dieser aimmt
wieder zu der früheren Kriegslist seine Zuflucht, wird klein und schlüpft
in ihren Leib hinein, doch kaum ist er darin, so wächst er zum riesigen
Kiumpen an, schwillt auf, zerreißt sie, tötet sie und macht sich davon.‘
So verstehen wir, daß der indische Feuerholer Matarigvan ‚‚der
in der Mutter Schwellende“ heißt. Die Arche (Kästchen, Lade, Faß,
Schiff usw.) ist ein Symboi des Mutterleibes, ebenso wie das Meer,
in das die Sonne zur Wiedergeburt versinkt.
!) Schatten = wohl Seele, deren Natur gleich der Libido ist. Vgl. dazu.
I. Teil.
256 C. G. Jung.
Aus diesem Vorstellungskreis heraus verstehen wir die mytho-
logischen Aussagen über Ogyges: Er ist der, der die Mutter, die Stadt,
besitzt, der also mit der Mutter vereinigt ist, daher auch unter ihm die
große Flut kam, indem es ein typisches Stück im Sonnenmythus ist,
daß der Held, wenn vereinigt mit der schwererreichbaren Frau, in einem
Faß und dergl. ins Meer ausgesetzt wird und dann an einem fernen
Gestade zu neuem Leben landet. Das Mittelstück, die ‚‚Nachtmeer-
fahrt‘ in der Arche, fehlt in der Tradition über Ogygest). Es ist aber
die Regel in der Mythologie, daß die einzelnen typischen Stücke eines
Mythus in allen erdenklichen Variationen aneinander gefügt sein
können, was die Deutung des einzelnen Mythus ohne Kenntnis aller
anderen außerordentlich erschwert. Der Sinn des hier angeregten Mythen-
kreises ist klar: es ist die Sehnsucht, durch die Rückkehr in den
Mutterleib die Wiedergeburt zu erlangen, d. h. unsterblich
zu werden wie die Sonne.
Diese Sehnsucht nach der Mutter drückt sich in unseren heiligen
Schriften reichlich aus?). Ich erinnere zunächst an die Stelle im Galater-
brief, wo es heißt (4, 26 £f.):
„Das obere Jerusalem aber ist frei (eine Freie, keine Sklavin),
das ist unsere Mutter. Denn es steht geschrieben: Freue dich, du
Unfruchtbare, die nicht gebiert, brich in Jubel aus, die nicht kreißt; denn
‘) Ich muß aber erwähnen, daß Nork (Realwörterbuch sub Theben und
Schiff) aus zum Teil sehr anfechtbaren Gründen dafür plaidiert, daß Theben
die ‚‚„Schiffstadt‘‘ sei. Ich hebe aus seinen Gründen eine Stelle aus Diodor (1, 57)
hervor, wonach Sesostris (den Nork mit Xisuthros in Beziehung setzt) dem
höchsten Gott in Theben ein Schiff von 280 Ellen Länge geweiht habe. Im
Gespräch des Lucius (Apulejus: Metam. lib. II, 28.) wird die Nachtmeerfahrt
als erotische Redefigur gebraucht: ‚„Hac enim sitarchia navigium Veneris
indiget sola, ut in nocte pervigili et oleo lucerna et vino calix abundet.“ Die
Vereinigung des Coitusmotivs mit dem Schwangerschaftsmotiv findet sich in
der „Nachtmeerfahrt‘‘ des Osiris, der im Mutterleibe seine Schwester begattet.
?) Psychologisch sehr beweisend ist die Art und Weise, wie Jesus seine
Mutter behandelt, wie er sie barsch von sich weist: um so sicherer und um so
stärker wird die Sehnsucht nach ihrer Imago in seinem Unbewußten wachsen. Es
ist wohl kein Zufall, daß der Name Maria ihn durch sein Leben begleitet. Vergl.
den Ausspruch Matth. 10, 35 £.: ‚„‚Ich bin gekommen, zu entzweien, einen Menschen
mit seinem Vater, die Tochter mit ihrer Mutter. — Wer Vater und Mutter mehr
Tiebt denn mich, ist mein nicht wert.“ Diese direkt feindselige Absicht, die an
Me legendäre Rolle des Bertran de Born erinnert, richtet sich gegen die inzes-
tuösen Bindungen und zwingt die Menschen, ihre Libido auf den sterbenden,
2 die Mutter eingehenden und auferstehenden Heiland, den Heros Christos zu
übersetzen. !
Wandlungen und Symbole der Libido. | 257
die Einsame hat viele Kinder, mehr als die, die einen Mann hat. Ihr aber,
Brüder, seid nach Isaak Kinder der Verheißung. Aber wie damals der
nach dem Fleisch Gezeugte den nach dem Geist Gezeugten verfolgte, so
auch jetzt. Aber was sagt die Schrift? Wirf die Masd hinaus und ihren Sohn,
denn der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohne der Freien. Also,
Brüder, sind wir nicht der Magd Kinder, sondern der Freien. Für die Freiheit
hat uns Christus befreit.“
Die Christen sind die Kinder der oberen Stadt, eines Symbols
der Mutter, nicht Söhne der irdischen Stadt-Mutter, die man hinaus-
werfen soll, denn der fleischlich Gezeugte ist im Gegensatz zu dem geistig.
Gezeugten, welcher nicht aus der fleischlichen Mutter, sondern aus
einem Symbol für die Mutter geboren ist. Man muß hier wiederum
an die Indianer denken, die den ersten Menschen aus einem Schwert-
griff und einem Weberschiffehen hervorgehen lassen. Dasreligiöse Denken
ist verbunden mit dem Zwang, die Mutter nicht mehr Mutter zu
nennen, sondern Stadt, Quelle, Meer usw. Dieser Zwang kann nur aus
dem Bedürfnis stammen, eine mit der Mutter verbundene Libido-
menge zu betätigen, doch so, daß die Mutter dabei durch ein Symbol
vertreten respektive versteckt sei. Die Symbolik der Stadt finden
wir wohl entwickelt in der Apokalypse des Johannes, wo zwei Städte
eine große Rolle spielen, die eine von ihm beschimpft und verflucht,
die andre ersehnt. Wir lesen Apokal. 17, 1 f.:
„Komm, ich zeige dir das Gericht über die große Buhlerin, die an den
großen Wassern saß, mit der die Könige der Erde Unzucht getrieben, und
wurden trunken die Bewohner der Erde vom Wein ihrer Unzucht; und er
trug mich in eine Wüste im Geiste. Und ich sah ein Weib sitzen auf einem
scharlachnen Tiere, voll Namen der Lästerung mit sieben Köpfen und zehn
Hörnern. Und das Weib war in Purpur und Scharlach gekleidet, und ver-
goldet mit Gold und Edelsteinen und Perlen und hatte einen goldnen
Becher!) in der Hand voll Greuel und Unsauberkeit ihrer Unzucht; und
auf ihrer Stirn war ein Name geschrieben, im Geheimniß: Babylon die
große, die Mutter der Buhlerinnen und der Greuel der Erde. Und ich sah
das Weib trunken vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu,
und sah hin und wunderte mich groß, da ich sie sah.“
Es folgt hier eine uns unverständliche Deutung des Gesichts, aus
der wir nur hervorheben wollen, daß die 7 Köpfe?) des Drachen sieben
!) Genitale.
2) Die Hörner des Drachen erhalten folgende Attribute: ‚Sie werden vom
Fleisch des Weibes zehren und sie mit Feuer verbrennen.‘ Das Horn,
ein phallisches Emblern, ist im Einhorn das Symbol des Heiligen Geistes (Logos).
Das Einhorn wird vom Erzengel Gabriel gehetzt und in den Schoß der Jungfrau
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen, IV.; 17
258 | ©. G. Jung.
Berge bedeuten, auf denen das Weib sıtzt. Es dürfte sich hier um eine
deutliche Beziehung auf Rom handeln, also auf die Stadt, deren irdische
Macht die Welt in der Zeit des Apokalyptikers bedrückte. Die Wasser,
auf denen das Weib, die ‚Mutter‘, sıtzt, sind ‚‚Völker und Massen
und Nationen und Sprachen“, auch das scheint Rom zu gelten, denn
es ist die Mutter der Völker und besitzt alle Länder. Wie in der Sprache
z. B. Kolonien ‚‚Töchter‘ heißen, so sind die Rom unterworfenen
Völker wie Glieder einer der Mutter unterworfenen Familie: In einer
andern Version des Bildes treiben die Könige der Völker, also die ‚‚Väter“,
mit dieser Mutter Unzucht. Die Apokalypse fährt fort (18, 2 ff.):
„Gefallen, gefallen ist die große Babylon und ward eine Behausung
für Dämonen und ein Gefängnis aller unreinen Geister und Gefängnis aller
unreinen und verhaßten Vögel, denn aus dem Zornwein ihrer Unzucht
haben alle Nationen getrunken.‘
So wird diese Mutter nicht nur Mutter aller Greuel, sondern auch
eigentlich das Behältnis alles Bösen und Unreinen. Die Vögel sind
Seelenbilder!), gemeint sind also alle Seelen der Verdammten und
bösen Geister. So wird die Mutter zur Hekate, zur Unterwelt, zur Stadt
der Verdammten selber. Wir erkennen in dem urtümlichen Bilde des
Weıbes auf dem Drachen?) unschwer das oben erwähnte Bild der
Echidna, der Mutter aller höllischen Schrecken. Die Babylon ist das
Bild der ‚‚furchtbaren‘‘ Mutter, die mit teuflischer Versuchung alle
Völker zur Hurerei verführt und mit ihrem Weine trunken macht.
Der Rauschtrank steht hier in nächster Beziehung zur Unzucht, denn
er ist ebenfalls ein Libidosymbol, wie wir bereits bei der Parallele von
Feuer und Sonne gesehen haben.
gejagt, womit die Conceptio immaculata sinngemäß angedeutet wird. Die Hörner
sind aber auch Sonnenstrahlen, daher die Sonnengötter öfter gehörnt sind. Der
Sonnenphallus ist das Vorbild des Hornes (Sonnenrad und Phallusrad), daher
Horn Symbol der Macht. Hier ‚„‚verbrennen“ die Hörner ‚„‚mit Feuer‘ und ver-
zehren das Fleisch; man erkennt darin ein Bild der Höllenpein, wo die Seelen
durch das Feuer der Libido (ungestillte Sehnsucht) ‚‚gebrannt‘‘ werden. Die
Buhlerin soll also von ungestillter Sehnsucht (Libido) ‚‚verzehrt“oder ‚‚verbrannt“
werden. Prometheus erleidet ein ähnliches Schicksal, indem der Sonnen-(Libido-)
Vogel seine Eingeweide frißt; man könnte auch sagen, er sei vom ‚„‚Horn“ durch-
stoßen. Ich ziele auf die phallische Bedeutung des Speeres.
') In der babylonischen Unterwelt z. B. tragen die Seelen ein Flügelkleid
wie die Vögel. Siehe Gilgameshepos.
*) In einem Brüggener Evangelienbuch des 14. J ahrhunderts findet sich
eine Miniature, wo das ‚‚Weib“ lieblich wie die Gottesmutter zum halben
Leibe in einem Drachen drin steht.
Wandlungen und Symbole der Libido. 259
Nach dem Fall und der Verfluchung der Babylon finden wir
Apokal. 19, 6ff. den Hymnus, der uns überleitet von der unteren
zur oberen Mutterhälfte, wo nun alles möglich werden soll, was ohne
Verdrängung des Inzestuösen unmöglich wäre:
„Alleluja, denn der Herr, unser Gott, der Allbeherrscher, ist König
geworden. Freuen wir uns und jauchzen wir und bringen ihm Preis: denn
es ist gekommen die Hochzeit des Lammest), und seine Frau hat sich bereitet,
und es ward ihr gegeben, sich anzutun mit strahlendem reinem Linnen;
1) Griechisch rÖ doviov, Böckchen, Diminutiv des ungebräuchlichen
donv = Widder. (Bei Theophrast kommt es in der Bedeutung von „junge
Sehößlinge‘‘ vor.) Das verwandte Wort dovig bezeichnet ein in Argos alljährlich
gefeiertes Fest zum Andenken an Linos, wobei der Alvog genannte Klagegesang
gesungen wurde zur Beklagung des von Hunden zerrissenen Linos, des neuge-
borenen Knäbchens der Psamathe und des Apollo. Die Mutter hatte das Kind
ausgesetzt aus Furcht vor ihrem Vater Krotopos. Aus Rache sandte aber Apollo
einen Drachen, die Poine, in das Land des Krotopos. Das Orakel von Delphi
sebot eine jährliche Klage der Frauen und Jungfrauen um den toten Linos. Auch
Psamathe fiel ein Teil der Verehrung zu. Die Linosbeklagung ist, wie Herodot
zeigt (II, 79), identisch mit dem phönikischen, kyprischen und ägyptischen
Gebrauch der Adonis-(Tammuz-)Beklagung. In Ägypten heiße der Linos
Maneros, wie Herodot bemerkt. Brugsch weist nach, daß Maneros von dem
ägyptischen Klagerufe maa-n-chru: ‚komme auf den Ruf“ herstamme. Die
Poine hat die Eigentümlichkeit, daß sie allen Müttern die Kinder aus dem Leibe
reißt. Dieses Ensemble von Motiven finden wir wieder in der Apokalypse 12, 1f£.,
wo von dem gebärenden Gestirnweib gehandelt wird, dessen Kind von einem
Drachen bedroht ist, aber in den Himmel entrückt wird. Der Herodianische
Kindermord ist eine Vermenschlichung dieses ‚‚urtümlichen‘“ Bildes. Das Lamm
bedeutet den Sohn. (Vgl. Brugsch: Die Adonisklage und das Linoslied, Berlin,
1852.) Dieterich (Abraxas, Studien zur Religionsgeschichte des späteren Alter-
tums, 1891) verweist zur Erklärung dieses Passus auf den Mythus von Apollo und
Python, den er (nach Hyginus) folgendermaßen wiedergibt: ‚‚Python, dem Sohne
der Erde, dem großen Drachen, war geweissagt, daß der Sohn der Leto ihn töten
würde. Leto war von Zeus schwanger: Hera bewirkt aber, daß sie nur da, wo die
Sonne nicht scheine, gebären könne. Als Python aber merkt, daß Leto
gebären wird, fängt er an sie zu verfolgen, um sie zu töten. Aber Boreas trägt
die Leto zum Poseidon. Dieser bringt sie nach Ortygia und bedeckt die Insel
mit den Wogen des Meeres. Als Python die Leto nicht findet, kehrt er zum Parnaß
zurück. Auf der von Poseidon erhobenen Insel gebiert Leto. Am vierten Tage
nach der Geburt nimmt Apollo Rache und tötet den Python. Die Geburt auf der
verborgenen Insel gehört zum Motiv der ‚„„Nachtmeerfahrt“. (S. Frobenius:
l. c. passim.) Das Typische der ‚‚Inselphantasie‘“ hat zum ersten Male Riklin
(Dieses Jahrbuch, Bd. I, S. 246 ff.) richtig herausgefühlt. Eine hübsche
Parallele dazu findet sich, zudem mit dem nötigen inzestuösen Phantasiematerial,
inH. de Vere Stacpool: The blue lagoon. (Eine Parallele zu ‚‚Paul et Virginie‘.)
24°
9360 C.G. Jung.
denn das Linnen sind die Rechttaten der Heiligen. Und er spricht zu mir:
schreibe: Selig sind, die berufen sind zur Hochzeit des Lammes.“
Das Lamm ist des Menschen Sohn, der mit der ‚Frau‘ Hochzeit
feiert. Wer die ‚Frau‘ ist, bleibt zunächst dunkel. Apokal. 21, 9#f.,
aber zeigt uns, welche ‚‚Frau‘“ die Braut des Widders ist:
„Komm, ich wili dir zeigen die Braut, das Weib des Lammest),
und er trug mich im Geiste auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir
die heilige Stadt Jerusalem, herabkommend aus dem Himmel von Gott
her, mit der Herrlichkeit Gottes.‘
Aus dieser Stelle dürfte nach allem Vorangegangenen erhellen,
daß die Stadt, die himmlische Braut, die hier dem Sohn verheißen
wird, die Mutter ist?). In Babylon wird, um mit dem Galaterbrief
zu reden, die unreine Magd hinausgeworfen, um hier im himmlischen
Jerusalem die Mutter-Braut um so sicherer zu erwerben. Es zeugt von
feinster psychologischer Witterung, daß die Väter der Kirche, die den
Kanon aufstellten, dieses Stück symbolistischer Deutung des Christus-
mysteriums nicht verloren gehen ließen. Es ist eine kostbare Fundgrube
für die dem Urchristentum unterliegenden Phantasien und Mythen-
stoffe?). Die ferneren Attribute, die auf das himmlische Jerusalem
‘) Apokal. 21, 2f.: „Und die heilige Stadt, das neue Jerusalem sah ich
herabkommen aus dem Himmel von Gott, bereitet wie eine für ihren Mann
geschmückte Braut“ usw.
?) Die Sage von Saktideva in Somadeva Bhatta erzählt, daß der Held,
nachdem er die Verschlingung durch einen ungeheuren Fisch (furehtbare Mutter)
glücklich überstanden hat, endlich die goldene Stadt sieht und seine geliebte
Prinzessin heiratet. (Frobenius: 1. c. 8. 175.)
°) In den apokryphen Akten des hl. Thomas (II. Jahrhundert) ist die
Kirche als die jungfräuliche Muttergattin Christi aufgefaßt. In einer Anrufung
des Apostels heißt es:
Komm, heiliger Name Christi, der du über allen Namen bist.
Komm, Macht des Höchsten und größte Gnade.
Komm, Spender des Segens, des höchsten.
Komm, Mutter gnadenvolle.
Komm, Ökonomie des Männlichen.
Komm, Frau, die du die verborgenen Mysterien aufdeckst usw.
In einer andern Anrufung heißt es:
Komm, größte Gnade.
Komm, Gattin (wörtlich Gemeinschaft) des Männlichen,
Komm, Frau, die du weißt das Mysterium des Erwählten.
Komm, Frau, die du die verborgenen Dinge zeigest.
Und die unsagbaren Dinge otfenbarest, heilige
Taube, die du die Zwillingsnestvögel hervorbringst
Komm, geheime Mutter“ usw.
Wandlungen und Symbole der Libido. 261
gehäuft wurden, machen seine Bedeutung als Mutter überwältigend
klar): |
„Und er zeigte mir einen Strom von Lebenswasser glänzend wie
Kristall hervorkommend aus dem Throne Gottes und des Lammes mitten
in ihrer Gasse; hüben und drüben am Strom den Baum des Lebens
zwölfmal fruchtbringend, jeden Monat seine Frucht gebend; und die Blätter
des Baumes sind zur Heilung der Nationen. Und Gebanntes soll es
nicht mehr geben?).“
Wir begegnen in diesem Stück dem Symbel des Wassers, das
wir bei der Erwähnung des Ogyges in Verbindung mit der Stadt fanden.
Die mütterliche Bedeutung des Wassers gehört zu den klarsten Symbol-
deutungen im Gebiete der Mythologie®), so daß die Alten sagen konnten:
n dahaooa — wis yevkoews odußoAov. Aus dem Wasser kommt das
Leben,?) daher auch die beiden Götter, die uns hier am meisten Interes-
sieren, nämlich Christus und Mithras ; letzterer ist nach den Darstellungen
neben einem Flusse geboren, Christus hat seine Neugeburt im Jordan er-
fahren, zudem ist er geboren aus der //ny77°), dem sempiterni fons amoris,
der Gottesmutter, welche heidnisch-christliche Legende zur Quellen-
nymphe gemacht hat. Die ‚‚Quelle“ findet sich auch im Mithriacismus:
Eine pannonische Weihinschrift lautet: fonti perenni. Eine Inschrift
von Apulum ist der ‚‚Fons Aeterni“ geweiht. (Cumont: Text. et Mon.
I, 106 £.) Im Persischen ist Ardvigüra die Quelle mit Lebenswasser.
Ardvigüra-Anähita ist eine Wasser- und Liebesgöttin (wie Aphrodite
F. C. Conybeare: Die jungfräuliche Kirche und die jungfräuliche Mutter.
Archiv für Religionswissenschaft, IX, 77.
Die Beziehung der Kirche zur Mutter ist ganz unzweifelhaft, ebenso die
Auffassung der Mutter als Gattin. Die Jungfrau ist notwendigerweise zur Ver-
deckung des Inzestes dazwischen gestellt. Die ‚„„Gemeinschaft des Männlichen“
weist auf das Motiv der beständigen Kohabitation. Die ‚‚Zwillingsnestvögel“
weisen auf die alte Legende, daß Jesus und Thomas Zwillinge gewesen seien.
Es handelt sich offenbar um das Dioskurenmotiv, daher der ungläubige Thomas
seinen Finger in die Seitenwunde legen muß, deren Sexualbedeutung Zinzen-
dorf richtig gefühlt hat, als ein Symbol, das die androgyne Natur des Urwesens
(der Libido) andeutet. Vgl. die persische Sage vom Zwillingsbaume Meschia und
Mechiane sowie das Dioskurenmotiv und das Kohabitationsmotiv.
1) Apok. 22, 1 ff.
?) Kai näv xardadeua obK Eoraı Er, es soll keine Verwünschung mehr sein.
®) Vgl. dazu Freud: Traumdeutung. Ferner Abraham: Traum und
Mythus, S. 22 £.
*#) Jes. 48, 1: „„Höret das, ihr vom Hause Jakob, die ihr heißet mit Namen
Israel und aus dem Wasser Judas geflossen seid.“
5) Wirth: Aus orientalischen Chroniken.
262 0.6. Jung.
die „‚Schaumgeborene‘ ist). Die neuen Perser bezeichnen mit Nähid
den Planeten Venus und eine mannbare Jungfrau. (Spiegel, Erän.
Altertumsk. IL, 8. 54 ff.).
In den Tempeln der Anaitis gab es prostituierte Hierodulen
(Huren). Bei den Sakaeen (zu Ehren der Anaitis) gab es rituelle
Prügeleien (Strabo XI), wie beim Feste des ägyptischen Ares und
seiner Mutter. Der im Vourukashasee wohnende Gott ‚‚ein Befruchter“
der Menschen, hieß Apanm, Napät = ‚‚mit Frauen versehen“. (Spiegel
l. c. 8. 62.) (Motiv der beständigen Kohabitation.) In den Vedas heißen
die Gewässer mätritamäh — die mütterlichsten!). Alles Lebendise
steigt, wie die Sonne, aus dem Wasser und taucht am Abend hinunter
in das Wasser. Aus den Queller, den Flüssen und Seen geboren, ge-
langt der Mensch im Tode an die Wasser des Styx, um die ‚„Nacht-
meerfahrt‘ anzutreten. Der Wunsch ist: jene schwarzen Wasser des
Todes möchten Wasser des Lebens sein, der Tod mit seiner kalten
Umarmung möchte der Mutterschoß sein, wie das Meer die Sonne
zwar verschlingt, aber aus mütterlichem Schoß wieder gebärt (Jonas-
motiv?). Das Leben glaubt an keinen Tod:
In Lebensfluten, in Tatensturm,
Wall ich auf und ab,
Wehe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Hin wechselnd Weben,
Ein glühend Leben... ....
Daß das E3%0v Cwijs, das Lebensholz oder der Lebensbaun,
ein mütterliches Symbol ist, dürfte aus den obigen Erläuterungen
hervorgehen. Der etymologische Zusammenhang von dw, dAn, viös in
der idg. Wurzel sü deutet die Sinnverschmelzung in der dahinter-
liegenden Mutter- und Zeugungssymbolik an. Der Lebensbaum ist wohl
zunächst ein fruchttragender Stammbaum, also ein Mutterbild.
Zahlreiche Mythen belegen die Abstammung des Menschen von Bäumen,
!) Die griechische ‚‚„Materia“ ist öAn, das auch Holz und Wald bezeichnet;
es bedeutet eigentlich feucht von idg. Wurzel sü in d®: naß machen, regnen
lassen, derög = Regen, ir. suth — Saft, Frucht, Geburt, sanskr. sür& =
Branntwein, sutus = Sch wangerschaft, süte, sügate — zeugen, | sutas =
Sohn, süras = So ma, ücs = Sohn (sanskr. sünüs, got. sunus,)
*) Kolunua heißt Beischlaf ’ ;
terium = Friedhof. ‚ Koumtmgıov Schlafgemach, daraus coeme
Wandlungen und Symbole der Libido. 263
viele Mythen zeigen, wie der Heros im mütterlichen Baume einge-
schlossen ist, so der tote Osiris in der Säule, Adonis in der Myrthe usw.
Zahlreiche weibliche Gottheiten wurden als Bäume verehrt, daher der
Kult der heiligen Haine und Bäume. Es ist von durchsichtiger Be-
deutung, wenn sich Attis unter einer Fichte entmannt, d. h. er tut es
wegen der Mutter. Mannigfach wurden Göttinnen unter dem Bilde
des Baumes oder des Holzes verehrt. So war die Juno von Thespiae
ein Baumast, die von Samos ein Brett, die von Argos eine Säule, die
karische Diana ein unbehauenes Stück Holz, die Athene von Lindus
eine geglättete Säule. Tertullian nennt die Ceres auf Pharos: rudis
palus et informe lignum sine effigie. Athenäus bemerkt von der
Latona zu Delos, sie sei ein &ö4wo» äuoopov, ein ungeformtes Holz-
stückt). Tertullian nennt eine attische Pallas: crucis stipes, Kreuz-
pfahl (oder Mast). Der bloße Holzpfahl ist, wie schon der Name (Pfahl,
palus, odAns) andeutet, phallisch?). Der paAAös ist ein Pfahl, als kul-
tischer Lingam gern aus Feigenholz geschnitzt, wie auch die römischen
Priapstatuen. DaAog heißt ein Vorsprung oder Aufsatz am Helm, später
»@vos genannt. Wie däva-pas-avriaoıs: Kahlköpfigkeit auf dem
Vorderteil des Kopfes, und paiazxoös: kahlköpfig in Verbindung mit
dem gdios-z@vos des Helmes andeuten, kommt auch dem oberen Teil
des Kopfes quasi phallische Bedeutung zu?). DaAAnvos hat über paikds
die Bedeutung von „hölzern“; pal-dyywua — Walze. pdiayE: ein
runder Balken; ebenso heißt die durch ihre wuchtige Stoßkraft
ausgezeichnete mazedonische Schlachtordnung, ferner heißt das
Fingerglied?) auch pdday&; pdAkaıwa oder pdlaıya ist der Walfisch,
dessen phallische Natur ich bereits im ersten Teil angedeutet habe.
Es kommt nun noch gaAös dazu mit der Bedeutung leuchtend,
!) Nork: Realwörterbuch.
?) Statt Säulen auch coni, so im Kult der Kypris, der Istar usw.
®) In einer Mythe von Zelebes heißt eine Taubenjungfrau, die nach der
Weise des Schwanjungfraumythus war gefangengenommen worden, Utahagi
nach einem weißen Härchen, welches auf ihrem Scheitel wuchs und dem
Zauberkraft innewohnte. Frobenius: ]. c., S. 307.
4) Bezüglich der phallischen Symbolik des Fingergliedes verweise ich auf
die Ausführungen über Daktylos, II. Teil, Kapitel I. Ich erwähne hier noch aus
einer Bakairimythe folgendes: „Nimagakaniro verschluckte zwei Bakairifinger-
knochen, von denen viele im Hause waren, weil Oka sie für seine Pfeilspitzen
gebrauchte und viele Bakairi tötete, deren Fleisch er aß. Von den Fingerknochen
und nur von diesen, nicht von Oka, wurde die Frau schwanger.‘ (Zitiert Fro-
benius: ]l. c., S. 236.)
264 C. G. Jung.
glänzend. Die idg. Wurzel ist bhale = strotzen, schwellen!), Wer
denkt nicht an Faust?
„Er wächst in meiner Hand, er leuchtet, blitzt!“
Das ist ‚„urtümliche“ Likidosymbolik, welche zeigt, wie unmittelbar
die Beziehung zwischen phallischer Libido und Licht ist. Dieselben
Beziehungen finden sich auch in den Anrufungen Rudra’s im Rigveda:
Rigv. 1, 114, 3: „Mögen wir deine Gunst erlangen deiner, des männer-
beherrschenden, o harnender Rudra.“
Ich verweise hier auf die oben erwähnte phallische Symbolik
Rudra’s in den Upanishaden.
4: „Den flammenden Rudra, den das Opfer ausführenden, den
kreisenden (am Himmel im Bogen wandelnden), den Seher, rufen wir
zur Hilfe hernieder.‘
2,33,5: „— der Süßes erschließende, der sich leicht rufen lassende,
der rotbraune, der mit schönem Helme versehene, möge uns nicht
der Eifersucht in die Gewalt geben.
6: Erfreut hat mich der mit den Marut verbundene Stier, mit rüstigerer
Lebenskraft den flehenden.
8:Demrötlichbraunen Stier, demweiß glänzenden, laß kräftiges
Preislied erschallen; verehre den flammenden mit Verehrungen, wir
besingen das glänzende Wesen Rudra’s.
14: Möge Rudra’s Geschoß (Pfeil) an uns vorbei sich wenden, möge
des Glänzenden große Ungunst vorbeigehen; Spanne die festen (Bogen
oder die harten Pfeile?) ab für die Fürsten, du (mit Harn) segnender
(zeugungskräftiger) sei gnädig unsern Kindern und Enkeln?).‘
Auf diese Weise gelangen wir aus dem Gebiete der Muttersymbolik
unmerklich in das Gebiet einer männlichen, phallischen Symbolik.
Auch dieses Element liegt im Baume, sogar im Stammbaume, wie mittel-
alterliche Stammbäume deutlich zeigen: aus dem zuunterst liegenden
Vorfahr wächst an der Stelle des membrum virile der Stamm des großen
Baumes empor. Der bisexuelle Symbolcharakter des Baumes ist an-
gedeutet durch die Tatsache, daß im Lateinischen die Bäume männliche
Endung und weibliches Geschlecht haben?). Bekannt ist die weibliche
‘) Weitere Belege hierzu bei Prellwitz: Griech. Etym.
*) Siecke: Der Gott Rudra im Rigveda. Archiv für Religionswissenschaft,
Bd. I, S. 237 ff.
%) Der Feigenbaum ist der phallische Baum. Bemerkenswert ist, daß
Ag eine Ficus an den Eingang des Hades pflanzte, so, wie man Phallen
au Er Gräber stellte. Die der Kypris geweihte Zypresse wurde ganz zum Todes-
zeichen, indem man sie an die Türe des Sterbehauses stellte.
Wandlungen und Symbole der Libido. 265
(speziell mütterliche) Bedeutung des Waldes und die phallische Be-
deutung der Bäume in den Träumen. Ich erwähne ein Beispiel:
Eine junge Frau, die, von jeher nervös, nach mehrjähriger Ehe bei
Beschränkung der Kinderzahl infolge der typischen Libidoaufstauung
erkrankte, hatte folgenden Traum, als sie einen ihr sehr zusagenden jungen
Mann mit viel versprechenden freien Ansichten kennen lermte: ‚Sie fand
sich in einem Garten, dort stand ein merkwürdiger exotischer Baum mit
sonderbaren, rötlichen, fleischigen Blüten oder Früchten, sie brach sich
davon und aß. Sie fühlte sich davon zu ihrem Schrecken vergiftet.‘
An der Hand der antiken oder poetischen Symbolik läßt sich dieses
Traumbild unschwer verstehen, ich darf daher wohl auf die Mitteilung
des analytischen Materials verzichten)!.
Die Doppelbedeutung des Baumes ist unschwer dadurch zu
erklären, daß nämlich solche Symbole nicht ‚‚anatomisch‘“ zu verstehen
sind, sondern psychologisch als Libidogleichnisse, daher es nicht
angängig ist, den Baum als phallısch schlechthin, z. B. seiner Form-
ähnlichkeit wegen, aufzufassen, er kann auch Weib heißen oder Uterus
oder Mutter. Die Einheit der Bedeutung liegt nur im Libidogleichnis?).
!) Es gibt eine Abart wissenschaftlichen Denkens, welche dadurch gekenn-
zeichnet ist, daß der Forscher sich gegen sich selbst künstlich dumm stellt und
gewisse Dinge nicht zu verstehen vorgibt, die er sonstwo ganz gut versteht.
Die künstlich ersonnenen Dummheiten dienen angeblich der Vertiefung der
Diskussion von Argumenten. Das ist scholastische Methode.
?) Der Baum ist daher auch gelegentlich ein Sonnenbild. Ein von
Dr. van Ophuijsen mir mitgeteiltes russisches Rätsel lautet: ‚„Es steht ein
Baum mitten im Dorfe und ist in jeder Hütte sichtbar?“ ‚‚Die Sonne und ihr
Licht.“ Ein norwegisches Rätsel lautet:
„Es steht ein Baum auf dem Billingsberge,
Der tropft über ein Meer,
Seine Zweige leuchten wie Gold;
Das rätst Du heute nicht.‘
Die Sonnentochter sammelt am Abend die goldenen Zweige, die von der
wunderbaren Eiche gebrochen sind.
‚„‚Bitterlich weint das Sonnchen
Im Apfelgarten.
Vom Apfelbaum ist gefallen
Der goldene Apfel,
Weine nicht Sonnchen,
Gott macht einen andern
Von Gold, von Erz,
Von Silberehen.“
266 C. G. Jung.
Man geriete von einer Sackgasse in die andere, wenn man sagen wollte,
dieses Symbol ist für die Mutter gesetzt und jenes für den Penis. Die
feste Bedeutung der Dinge hat in diesem Reich ein Ende. Einzige
Realität ist dort die Libido; ihr ist: „Alles Vergängliche nur ein
Gleichnis“. Es ist also nicht die physische wirkliche Mutter, sondern
die Libido des Sohnes, deren Objekt einst die Mutter war. Wir nehmen
die mythologischen Symbole viel zu konkret und wundern uns bei
jedem Schritt über die endlosen Widersprüche. Die Widersprüche
kommen nur daher, daß wir stets wieder vergesesn, daß im Reiche der
Phantasie ‚‚Gefühl alles‘ ist. Wenn es also etwa heißt: ‚‚seime Mutter
war eine böse Zauberin‘, so lautet die Übersetzung: Der Sohn ist in sie
verliebt, d. h. er ist nicht imstande, die Libido von der Mutterimago
abzulösen, er leidet daher an inzestuösen Widerständen usw.
Die Wasser- und die Baumsymbolik, die als weivere Attribute
dem Symbole der Stadt beigegeben sind, weisen ebenfalls auf jenen
Libidobetrag hin, der unbewußt bei der Mutterimago verankert it.
Die Apokalypse läßt an gewissen Hauptstellen die unbewußte Psycho-
logie der religiösen Sehnsucht durchschimmern: die Sehnsucht
nach der Mutter!). Auch die Erwartung des Apokalyptikers endet
bei der Mutter: zal näv zarddsua obx Zoraı &rı, und es soll keine Ver-
wünschung mehr geben. Es soll keine Sünde, keine Verdrängung, kein
Uneinssein mit sich selber mehr sein, keine Schuld, keine Todesangst
und kein Schmerz der Trennung.
So klingt die Apokalypse in jenen selben mystisch strahlenden
Akkord aus, den dichterische Ahnung zwei Jahrtausende später wieder
erlauschte; es ist das letzte Gebet des ‚‚Doctor Marianus“:
Das Apfelpfücken vom Paradiesesbaum ist dem Feuerraub zu vergleichen,
das Zurückholen der Libido von der Mutter. (Vgl. die unten folgenden Erläu-
terungen zur spezifischen Tat des Helden.)
| 1) Das Verhältnis des Sohnes zur Mutter war die psychologische Grundlage
a Fri ai u christliche Legende ist die Beziehung des Sohnes zur Mutter
ee
diese Beziehung hetllieh un a ; kelayne ii Mean pi ion
Ur \ nes n Mythus hinweise, ‚wo ein
ei ee eg N amens J oschua, in den wechselnden Be-
eine natürliche BE fe OR, seen ii REIN UNE “
weichungen in den Mythen von Micha je En no en Re in M
vorkommt, die alle mit Muttergöttinnen Ki a je en) er
iner Gemahlin oder einer
weiblichen Doppelgängerin in Verbindung gebracht werden, insofern die Mutter
und Gemahlin gelegentlich identifiziert werden“.
Wandlungen und Symbole der Libido. 267
Blicket auf zum Retterblick
Alle reuig Zarten,
Euch zu seligem Geschick
Dankend umzuarten.
Werde jeder bess’re Sinn
Dir zum Dienst erbötig;
Jungfrau, Mutter, Königin,
Göttin, bleibe gnädig!
Es erhebt sich beim Anblick dieser Schönheit und Größe des Ge-
fühles eine prinzipielle Frage: ob nämlich die durch Religiosität kom-
pensierte primäre Tendenz als inzestuös nicht zu eng gefaßt sei. Ich
habe mich darum schon oben dahin ausgedrückt, daß ich den der Libido
entgegengesetzten Widerstand als ‚im Allgemeinen‘ mit dem Inzest-
verbot zusammenfallend betrachte. Ich muß die Definition des psy-
chologischen Inzestbegriffes noch offen lassen. Ich will aber hier her-
vorheben, daß es ganz besonders die Gesamtheit des Sonnenmythus
ist, welche uns dartut, daß die unterste Grundlage des ‚‚inzestuösen“
Begehrens nicht auf die Kohabitation, sondern auf den eigenartigen
Gedanken hinausläuft, wieder Kind zu werden, in den Elternschutz
zurückzukehren, in die Mutter hinein zu gelangen, um wiederum. von
der Mutter geboren zu werden. Auf dem Wege zu diesem Ziele steht
aber der Inzest, d. h. die Notwendigkeit, auf irgend einem Wege wieder
in der Mutter Leib hinein zu gelangen. Einer der einfachsten Wege
wäre, die Mutter zu befruchten und sich identisch wieder zu erzeugen.
Hier greift hindernd das Inzestverbot ein, daher nun die Sonnen-
oder Wiedergeburtsmythen von allen möglichen Vorschlägen wimmeln,
wie man den Inzest umgehen könnte. Ein sehr deutlicher Umgehungs-
weg ıst, die Mutter in ein anderes Wesen zu verwandeln oder zu ver-
jüngen!), um sie nach erfolgter Geburt (respektive Fortpflanzung)
wieder verschwinden, d. h. sich zurückverwandeln zu lassen. Es ist nicht
die inzestuöse Kohabitation, die gesucht wird, sondern die Wieder-
geburt, zu der man allerdings am ehesten durch Kohabitation gelangen
könnte. Dies ist aber nicht der einzige Weg, obschon vielleicht der
ursprüngliche. Das Hindernis des Inzestverbotes macht die Phantasie
erfinderisch: z. B. wird versucht, durch Befruchtungszauber die Mutter
schwanger zu machen (Anwünschen eines Kindes). Versuche in dieser
Hinsicht bleiben natürlich im Stadium mythischer Phantasien stecken.
!) Rank hat dies im Schwanjungfraumythus an schönen Beispielen gezeigt.
Die Lohengrinsage. Schriften zur angewandten Seelenkunde. !
268 ©. @. Jung.
Einen Erfolg aber haben sie, und das ist die Übung der Phantasie,
welche allmälich eben durch die Schaffung von phantastischen Mös-
lichkeiten Bahnen herstellt, auf denen die Libido sich betätigend,
abfließen kann. So wird die Libido auf unmerkliche Weise
geistig. Die Kraft, ‚die stets das Böse will“, schafft so geistiges Leben.
Daher in den Religionen dieser Weg nunmehr zum System erhoben ist,
Es ist darum überaus lehrreich, zu sehen, wie die Religion sich bemüht,
dieses symbolische Übersetzen zu fördern!). Ein treffliches Beispiel
in dieser Hinsicht gibt uns das Neue Testament: Im Gespräch über
die Wiedergeburt kann sich Nikodemus?) nicht enthalten, die Sache
sehr real aufzufassen:
„Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er ein Greis ist? Kann
er denn in den Leib seiner Mutter zum zweitenmal eingehen und geboren
werden?“
Jesus strebt aber danach, die sinnliche Anschauung des ın
materialistischer Schwere dämmernden Geistes des Nikodemus läuternd
zu erheben und verkündet ihm — im Grunde genommen das Gleiche —
und doch nicht das Gleiche:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, wenn einer nicht geboren wird
aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich des Himmels eingehen.
Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geiste
geboren ist, ist Geist. Wundere dich nicht, daß ich dir gesagt habe: ihr
müßt von oben her geboren werden. Der Wind weht, wo er will, und du
hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht;
so ist es mit jedem, der da aus dem Geiste geboren ist.‘
Aus dem Wasser geboren sein heißt immer nur: aus dem Mutter-
leıb geboren sein. Vom Geist: heißt vom befruchtenden Windhauch;
!) Muther (Geschichte der Malerei, Bd. II) sagt im Kapitel Die ersten
spanischen Klassiker: „Tieck schreibt einmal: ‚Wollust ist das große Geheimnis
unseres Wesens. Sinnlichkeit ist das erste bewegende Rad in unserer Maschine.
Sie wälzt unser Dasein von der Stelle und macht es froh und lebendig. Alles,
was wir als schön und edel träumen, greift hier hinein. Sinnlichkeit und Wollust
sind der Geist der Musik, der Malerei und aller Künste. Alle Wünsche der
Menschen fliegen um diesen Pol, wie Mücken um das brennende Licht. Schönheits-
sinn und Kunstgefühl sind nur andere Dialekte und Aussprachen. Sie bezeichnen
nichts weiter als den Trieb des Menschen zur Wollust. Ich halte selbst die Andacht
für einen abgeleiteten Kanal des Sinnentriebes.‘ Hier ist ausgesprochen, was
man bei der Beurteilung der alten Kirchenkunst niemals vergessen darf: das
Streben, die Grenzen zwischen irdischer und himmlischer Liebe zu verwischen,
die eine unmerklich in die andere überzuleiten, ist jederzeit der leitende Gedanke,
das stärkste Agitationsmittel der katholischen Kirche gewesen.“
2) Joh. 3, 3 ft.
Wandlungen und Symbole der Libido. 269
darüber belehrt uns auch der griechische Text, wo Geist und Wind
durch dasselbe Wort zveüua gegeben sind: zö yeyevrnu&vov Ex ns
000x0S 0608 Eotıv, nal TO yeyevvnuEvov Ex TOD ıvsduarog nveuud 2Zotıv. —
To nvevua Önov Belsı ıvel USW.
Diese Symbolik wird vom gleichen Bedürfnis getragen wie
die ägyptische Legende vom Geier, dem Muttersymbol, daß er nur
weiblich sei und vom Winde befruchtet werde. Man erkennt als
Grundlage dieser mythologischen Behauptungen ganz klar die ethische
Forderung: Du sollst von der Mutter sagen, sie werde nicht
von einem Manne auf gewöhnliche, sondern von einem
Hauchwesen auf ungewöhnliche Art befruchtet.Diese Forderung
steht in einem strikten Gegensatz zur realen Wahrheit, daher der Mythus
ein passender Ausweg ist: man sagt: es sei ein Heros gewesen, der ge-
storben und auf eine merkwürdige Weise wieder geboren sei und so
die Unsterblichkeit erlangt habe. Das Bedürfnis, das diese Forderung
aufstellt, ist offenkundig ein Verbot gegen eine bestimmte Phantasie
über die Mutter: ein Sohn darf natürlich denken, daß ein Vater ihn
auf fleischlichem Weg erzeugt habe, nicht aber, daß er selber
die Mutter befruchte und so, sich selber gleich, zu neuer
Jugend wieder gebären lasse. Diese inzestuöse Phantasie, die
aus irgend welchen Gründen eine ungemeine Stärke besitzt!) und daher
als gebieterischer Wunsch auftritt, wird verdrängt und im Bewußtsein
durch die obige Forderung, sich (unter gewissen Bedingungen) über
das Geburtsproblem symbolisch auszudrücken, nämlich immer dann,
wenn es die eigene Wiedergeburt aus der Mutter betrifft. In der Auf-
forderung Jesu an Nikodemus erkennen wir klar diese Tendenz:
„denke nicht fleischlich, sonst bist du Fleisch, sondern denke symbolisch,
dann bist du Geist“. Es ist evident, wie ungemein erzieherisch und
wie fördernd dieser Zwang zum Symbolischen sein kann: Nikode mus
bliebe in platter Alltäglichkeit stecken, wenn es ihm nicht gelänge,
symbolisch sich über seinen verdrängten Inzestwunsch zu erheben.
Als ein richtiger Bildungsphilister spürt er wahrscheinlich auch kein
zu großes Verlangen nach dieser Anstrengung, denn dieMenschenscheinen
sich im wesentlichen damit zu begnügen, die inzestuöse Libido
zu verdrängen und im besten Falle durch einige bescheidene Religions-
!) Wir wollen hier die Gründe für die Stärke dieser Phantasie nicht dis-
kutieren. Es scheint mir aber nicht schwierig zu sein, nachzufühlen, was für
Mächte hinter der obigen Formel stecken.
270 C. @. Jung.
übungen zu betätigen. Es scheint aber anderseits wichtig zu sein,
daß der Mensch nicht einfach verziehtet und verdrängt und damit
im inzestuösen Verhältnis doch stecken bleibt, sondern daß er jene
Triebkräfte, die im Inzestuösen gebunden liegen, zurückhole, um damit
sein Bestes zu tun; denn der Mensch bedarf seiner ganzen Libido, um
die Grenzen seiner Persönlichkeit auszufüllen, und dann erst wird er
imstande sein, sein Bestes zu tun. Den Weg, wie der Mensch seine
inzestuös gebundene Libido doch zur Betätigung bringen kann,
scheinen die religiös-mythologischen Symbole gewiesen zu haben.
Deshalb belehrt Jesus den Nikodemus: ‚‚Du sollst an deinen Inzestuösen
Wunsch der Wiedergeburt denken, jedoch sollst du denken, du werdest
aus dem Wasser, durch den Windhauch gezeugt!), wiedergeboren und
so des ewigen Lebens teilhaft werden.‘ So kann die Libido, die untätig
im inzestuösen Wunsch gebunden liegt, unterdrückt und in Angst
vor dem Gesetz und dem rächenden Vatergott, durch das Symbol
der Taufe (Geburt aus dem Wasser) und der Zeugung durch das Symbol
der Ausgießung des Heiligen Geistes, hinüber in die Sublimierung ge-
leitet werden. So wird der Mensch wieder ein Kind?) und hineingeboren
in einen Geschwisterkreis, aber seine Mutter ist die ‚Gemeinschaft
der Heiligen“, die Kirche, und sein Geschwisterkreis die Menschheit,
mit der er im gemeinsamen Erbteil uralter Symbole sich aufs neue
verbindet. Es scheint, daß dieser Prozeß jener Zeit, in der das Christen-
tum entstanden ist, besonders nötig war, denn jene Zeit hatte infolge
der unglaublichen Gegensätze zwischen dem Sklaventum und der
Freiheit des Bürgers und Herrn jenes Bewußtsein der Zusammen-
gehörigkeit der Menschen gänzlich verloren. Wohl einer der nächsten
und wesentlichsten Gründe für die energische Infantilregression im
Christentum, welche Hand in Hand geht mit der Wiederbelebung des
Inzestproblems, ist in der weitgehenden Entwertung des Weibes zu
suchen. Zu jener Zeit war die Sexualität dermaßen leicht zugänglich,
daß die Folge davon nur eine ganz außerordentliche Entwertung des
Sexualobjektes sein konnte. Daß es Persönlichkeitswerte gibt, war eben
erst durch das Christentum zu entdecken, und: viele Menschen haben es
heutzutage noch nicht entdeckt. Die Entwertung des Sexualobjektes aber
‘) Lactantius sagt: ‚‚Wenn alle wissen, daß gewisse Tiere die Gewohnheit
haben, durch den Wind und Lufthauch zu empfangen, weshalb sollte jemand
es für wunderbar halten, wenn behauptet wird, eine Jungfrau sei durch den Geist
Gottes geschwängert worden?“ Robertson: Evang. Myth., S. 31.
”) Daher die starke Betonung der Kindschaft im Neuen Testament.
Wandlungen und Symbole der Libido. 271
verhindert die Ausfuhr derjenigen Libido, welche nicht mit sexueller Be-
tätigung gesättigt werden kann, weil sie einer bereits desexualisierten,
höheren Ordnung angehört. (Wäre dem nicht so, so könnte ein Don
Juan nie neurotisch sein, das Gegenteil aber ist der Fall.) Denn wie:
sollten jene höheren Schätzungen einem verächtlichen, wertlosen
Objekt gegeben werden? Deshalb macht sich die Libido auf die Suche
nach dem schwer erreichbaren, verehrten, vielleicht unerreichbaren
Ziele, nachdem sie schon zu lange ‚‚Helenen gesehen hat in jenem
Weibe‘, und als dieses Ziel stellt sich dem Unbewußten die Mutter
dar. Daher erheben sich dort wieder in erhöhtem Maße auf Inzest-
widerständen beruhende symbolische Bedürfnisse, welche bald die
schöne, sündige Götterwelt des Olymps in schwer verständliche, traum-
haft dunkle Mysterien verwandeln, welche mit ihren Symbolhäufungen
und dunkel beziehungsreichen Sprüchen das religiöse Empfinden
jener römisch-hellenistischen Welt uns so fern rücken.
Wenn wir sehen, wie sehr sich Jesus bemüht, dem Nikodemus
die symbolische Auffassung der Dinge, d.h. eigentlich eine Verdrängung
und Verschleierung des wirklichen Tatbestandes annehmbar zu machen,
und wie bedeutsam es für die Geschichte der Zivilisation überhaupt.
war, daß in dieser Weise gedacht wurde und noch gedacht wırd, dann
verstehen wir die Empörung, die sich allerorten erhebt gegen die psycho-
analytische Aufdeckung der wahren Hintergründe der neurotischen
oder normalen Symbolik. Immer und überall stößt man auf das odiose
Kapitel der Sexualität, die sich jedem rechtschaffenen Menschen von
heutzutage als etwas Beschmutztes darstellt. Es sind aber keine 2000.
Jahre vergangen, seitdem der religiöse Kult der Sexualität mehr oder
weniger offen in hoher Blüte stand. Allerdings waren das ja Heiden
und wußten es nicht besser. Aber die Natur der religiösen Kräfte ändert:
sich nicht von Säkulum zu Säkulum; wenn man sich einmaleinen tüchtigen
Eindruck geholt hat vom Sexualgehalt antiker Kulte und wenn man
sich vorstellt, daß das religiöse Erlebnis, nämlich die Vereinigung mit
dem Gott!) vom Altertum als ein mehr oder weniger konkreter Koitus
aufgefaßt wurde, dann kann man sich wahrhaftig nicht mehr einbilden,
daß die Triebkräfte der Religion post Christum natum nun plötzlich
ganz andere geworden seien; es ist dort genau so gegangen, wie mit.
der Hysterie, die zuerst irgend eine nicht besonders schöne, kindliche
1) Das mystische Fühlen der Gottesnähe, das sogenannte persönliche:
innere Erlebnis.
272 ©. G. Jung.
Sexualbetätigung pflegte, und nachher eine hyperästhetische Ablehnung
entwickelt, so daß jedermann sich von ihrer besonderen Reinheit über-
zeugen läßt. Das Christentum mit seiner Verdrängung des
manifest Sexuellen ist das Negativ des antiken Sexual-
kultus. Der ursprüngliche Kultus hat sein Vorzeichen geändertt).
Man muß nur einmal gesehen haben, wieviel vom fröhlichen Heiden-
tum, darunter sogar unanständige Götter mit in die christliche Kirche
hinübergewandert sind: So feierte der alte indezente Priapus ein
fröhliches Auferstehungsfest in 8. Tychon?), ebenso zum Teil in den
Ärzten SS. Kosmas und Damian, die sich huldvollst Membra virılıa
in Wachs an ihrem Feste weihen lassen?). Auch taucht S. Phallus alten
Angedenkens wieder auf, um sich in ländlichen Kapellen verehren
zu lassen; vom übrigen Heidentum ganz zu schweigen! Wer es noch
nicht gelernt hat, die Sexualität als eine neben dem Hunger als gleich-
berechtigte Funktion anzuerkennen, und es deshalb als eine Ent-
würdigung empfindet, daß gewisse Tabuinstitutionen, die als asexuale
Refugia galten, als von sexueller Symbolik strotzend erkannt werden,
der wird den Schmerz erleben müssen, klar einzusehen, daß dem trotz
größter Empörung doch so ist. Man muß verstehen lernen, daß das
psychoanalytische Denken eben gerade, der bisherigen Denkgewohnheit
entgegenlaufend, jene Symbolbildungen, die durch unzählige Über-
arbeitungen immer komplizierter wurden, wieder zurückdenkt. Damit
wird eine Reduktion vorgenommen, die, wenn es sich um etwas anderes
handelte, intellektuell erfreute, hier aber nicht nur ästhetisch, sondern
scheinbar auch ethisch sich unangenehm anfühlt, indem die hier zu
überwindenden Verdrängungen durch unsere besten Absichten zustande
gekommen sind. Wir müssen anfangen unsere Tugendhaftigkeit zu
überwinden, mit der sicheren Befürchtung auf der andern Seite in die
Schändlichkeit hineinzufallen. Dem ist nun gewiß so, indem die große
Tugendhaftigkeit immer innerlich kompensiert ist durch eine große
Neigung zur Schändlichkeit, und wie viele Lasterhafte gibt es, die
eine süßliche Tugend und moralischen Größenwahn innerlich bewahren?
Beide Kategorien von Menschen entpuppen sich als Snobs, wenn sie
mit der analytischen Psychologie in Berührung kommen, denn der
‘) Die sexuelle Süßlichkeit macht sich aber doch noch überall bemerkbar,
in der Lämmersymbolik und den geistlichen Liebesliedern’an Jesum, den Seelen-
bräutigam.
°) Usener: Der heilige Tychon, 1907.
°) Vgl. W. P. Knight: Worship of Priapus,
Wandlungen und Symbole der Libido, | 273
Moralische hat sich ein objektives und billiges Urteil über die Sexualität
eingebildet und der Unmoralische hat ganz vergessen, einmal ein-
zusehen, wie gemein er sich eigentlich mit seiner Sexualität benimmt .
und wie unfähig er einer selbstlosen Liebe ist. Man vergißt ganz, daß
man sich nicht nur von einem Laster in jämmerlicher Weise kann
hinreißen lassen, sondern auch von einer Tugend. Es gibt eine frenetische,
orgiastische Tugendhaftigkeit, die ebenso schändlich ist und ebenso
viele Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten nach sich zieht wie
das Laster.
In eimer Zeit, wo ein großer Teil der Menschheit anfängt das
Christentum wegzulegen, lohnt es sich wohl, klar einzusehen, wozu
man es eigentlich angenommen hat. Man hat es angenommen, um der
Roheit der Antike endlich zu entkommen. Legen wir es weg, so steht
schon wieder die Ausgelassenheit da, von der uns ja das Leben in
modernen Großstädten einen eindrucksvollen Vorgeschmack gibt. Der
Schritt dorthin ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Es geht
wie beim einzelnen, der eine Übertragungsform ablegt und keine
neue hat, er wird unfehlbar regressiv den alten Übertragungsweg
wieder besetzen, zu seinem größten Nachteil, denn die Umwelt hat
sich seitdem wesentlich verändert. Wer also von der historischen und
philosophischen Haltlosigkeit der christlichen Dogmatik und der reli-
giösen Leere eines historischen Jesus, von dessen Person wir nichts
wissen und dessen religiöser Gehalt zum Teil talmudische, zum Teil
hellenistische Weisheit ist, abgestoßen, das Christentum und damit
die christliche Moral weglegt, der steht allerdings vor dem antiken
Problem der Ausgelassenheit. Heutzutage fühlt sich der Einzelne
noch durch die. öffentliche hypokritische Meinung gehemmt und zieht
es daher vor, ein geheimes Separatleben zu führen, öffentlich aber
Moral darzustellen; anders aber könnte es kommen, wenn man all-
gemein die moralische Maske einmal zu dumm fände, und die Menschen
sich bewußt würden, wie gefährlich ihre Bestien aufeinander lauern,
dann könnte wohl ein Rausch der Entsittlichung über die Menschheit
gehen — das ist der Traum, der Wunschtraum des moralisch Be-
schränkten von heutzutage: er vergißt die Not, die dem Menschen
den Atem raubt und die mit harter Hand jeden Taumel unterbräche.
Man darf mir nicht die Gedankenlosigkeit zumuten, daß ich durch die
analytische Reduktion die Libido quasi wieder auf primitive, fast
überwundene Stufen zurückversetzen wolle und ganz vergäße, was
dann für eine furchtbare Misere über die Menschen käme — gewiß
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. IV. 18
274 C. G. Jung.
werden sich einzelne durch die antike Raserei der von der Schuldlast
befreiten Sexualität hinreißen lassen, zu ihrem eigenen größten Schaden;
es sind aber solche, die unter anderen Umständen bloß auf andere Weise
vorzeitig untergegangen wären — ich kenne aber das wirksamste und
unerbittlichste Regulativ der menschlichen Sexualität: es ist die Not.
Mit diesem Bleigewicht wird die menschliche Lust nie zu hoch fliegen.
Es gibt heutzutage zahllose Neurotische, die es einfach darum sind,
weil sie nicht wissen, warum sie eigentlich nicht auf ihre eigene Fagon
selig werden dürfen; sie wissen auch nicht einmal, daß es ihnen daran
fehlt. Und außer diesen Neurotischen gibt es noch viel mehr Normale —
und zwar Menschen von besserer Sorte — die sich beengt und unzufrieden
fühlen. Für alle diese soll die Reduktion auf die sexuellen Elemente
vorgenommen werden, damit sie in den Besitz ihrer primitiven Per-
sönlichkeit gelangen, daß sie sie würdigen lernen und wissen, wie und
wo sie in Rechnung einzustellen ist. Auf diese Weise allein kann es
geschehen, daß gewisse Forderungen erfüllt, andere aber als unbillig,
weil infantil, erkannt und zurückgewiesen werden. Auf diese Weise
soll der einzelne verstehen lernen, daß gewisse Dinge so zu opfern sind,
daß man sie tut, aber auf einem andern Gebiet. Wir bilden uns
ein, wir hätten auf unsere Inzestwünsche längst verzichtet, sie ge-
opfert, abgeschnitten und es existiere nichts mehr davon: daß dem
aber nicht so ist, sondern daß wir den Inzest unbewußterweise auf
anderen Gebieten begehen, kommt uns nicht bei. In den religiösen
Symbolen z. B. wird der Inzest begangen!). Wir hielten die inzestuösen
Wünsche für verschwunden und verloren und entdecken sie in der
Religion in voller Tätigkeit. Dieser Umformungsprozeß ist in säkularer
Entwicklung unbewußt erfolgt. Wenn ich früher (I. Teil) bemerkte,
daß eine derartige unbewußte Umformung der Libido eine ethisch
wertlose Pose sei, und dem gegenüber das Christentum der römischen
Urzeit stellte, von dem es klar ist, gegen welche Mächte der Sitten-
losigkeit und Verrohung es stand, so müßte ich hier sagen: was die
Sublimierung der inzestuösen Libido anbelangt, so ist auch der Glauben
an das religiöse Symbol kein ethisches Ideal mehr, denn es ist eine
unbewußte Umformung des Inzestwunsches in Symbolhandlungen
und Symbolvorstellungen, die den Menschen quasi hinüber betrügen,
so daß ihm der Himmel als ein Vater erscheint und die Erde als Mutter
und die Menschen darauf als Kinder und Geschwister. So kann der
‘) Oder in den Ersatzbildungen, die an Stelle der Religion treten.
Wandlungen und Symbole der Libido. 275
Mensch doch allezeit Kind sein, seme Inzestwünsche befriedigen, ohne
daß er es weiß. Dieser Zustand wäre unzweifelhaft ideal!), wenn er
nicht kindlich und infolgedessen ein bloß einseitiger Wunsch wäre,
der kindlich erhält. Der Revers ist die Angst. Man spricht zwar
immer von dem frommen Menschen, der nie erschüttert in seinem
Gottvertrauen unentwegt sicher und beseligt durch die Welt gehe —
ich habe diesen Chidher noch nie gesehen. Er dürfte wohl eine Wunsch-
firur sein. Die Regel ist die große Unsicherheit der Gläubigen, die sie
mit fanatischem Geschrei bei sich selber und bei anderen übertönen,
ferner der Glaubenszweifel, die moralische Unsicherheit, die Bezweiflung
der eigenen Persönlichkeit, das Schuldgefühl und zu allerunterst die
große Angst vor der ganzen andern Wirklichkeitsseite, gegen die auch
höchst intelligente Menschen sich mit aller Kraft sträuben. Diese andere
Seite ist der Teufel, der Widersacher oder — moderner ausgedrückt —
die Realitätskorrektur des durch das prävalierende Lustprinzip?)
schmackhaft gemachten infantilen Weltbildes. Die Welt aber ist kein
Garten Gottes, des Vaters, sondern auch ein Ort des Grauens. Nicht
nur ist der Himmel kein Vater und die Erde keine Mutter und die
Menschen sind nicht Geschwister, sondern sie repräsentieren auch
ebenso viel feindliche, zerstörende Mächte, denen wir um so sicherer
ausgeliefert sind, je vertrauensvoller und gedankenloser wir uns der
sogenannten Vaterhand Gottes anvertrauen. Man darf nie das harte
Wort des ersten Napoleon vergessen, daß der liebe Gott immer auf
Seite der besseren Artillerie sei.
Der religiöse Mythus tritt uns aber hier als eine der größten
und bedeutsamsten menschlichen Institutionen entgegen, welche mit
täuschenden Symbolen dem Menschen doch die Sicherheit und Kraft
geben, vom Ungeheuern des Weltganzen nicht erdrückt zu werden.
Das Symbol, vom Standpunkt des real Wahren aus betrachtet, ist
zwar täuschend, aber es ist psychologisch wahr?), denn es war und
ist die Brücke zu allen größten Errungenschaften der Menschheit.
1) Der Zustand war unzweifelhaft ideal für frühere Zeiten, wo der Mensch
überhaupt infantiler war, und ist es jetzt noch für denjenigen Teil der Menschheit,,
der infantil ist; wie groß ist dieser Teil?
2) Vgl. Freud: Dieses Jahrbuch, Bd. III, S. 1 ff.
3) Wir bewegen uns hier, was nicht zu vergessen ist, ganz im Gebiete der
Psychologie, der bekanntlich keinerlei transzendente Bedeutung weder in positiver
noch in negativer Beziehung zukommt. Es handelt sich hier um ein schonungs-
loses Wahrmachen des durch Kant fixierten erkenntnistheoretischen Stand-
18*
276 C. G. Jung.
Es ist aber keineswegs gesagt, daß dieser unbewußte Weg der
Umformung des Inzestwunsches in Religionsübung der einzige oder
einzig mögliche wäre. Es gibt auch eine bewußte Anerkennung und
Einsicht, mit der wir uns jener im Inzest gebundenen, in Religionsübung
transformierten Libido bemächtigen können, so daß wir des Stadiums
der religiösen Symbolik zu diesem Zweck nicht mehr bedürfen. Es
wäre denkbar, daß man nicht mehr ‚‚um Christi willen“ dem Neben-
menschen etwas Gutes erweist, sondern aus der Einsicht, daß die
Menschheit, also auch wir, nicht bestehen könnten, wenn in der Herde
sich der eine nicht für den andern opfern könnte. Das wäre der
Weg der sittlichen Autonomie, der vollkommenen Freiheit,
wenn der Mensch ohne Zwang das wollen könnte, was er
doch tun muß, und das aus Einsicht, ohne Täuschung durch den
punktes nicht bloß für die Theorie, sondern, was wichtiger ist, auch für die Praxis.
Man soll auch nieht mehr dergleichen tun und infantiles Weltbild spielen wollen,
da all dies nur geeignet ist, den Menschen seinem eigentlichen und höchsten
ethischen Ziele, der sittlichen Autonomie, zu entfremden. Das religiöse Symbol
ist nach unvermeidlicher Abstreichung gewisser antiquierter Stücke als Postulat
oder als transzendente Theorie und auch als Lehrgegenstand wohl beizu-
behalten, aber in dem Maße mit neuem Inhalte zu erfüllen, wie es der derzeitige
Stand des Kulturstrebens erfordert. Diese Theorie darf aber für den ‚‚erwachsenen“
Menschen nicht zum positiven Glauben, zur Illusion werden, die ihm die Wirk-
lichkeit in täuschenden Beleuchtungen erscheinen läßt. Wie der Mensch ein zwie-
faches Wesen ist, nämlich ein Kultur- und ein Tierwesen, so scheint er auch zweierlei
Wahrheit zu bedürfen, der Kulturwahrheit, d. h. der symbolistischen, trans-
zendenten Theorie, und der Naturwahrheit, welche unserem Begriffe des ‚,‚real
Wahren‘“ entspricht. In demselben Maße, wie die reale Wahrheit eine bloß figür-
liche Ausdeutung der Realitätsapperzeptionen ist, ist auch die religiös-symbolische
Theorie bloß eine figürliche Ausdeutung gewisser endopsychischer Apperzeptionen.
Ein ganz wesentlicher Unterschied ist es aber, daß der transsubjektiven Wirk-
lichkeit eine transzendentale Unterlage unabhängig in Dauer und Bestand durch
die denkbar besten Garantien zugesichert ist, während den psychologischen
Phänomenen eine transzendentale Unterlage von subjektiver Beschränkung und
Hinfälligkeit infolge zwingender empirischer Data zuerkannt werden muß. Daher
ist die reale Wahrheit das relativ universell Gültige, die psychologische Wahrheit
dagegen ein bloß funktionelles Phänomen innerhalb einer menschlichen Kultur-
epoche. So will es dem bescheideneren Standpunkt des Empirikers heute scheinen.
Gelänge es hingegen auf einem mir unbekannten und unerwarteten Wege, das
Psychologische seines Charakters eines biologischen Epiphänomens zu entkleiden
und ihm dafür die Stellung einer physikalischen Entität anzuweisen, so wäre
die psychologische Wahrheit in die reale Wahrheit aufzulösen oder vielmehr
umgekehrt, da dann das Psychologische hinsichtlich der endgültigen Theorie
einen größeren Wert, seiner Unmittelbarkeit wegen, beanspruchen müßte.
Wandlungen und Symbole der Libido. 277
Glauben an die religiösen Symbole. Das, was uns innerhalb eines
positiven Glaubens an einen religiösen Mythus infantil und daher ethisch
minderwertig erhält, ist diese Täuschung, die zwar kulturhistorisch
von denkbar größter Bedeutung und ästhetisch von unvergänglicher
Schönheit ist, aber dem nach sittlicher Autonomie strebenden Menschen
ethisch nicht mehr genügen kann.
Das infantile und sittlich Gefährdende ist der Glauben an
das Symbol, indem wir die Libido dadurch auf eine illusorische Realität
leiten. Das einfache, leugnerische Weglegen des Symbols ändert nichts,
denn die ganze geistige Disposition bleibt dieselbe, wir nehmen uns
nur das gefährliche Objekt weg. Das Objekt aber ist nicht gefährlich,
sondern unsere infantile Geistesdisposition ist es, der zu Liebe wir
durch das einfache Weglegen des religiösen Symbols etwas sehr Schönes
und Sinnreiches verloren haben. Ich denke, der Glaube sollte durch
das Verstehen ersetzt werden, so behalten wir die Schönheit
des Symbols und sind doch frei von den niederdrückenden Folgen
der Unterwerfung im Glauben. Dieses wäre wohl die psychoanalytische
Heilung des Glaubens und des Unglaubens. |
Die der Vision der Stadt folgende ist die eines ‚‚seltsamen Nadel-
holzbaumes mit knorrigen Ästen“.
Diese Vision mutet uns nicht fremdartig an nach all dem, was
wir bereits vom Lebensbaum und seiner Assoziation mit Stadt und
Lebenswasser vernommen haben. Dieser besondere Baum scheint
die Kategorie der Muttersymbole einfach fortzusetzen. Das Attribut
„‚seltsam‘‘ wird wohl, wie in Träumen, eine besondere Hervorhebung
ausdrücken, d. h. ein besonderes unterliegendes Komplexmaterial.
Leider gibt uns die Autorin kein individuelles Material dazu. Da nun
durch die Weiterentwicklung der Millerschen Visionen der schon
in der Symbolik der Stadt angedeutete Baum hier besonders hervor-
gehoben wird, so sehe ich mich genötigt, noch ein weiteres Stück aus
der Symbolgeschichte des Baumes vorzubringen.
Bekanntlich haben die Bäume in Kultus und Mythus von jeher
eine große Rolle gespielt. Der typische Mythenbaum ist der Paradieses-
oder Lebensbaum, den wir babylonisch reichlich belegt finden, ebenso
jüdisch, neben — und vorchristlich in der Fichte des Attis, dem Baum
oder den Bäumen des Mithras, germanisch in Yggdrasill usw. Das
Aufhängen des Attisbildes an einer Fichte, das Aufhängen des Marsyas,
das ein berühmtes künstlerisches Motiv wurde, das Hängen Odins,
278 C. G. Jung.
die germanischen Hängeopfer, die ganze Reihe der gehängten Götter
belehren uns, daß das Hängen Christi am Kreuzesbaum nicht etwas Ein-
maliges in der religiösen Mythologie ist, sondern in denselben Vorstellungs-
kreis wie die übrigen hineingehört. In dieser Anschauungsweltistdas Kreuz
Christi der Lebensbaum und zugleich das Todesholz. Dieser Gegensatz ist
nicht erstaunlich. So wie man legendär die Abstammung des Menschen
aus Bäumen behauptete, so bestanden auch Bestattungsgebräuche,
wonach man die Menschen in hohlen Bäumen bestattete, daher die
deutsche Sprache bis jetzt den Ausdruck ‚‚Totenbaum” für Sarg auf-
bewahrte. Wenn wir nicht vergessen wollen, daß der Baum ein über-
wiegendes Muttersymbol ist, so kann uns der mythische Sinn dieser
Bestattungsweise keineswsgs unverständlich sein. Der Tote wird
der Mutter übergeben zur Wiedergeburt. Wir treffen dieses
Symbol in der von Plutarch!) überlieferten Osirismythe, die über-
haupt in verschiedenen Hinsichten vorbildlich ist. Rhea ist mit Osiris
schwanger, zu gleicher Zeit auch mit Isis; Osiris und Isis begatten sich
schon im Mutterleib. (Motiv der ‚Nachtmeerfahrt‘‘ mit Inzest.) Ihr Sohn
ist Arueris, später Horus genannt. Von Isis heißt es, sie sei im „ganz
Feuchten“ geboren (teragrn d& T7v” Ioıv &v navbyooıs yev&odaı); von Osiris
heißt es, ein gewisser Pamyles in Theben habe beim Wasserschöpfen
eine Stimme aus dem Zeustempel gehört, die ihm befahl, zu verkündigen,
daß der ueyas Baoıleds ebepy&ıns ”Ovıgıs geboren sei. Diesem Pamyles
zu Ehren wurden die Pamylien gefeiert, die den Phallophorien
ähnlich seien. Pamyles ist also, ähnlich wie der ursprüngliche Dionysos,
ein phallischer Dämon: der Mythus heißt also reduziert: Osiris und
Isis werden vom Phallus aus dem Wasser — Mutterleib gezeugt, also
auf ganz gewöhnliche Weise. (Kronos hat die Rhea geschwängert,
die Beziehung war heimlich, und Rhea seine Schwester. Helios aber
beobachtete sie und verfluchte ihre Vermischung.) Osiris wird durch
den Unterweltgott Typhon listigerweise durch Einschließen in eine
Lade getötet; diese wurde auf dem Nil ausgesetzt und so ins Meer
hinaus gesandt. Osiris aber begattet sich in der Unterwelt mit seiner
zweiten Schwester N ephthys (Motiv der Nachtmeerfahrt mit Inzest).
Man sieht, wie hier die Symbolik entwickelt ist: Im Mutterleib vor dem
extrauterinen Dasein begeht Osiris den Inzest, im Tode, dem zweiten
intrauterinen Dasein, begeht Osiris wieder Inzest. Beide Male mit
einer Schwester, die einfach für die Mutter eingesetzt ist als legales,
!) De Isid. et Osir.
Wandlungen und Symbole der Libido. 279
unzensuriertes Symbol, da die Schwesterehe im frühen Altertum nicht
nur bloß geduldet, sondern eigentlich vornehm war. Zarathustra empfahl
sogar die Verwandtenehe. Diese Mythenform wäre also heutzutage
unmöglich, da Kohabitation mit der Schwester als inzestuös der Ver-
drängung unterläge.
Der böse Typhon lockt mit List Osiris in die Lade oder Kiste:
Diese Verdrehung des wirklichen Tatbestandes ist durchsichtig: Das
anfänglich ‚Böse‘ im Menschen will wieder in die Mutter zurück, d.h.
die vom Gesetz verdammte inzestuöse Sehnsucht nach der Mutter
ist die angeblich von Typhon erfundene List. Sehr bezeichnend ist es
eine List: durch eine List will sich der Mensch wieder irgendwie zur
Wiedergeburt hindurchbetrügen, um von neuem Kind zu werden.
Ein früherer ägyptischer Hymnus!) erhebt sogar eine Anklage gegen
die Mutter Isis, daß sie den Sonnengott R& mit Verrat fälle: es wird
der Mutter als böser Wille ausgelegt, daß sie den Sohn ausgestoßen
und verraten habe. Der Hymnus beschreibt, wie Isis eine Schlange
formte, sie auf den Weg des R& legte und wie diese Schlange den
Sonnengott mit giftigem Bisse verwundete, vom welcher Wunde er nie
mehr genas, so daß er sich schließlich auf den Rücken der Himmelskuh
zurückziehen mußte. Die Kuh aber ist die kuhköpfige Göttin, wie
Osiris der Apis. Die Mutter wird angeklagt, wie wenn sie die Ursache
wäre, daß man sich zur Mutter flüchten müsse, um von der Wunde
zu genesen, die einem die Mutter geschlagen hat, dadurch daß der Inzest
verboten wurde?) und man abgeschnitten wurde von der hoffnungsvollen
Sicherheit der Kindheit und frühen Jugend, von all dem unbewußt
triebhaften Geschehen, welches das Kind leben läßt als ein seiner selbst
nicht bewußtes Anhängsel der Eltern. Es muß darin viel gefühlhafte
Erinnerung an das Tierzeitalter liegen, wo es noch kein ‚‚Du sollst“
und ‚Du darfst“ gab, sondern alles nur einfaches Geschehen war.
Noch scheint dem Menschen eine tiefe Erbitterung innezuwohnen,
daß ihn einstmals ein brutales Gesetz vom triebartigen Gewährenlassen
1) Erman: Ägypten, S. 360 £.
2) Ich muß auch hier wieder daran erinnern, daß ich mit dem Worte Inzest
mehr Bedeutung verbinde, als dem Terminus eigentlich zukäme. Wie Libido
das Vorwärtsstrebende ist, so ist etwa der Inzest das in die Kindheit Rückstrebende.
Für das Kind heißt es noch nicht Inzest; nur für den Erwachsenen, der eine
vollausgebildete Sexualität besitzt, wird dieses Rückstreben zum Inzest, indem
er kein Kind mehr ist, sondern eine Sexualität besitzt, die eigentlich keine regre-
dierende Applikation mehr erträgt.
280 ©. G. Jung.
und der großen Schönheit der in sich selbst harmonischen Tiernatur
trennte. Diese Trennung manifestierte sich wohl unter Anderm im Inzest-
verbot und seinen Korrelaten (Heiratsgesetze usw.), daher sich Schmerz
und Zorn auf die Mutter beziehen, wie wenn sie Schuld trüge an der
Domestikation des Menschensohnes. Um seines Inzestwunsches (seines
Rückstrebens zur Tiernatur) nicht bewußt zu werden, wirft der Sohn
alle schlimmste Schuld auf die Mutter, woraus das Bild der ‚‚furchtbaren
Mutter‘ entsteht!). Die Mutter wird ihm zum Angstgespenst, zum
Mar?).
Nach vollendeter Nachtmeerfahrt wird die Lade des Osiris bei
Byblos ans Land geworfen und kommt in die Zweige einer Erika zu
liegen, die den Sarg umwächst und zum herrlichen Baum emporgedeiht.
Der König des Landes ließ den Baum als eine Säule unter sein Dach
steilen®). In diese Zeit des Verlorenseins des Osiris (Wintersonnen-
wende) fällt die seit Jahrtausenden übliche Klage um den gestorbenen
Gott und seine eöosoıs ist ein Freudenfest. Ein Passus aus dem
klagenden Suchen der Isis ist besonders hervorzuheben: Sie flattert als
Schwalbe klagend um die Säule, die den im Tode schlafenden Gott
umschließt. (Dasselbe Motiv kehrt in der Kyffhäusersage wieder.)
Später zerstückelt Typhon die Leiche und zerstreut die Stücke.
Dem Zerstückelungsmotiv begegnen wir in zahlreichen Sonnen-
mythen®) als Umkehrung der Zusammensetzung des Kindes im Mutter-
leibe®). Tatsächlich sucht auch die Mutter Isis die Stücke des Leichnams
mit Hifle des schakalköpfigen Anubis zusammen. (Sie fand auch
!) Vgl. Frobenius: Das Zeitalter des Sonnengottes.
?) Vgl. die Nachtmarsagen, in denen der Mar ein schönes Weib ist.
°®) Was sehr an die in Astartetempeln aufgestellten phallischen Säulen
erinnert. Tatsächlich soll auch nach einer Version die Frau des Königs Astarte
geheißen haben. Dieses Symbol erinnert an die, passenderweise &yxöAnıa ge-
nannten Kreuze, die eine Reliquie in sich bergen.
*) Spielrein (dieses Jahrbuch, Bd. III, S. 358 ff.) weist bei einer dementen
Kranken zahlreiche Andeutungen des Zerstücklungsmotivs nach. Bruchstücke
von verschiedenen Dingen und Stoffen werden ‚‚gekocht‘‘ oder ‚‚verbrannt“.
‚Die Asche kann zum Menschen werden.‘ Patientin sah Kinder in Glassärgen
zerschlagen. Dem dort erwähnten ‚‚Waschen, Reinigen, Kochen, Verbrennen“
usw. kommt neben der Koitusbedeutung noch Schwangerschaftsbedeutung zu,
letzteres wahrscheinlich in überwiegendem Maße.
°) Letzte Abkömmlinge dieser uralten Kinderentstehungstheorie sind in
der Karmalehre enthalten, und das Bild von den Genen der Mendelschen Ver-
erbungstheorie liegt nicht zu fern ab. Man halte sich nur die subjektive Bedingtheit
alles Erkennens vor Augen.
Wandlungen und Symbole der Libido. 281
die Leiche mit Hilfe von Hunden.) Hier wurden die nächtlichen
Leichenfresser, die Hunde und Schakale, zur Mithilfe der Zusammen-
setzung, der Wiedererzeugung!). Dieser Funktion des Leichenfraßes
verdankt auch der ägyptische Geier seine Symbolbedeutung als
Mutter. In der persischen Urzeit warf man die Leichen hinaus, den
Hunden zum Fraße, wie heute noch in den indischen Leichentürmen
den Geiern die Beseitigung des Aases überlassen wird. Persien aber
kannte die Sitte, dem Sterbenden einen Hund ans Lager zu führen
und der Sterbende hatte ihm einen Bissen zu überreichen?). Die Sitte
will offenbar zunächst sagen, der Bissen soll dem Hund gehören, damit
er den Leib des Sterbenden verschone, ähnlich wie Cerberus be-
schwichtigt wird durch den Honigkuchen, den ihm Herakles bei der
Höllenfahrt überreicht. Wenn wir aber den schakalköpfigen Anubis,
der bei der Wiederzusammenstellung des zerstückelten Osiris seine
suten Dienste leistet, und die Mutterbedeutung des Geiers berück-
sichtigen, so drängt sich uns die Frage auf, ob nicht mit dieser Zeremonie
etwas Tieferes gemeint sei? Mit dieser Idee hat sich auch Creuzer?)
beschäftigt und ist zum Schluß gekommen, daß die astrale Form der
Hundezeremonie, nämlich das Erscheinen des Hundssternes zur Zeit _
des höchsten Sonnenstandes, damit in Zusammenhang stehe, daß näm-
lich das Herbeibringen des Hundes eine kompensatorische Bedeutung
habe, indem dadurch der Tod ganz im Gegenteil zum höchsten Sonnen-
stande gemacht werde. Dies ist durchaus psychologisch gedacht, wie
sich aus der ganz allgemeinen Tatsache ergibt, daß der Tod als Ein-
treten in den Mutterleib (zur Wiedergeburt) aufgefaßt wird. Dieser
Deutung durfte auch die sonst rätselhafte Funktion des Hundes im
Sacrificium mithriacum zu Hilfe kommen. An dem, von Mithras getöteten
Stier springt auf den Monumenten immer ein Hund auf. Nun ist aber
dieses Sacrificium sowohl durch die persische Legende wie durch die
Monumente auch als der Moment höchster Fruchtbarkeit auf-
gefaßt. Am schönsten kommt dies wohl zum Ausdruck auf dem pracht-
vollen Mithrasrelief von Heddernheim; auf der einen Seite einer
großen (ehemals wahrscheinlich drehbaren) Steinplatte befindet sich
die stereotype Niederwerfung und Opferung des Stieres, auf der andern
Seite stehen Sol mit einer Traube in der Hand, Mithras mit dem Füllhorn,
!) Demeter suchte die Glieder des zerrissenen Dionysos zusammen und
gebar den Gott darauf wieder.
?2) Vgl. Diodorus, III, 62.
®) Symbolik.
282 C. G. Jung.
die Dadophoren mit Früchten, entsprechend der Legende, daß aus dem
toten Weltstier alle Fruchtbarkeit hervorgeht, aus den Hörnern die
Früchte, aus dem Blut der Wein, aus dem Schwanz das Getreide,
aus seinem Samen die Rindergeschlechter, aus seiner Nase der Knob-
lauch usw. Über dieser Szene steht Silvanus mit den von ihm ent-
3 ka
ß z
&
a
Pi 2
”
E $
3
= 4
x
Die auf das mithrische Opfer folgende Fruchtbarkeit.
springenden Tieren des Waldes. In diesem Zusammenhang dürfte dem
Hund sehr wohl die von Creuzer vermutete Bedeutung zukommen!).
!) Ergänzungsweise ist noch anzufügen, daß der Kynokephalos Anubis als
Wiederhersteller der Osirisleiche (zugleich Genius des Hundssternes) eine kompen-
satorische Bedeutung hat. In dieser Bedeutung erscheint er auf vielen Sarko-
phagen. Der Hund ist auch ein ständiger Begleiter des heilenden Äskulap. Am
besten unterstützt folgende Petroniusstelle die Creuzersche Hypothese:
Wandlungen und Symbole der Libido. 283
Kehren wir nun zum ÖOsirismythus zurück! Trotz der von Isis
ins Werk gesetzten Wiederherstellung der Leiche gelingt die Wieder-
belebung insofern nur unvollständig, als der Phallus des Osiris nicht
wieder beigebracht werden kann, weil er von den Fischen gefressen
worden war; die Lebenskraft fehlt!). Osiris begattet zwar als Schatten
noch einmal Isis, die Frucht aber ist Harpokrates, der schwach war
an tois xdrwder yvloıs, an den unteren Gliedmaßen, d.h. entsprechend
der Bedeutung von yviov, an den Füßen. (Hier Fuß in phallischer
Bedeutung, wie klar ersichtlich.) Diese Unheilbarkeit der abtretenden
Sonne entspricht der Unheilbarkeit des R& in’ dem oben erwähnten
älteren ägyptischen Sonnenhymnus. Osiris, wenn auch .als Schatten,
rüstet nun die junge Sonne, seinen Sohn Horus, zum Kampfe mit
Typhon, dem bösen Geiste der Finsternis. Osiris und Horus entsprechen
dem eingangs erwähnten Vater-Sohn-Symbolismus, der wiederum
entsprechend der dortigen Aufstellung?) flankiert ist durch die wohl-
gebildete und häßliche Figur, nämlich Horus und Harpokrates, der
(Sat. c. 71.) Valde te rogo, ut secundum pedes statuae meae catellam pingas —
ut mihi contingat tuo beneficio post mortem vivere. (Cf. Nork, 1. c., s. v.
Hund.) Außerdem weist auf die mütterliche Wiedergeburtsbedeutung des Hundes
seine Beziehung zur hundeköpfigen Hekate, der Unterweltsgöttin, hin. Sie empfing
als Canicula Hundsopfer zur Fernhaltung der Pest. Ihre nahe Beziehung zu
Artemis als Mondgöttin läßt ihre Gegensätzlichkeit zur Fruchtbarkeit durch-
schimmern. Hekate ist auch die erste, die der Demeter Kunde vom geraubten
Kinde bringt. (Anubisrolle!) Ebenso empfing auch die Geburtsgöttin
Tlithyia Hundeopfer, und Hekate selber ist gelegentlich Hochzeits- und Ge-
burtsgöttin.
1) Frobenius (l. c., S. 393) macht die Bemerkung, daß den Feuergöttern
(den Sonnenhelden) häufig ein Glied fehle. Dazu gibt er folgende Parallele:
„Sowie der Gott dem Ogren (Riesen) hier einen Arm ausdreht, so dreht Odysseus
dem edlen Polyphem das Auge aus, worauf die Sonne dann geheimnisvoll am
Himmel emporkriecht. Sollte dies Feuerandrehen und das Armausdrehen in
einem Zusammenhange stehen?“ Diese Frage wird dadurch klar beleuchtet,
wenn wir annehmen, entsprechend dem Gedankengange der Alten, daß das Arm-
ausdrehen eigentlich eine Kastration ist. (Das Symbol des Beraubens der Lebens-
kraft.) Es ist ein Akt entsprechend der Attiskastration um der Mutter willen.
Aus diesem Verzichte, der eigentlich ein symbolischer Mutterinzest ist, entsteht
die Feuererfindung, wie wir oben bereits vermutet haben. Es ist übrigens zu
erwähnen, daß das Armausdrehen zunächst nur „Überwältigung“ bedeutet und
deshalb sowohl dem Helden wie seinem Gegner passieren kann. (Vgl. z. B. Fro-
benius l. c., S. 112 und 395.)
2) Vgl. besonders die Schilderung der Schale von Theben,
284 C. G. Jung.
meistens als Krüppel erscheint, oft bis zur Fratzenhaftigkeit ent-
stelltt). |
Er vermischt sich in der Tradition ganz mit Horus, mit dem er
auch den Namen gemeinsam hat. Hor-pi-chrud, wie sein eigentlicher
Name lautet?), setzt sich aus chrud= Kind und Hor (von dem
Adjektiv hri= auf, über, obenauf) zusammen und bedeutet das ‚‚oben-
aufkommende Kind“, als die steigende Sonne, gegenüber Osiris, der
die niedersteigende Sonne, die Sonne ‚im Westen‘ personifiziert.
So sind Osiris und Horpichrud oder Horus ein Wesen, bald Gatte,
bald Sohn derselben Mutter Hathor-Isis, Der Chnum-Rä, der Sonnen-
gott von Unterägypten, als Widder dargestellt, hat als weibliche Landes-
gottheit Hatmehit zur Seite, die den Fisch auf ihrem Haupte führt.
Sie ist die Mutter und Gattin des Bi-neb-did (Widder, Lokalname
des Chnum-Rä). Im Hymnus von Hibis?) wird Amon-Rä angerufen:
„Dein (Chnum-Widder) weilt in Mendes, vereinigt als Viergott ein
Thmuis. Er ist der Phallus, der Herr der Götter. Es freut sich der Stier
seiner Mutter an der Kuh (ahet, der Mutter) und der Mann befruchtet
durch seinen Samen.‘
In weiteren Inschriften®) wird Hatmehit direkt als ‚‚Mutter des
Mendes‘ bezeichnet. (Mendes ist die griechische Form von Bi-neb-did:
Widder). Sie wird auch angerufen als die ‚‚Gute‘“, mit dem Nebensinne
von ta-nofert, als ‚junges Weib“. Die Kuh als Muttersymbol findet
sich bei allen möglichen Formen und Abarten der Hathor-Isis und be-
sonders bei dem weiblichen Nun (parallel dazu die Urgöttin Nit oder
Neith), dem feuchten Urstoff, der, dem indischen Atmand) verwandt,
zugleich männlicher und weiblicher Natur ist. Nun wird daher ange-
rufen‘): „Amon“ das Urgewässer”), das als Anfang Seiende“.
‘) Herr Prof, Freud hat mir freundlichst mitgeteilt, daß eine weitere
Determinante für das Motiv der ungleichen Brüder in der elementaren Be-
obachtung der Geburt und Nachgeburt zu finden sei. Es ist eine exotische
Sitte, die Plazenta wie ein Kind zu behandeln!
) Brugsch: Rel. u. Mythol. d. alt. Ägypt., 8. 354.
®) Brugsch: ]. c., S. 310.
*) Brugsch: |. ce., S. 310.
5) Auch dem Ätman kommt im Bilde flüssige Qualität zu, insofern er
dem Purusha des Rigveda wesentlich identisch gesetzt werden darf. ‚‚Der Purusha
Per ringsum die Erde allerorten, zehn Finger hoch noch drüber hin zu
ießen.‘*
°) Brugsch: 1. e., S, 112 £f.
‘) In der Thebais, wo der Hauptgott Chnum ist, vertritt dieser in seiner
kosmogonischen Komponente den Windhauch, aus dem sich später der ‚‚über
Wandlungen und Symbole der Libido. 285
Er wird auch bezeichnet als der Vater der Väter, die Mutter der Mütter.
Dem entspricht die Anrufung der weiblichen Seite des Nun-Amon,
der Nit oder Ne&ith:
„Nit, die Alte, die Gottesmutter, die Herrin von Esne, der Vater
der Väter, die Mutter der Mütter, das ist der Käfer und der Geier, das
Seiende als Anfang.“
„Nit, die Alte, die Mutter, welche
gebar den Lichtgott Rä, die zuerst ge-
bar, als nichts war, das gebar.“
„Die Kuh, die Alte, welche die
Sonne gebar und die Keime der Götter
und Menschen legte.‘
Das Wort ‚‚nun‘“ bezeichnet die
Begriffe jung, frisch, neu, ebenso
das neuankommende Wasser der
Nilflut. Im übertragenen Sinne wird
so auch ‚‚nun“ für das chaotische Ur-
gewässer gebraucht, überhaupt für
die gebärende Urmateriet), die durch
die Göttin Nunet personifiziert wurde.
Aus ıhr entsprang Nut, die Himmels-
göttin, die mit besterntem Leibe dar-
gestellt wird oder auch als Himmels-
kuh ebenfalls mit besterntem Leibe.
Wenn sich also der Sonnengott
nach und nach zurückzieht auf den
Rücken der Himmelskuh, wie der
arme Lazarus in „Abrahams Schoß‘,
so heißt es beide Male dasselbe; sie
gehen in die Mutter zurück, um als
Horus wieder zu erstehen. So kann
Maria mit dem göttlichen Sohne.
man sagen, daß am Morgen die Göttin Mutter ist, am Mittag Schwester-
gattin und am Abend wieder Mutter, die den Todmatten in ihren
Schoß aufnimmt, erinnernd an die Pieta des Michelangelo. Wie die
Abbildung (aus Diderons Iconographie Chretienne) zeigt, ist dieser
Gedanke auch ganz ins Christentum übergegangen.
den Wassern schwebende Geist (mveüua) Gottes‘ entwickelt hat; das uralte
Bild der kosmischen Eltern, die aufeinander gedrückt liegen, bis der Sohn sie
auseinander sprengt. (Vgl. oben die Symbolik des Atman.)
!) Brugsch: S. 128£.
2386 ©. G. Jung.
So erklärt sich das Schicksal des Osiris: er geht ein in den Mutter-
leib, die Lade, das Meer, den Baum, die Astartesäule, er wird zer-
stückelt, wiedergeformt und erscheint in seinem Sohne, dem Hor-pi-
chrud, aufs neue.
Bevor wir auf die weiteren Geheimnisse, die uns dieser schöne
Mythus verrät, eingehen, ist noch ein Mehreres vom Symbol des Baumes
zu sagen. Osiris liegt auf den Zweigen des Baumes, von ihnen um-
wachsen, wie im Mutterleib. Das Motiv der Umschlingung und Um-
rankung findet sich öfter im Sonnen-, id est Wiedergeburtsmythus:
Ein gutes Beispiel ist das Dornröschen, dann die Sage von dem Mädchent),
das zwischen Rinde und Holz eingeschlossen ist, ein Jüngling mit
seinem Horn aber befreit es. Das Horn ist golden und silbern, was auf
den Sonnenstrahl in seiner phallischen Bedeutung hinweist. (Vergl.
das oben über das Horn Gesagte.) Eine exotische Sage berichtet vom
Sonnenhelden, wie er aus Schlinggewächsen befreit werden muß?).
Ein Mädchen träumt von ihrem Liebhaber, er sei ins Wasser gefallen,
sie versucht ihn zu retten, hat aber zuerst Tang und Seegras aus dem
Wasser zu ziehen, dann erwischt sie ihn. In einer afrikanischen Mythe
muß der Held nach seiner Tat erst aus dem Tang ausgewickelt werden.
In einer polynesischen Mythe wird das Schiff des Helden von den
Fangarmen eines riesigen Polypen umschlungen. Rö&s Schiff ist auf
seiner Nachtmeehrfahrt von der Nachtschlange umschlungen. In der
poetischen Bearbeitung von Buddhas Geburtsgeschichte durch Sir
Edwin Arnold (The light of Asia pag.5f.) findet sich ebenfalls das
Umschlingungsmotiv:
„Queen Maya stood at noon, her days fulfilled,
Under a Palso in the Palace-grounds,
A stately trunk, straight as a temple-shaft,
With drown of glossy leaves and a fragrant blooms
And knowing the time come — for all things knew
The conseious tree bent down its bows to make
A bower about Queen Maya’s Majesty;
And Earth put forth a thousand sudden flowers
To spread a couch; while ready for the bath
The rock hard by gave out a limpid stream
Of crystal flow. So brought she forth the child3).“
*) Serbisches Lied, auf das Grimm: Myth. II, S. 544, Bezug nimmt.
”) Frobenius: l.c.
°) Vgl. die Geburt des germanischen Aschanes, wo ebenfalls Fels, Baum
und Wasser der Geburtsszene beiwohnen. Auch Chidher wird gefunden, auf der
Erde sitzend, der Boden rings von Blumen bedeckt.
Wandlungen und Symbole der Libido. 2387
Einem sehr ähnlichen Motiv begegnen wir in der Kultlegende
der samischen Hera. Alljährlich verschwand (angeblich) das Bild
aus dem Tempel, wurde am Meeresufer irgendwo an einem Lygosstamm.
befestigt und mit dessen Zweigen umwunden. Dort wurde es ‚‚gefunden“
und mit Hochzeitskuchen bewirtet. Dieses Fest ist zunächst unzweifel-
haft ein isoös yduos (kultische Hochzeit), denn in Samos ging die
Legende, daß Zeus zuerst ein langdauerndes, heimliches Liebesverhältnis
mit Hera gehabt habe. In Platää und Argos wurde sogar der Hochzeits-
zug mit Brautjungfern, Hochzeitsmahl usw. dargestellt. Das Fest
fand im Hochzeitsmonat Taundıv statt (Anfang Februar). Aber
auch in Platää wurde das Bild an eine einsame Stelle des Waldes
zuvor gebracht, etwa entsprechend der Legende bei Plutarch, daß
Zeus die Hera geraubt und dann in einer Höhle des Kithairon versteckt
habe. Nach unseren bisherigen Ausführungen müssen wir daraus aller-
dings noch auf einen andern Gedankengang schließen, nämlich auf den
Wiederverjüngungszauber, der mit dem Hierosgamos verdichtet ist.
Das Verschwinden und Verstecken im Wald, in der Höhle, am Meeres-
ufer, im Lygos!) umschlungen, deutet auf Sonnentod und Wiedergeburt.
Die Vorfrühlingszeit (die Zeit der Hochzeiten) im Taunkıaov paßte.
dazu sehr gut. Tatsächlich berichtet Pausanias 2, 38, 2, daß die
argivische Hera durch ein alljährliches Bad im QuellKanathos?)
wieder zur Jungfrau wurde. Die Bedeutung dieses Bades wird
noch hervorgehoben durch den Bericht, daß im platäischen Kult der
Hera Teleia Tritonische Nymphen auftraten als Wasserträgerinnen.
In der Erzählung von Ilias XIV, 294—296 und 346 f., wo das eheliche
Lager des Zeus auf dem Ida geschildert ist?), heißt es:
Also Zeus umarmte voll Inbrust seine Gemahlin.
Unten die heilige Erd’ erzeugt aufgrünende Kräuter,
Lotos und tauiger Blum’, und Krokos, sammt Hyakinthos,
Dicht und locker geschwellt, die empor vom Boden sie trugen:
Hierauf ruheten beid’ und hüllten sich ein Gewölk um,
Schön und strahlend von Gold; und es taute nieder mit Glanzduft,
Also schlummerte sanft auf Gargaros’ Höhe der Vater,
Trunken von Schlaf’ und Lieb’, und hielt in den Armen die Gattin.
1) Abyog ist eine Weide, überhaupt jeder biegsame und flechtbare Zweig
(Avydg ist auch eine Tischlerschraube, um Holz einzuspannen). Avydw heißt
flechten.
2) Euphemisch für davarog?
3) Sonderbarerweise findet sich gerade bei dieser Stelle, V. 288, die
Schilderung des hoch auf der Tanne sitzenden Schlafes:
288 C. G. Jung.
Drexler (bei Roscher Lex. Sp. 2102, 52 ff.) erkennt in dieser
Schilderung eine unverkennbare Anspielung auf den Göttergarten
im äußersten Westen am Ufer des Ozeans, welche Vorstellung
aus einem vorhomerischen Hierosgamos-Hymnus entnommen wäre.
Jenes westliche Land ist das Land des Sonnenunterganges, dorthin
eilen Herakles, Gilgamesh u. a. mit der Sonne, um sich dort Unsterb-
lichkeit zu holen, wo die Sonne und mütterliches Meer zu ewig ver-
jüngendem Beilager sich vereinigen. Unsere Vermutung einer Verdichtung
des Hierosgamos mit einem Wiedergeburtsmythus dürfte sich
demnach wohl bestätigen. Pausanias (III, 16, 11) erwähnt em
verwandtes Mythenfragment, daß nämlich das Bild der Artemis Orthia
auch Lygodesma (von Weiden gefesselt) heiße, weil es in einem
Weidenbusch gefunden worden sei; in diesem Bericht scheint
eine Beziehung auf die allgemeingriechische Hierosgamosfeier mit
ihren oben besprochenen Gebräuchen zu liegen!).
Das Motiv des ‚‚Verschlingens“, das Frobenius als einen der
regelmäßigsten Bestandteile der Sonnenmythen aufgewiesen hat, steht
hier (auch sprachfigürlich) ganz nahe. Der ‚‚Walfischdrache“ (Mutter-
leib) ‚‚verschlingt‘‘ immer den Helden. Das Verschlingen kann auch
partiell sein, d. h. ein teilweises Verschlingen. Ein 6jähriges Mädchen,
das ungern in die Schule geht, träumt, daß sein Bein von einem großen
roten Wurm umschlungen werde. Für dieses Tier hat sie gegen Er-
warten ein zärtliches Interesse. Eine erwachsene Patientin, die sich,
infolge einer außerordentlich starken Mutterübertragung auf eine
ältere Freundin, von dieser nicht trennen kann, träumt: Sie hat mit
ihrer Freundin ein tiefes Wasser zu überschreiten (typisches Bild!),
ihre Freundin fällt hinein (Mutterübertragung), sie versucht sie hinaus-
zuziehen, es gelingt beinahe, da faßt aber ein großer Krebs die Träumerin
am Fuß und versucht sie hineinzuziehen.
Auch etymologisch ist dieses Bild vorhanden: Es gibt eine indo-
germanische Wurzel v&lu-, vel- mit der Bedeutung von umringen,
„Allda saß er von Zweigen umhüllt voll stachlicher Tangeln
Gleich dem tönenden Vogel, der nachts die Gebirge durchflattert.“
Es sieht aus, wie wenn dieses Motiv zum Hierosgamos gehörte. Vgl. auch
das ‚zauberische Netz, mit dem Hephästos Ares und Aphrodite in flagranti um-
schließt und festlegt zum Spotte der Götter.
‘) Verwandt ist der Ritus der Fesselung der Bilder des Herakles und des
tyrischen Melkarth. Auch die Kabiren wurden i Hü i
Symbolik, IL, 350. rden in Hüllen eingewickelt. Creuzer,
Wandlungen und Symbole der Libido. 289
umhüllen, dreken, wenden. Daraus abgeleitet sind: Sanskr. val, valati —
bedecken, umhüllen, umringen, ringeln (Schlangensymkol), vall=
Schlingpflanze, ulüta = Boa constrietor = lat. volütus, Hit.
velü, velti= wickeln, kirchenslav. vlina = althochd. wella = Welle.
Zu der Wurzel velu gehört auch die Wurzel vlvo mit der Bedeutung
Hülle, Eihaut, Gebärmutter. (Man sieht: die Schlange ist um ihrer
Häutung willen ein treffliches Wiedergeburtssymbol.) Sanskr. ulva,
ulba mit derselben Bedeutung. Lat. volva, volvula, vulva. Zu velu
gehört auch die Wurzel ulvorä mit der Bedeutung von Fruchtfeld,
Pflanzenhülle. Sanskr. urvär& = Saatfeld. Zend. urvara — Pflanze.
(Siehe die Personifizierung der Ackerfurche.) Der gleiche Stamm vel
hat auch die Bedeutung von wallen. Sanskr. ulmuka = Brand.
Falta Fela, got. vulan = wallen. Althochd. und mittelhoch. walm =
Hitze, Glutt). (Es ist typisch, daß dem Sonnenhelden im Zustand
der „‚Involution“ vor Hitze immer die Haare ausgehen.) Ferner findet
sich die Wurzel vel als .‚tönen“?) und als wollen, wünschen.(Libido !)
Das Motiv des Umschlingens ist Muttersymbolik®). Dies erwahr-
!) Fiek: Indog. Wörterbuch, I, S. 132 £.
2) Vgl. die ‚„‚tönende Sonne“.
®) Zum Verschlingungsmotiv gehört auch das Motiv der „Klappfelsen“
(Frobeniusl.c., S.405). Der Held muß mit seinem Schiffe zwei Felsen passieren,
die zusammenklappen. (Ähnlich beißende Tür, zusammenklappender Baum-
stamm.) Beim Passieren wird meistens der Schwanz des Vogels abgeklemmt
(oder das Hinterteil des Schiffes usw.); man erkennt darin wieder das Kastrations-
motiv (,‚Armausdrehen‘‘), denn die Kastration tritt für den Mutterinzest ein.
Die Kastration erfolgt in den Formen eines Koitus. Scheffel verwendet dieses
Bild in seinem bekannten Liede: ‚‚Ein Harung liebt’ eine Auster“ usw. Das Ende
vom Liede ist, daß die Auster ihm beim Küssen den Kopf abklemmt. Die Tauben,
die Zeus die Ambrosia bringen, haben auch die Klappfelsen zu passieren. Die
„Tauben“ bringen durch den Inzest (Eingehen in die Mutter) dem Zeus die Un-
sterblichkeitsnahrung, vergleichbar den Äpfeln (Brüsten) Freyas. Wie auch
Frobenius erwähnt, stehen die Felsen oder Höhlen, die sich nur auf einen
Zauberspruch öffnen, mit dem Klappfelsenmotiv in nächster Verbindung. Am
allerbezeichnendsten in dieser Hinsicht ist eine südafrikanische Mythe (Frobenius,
S. 407): „Man muß den Felsen beim Namen rufen und laut schreien: ‚Felsen
Utunjambili, öffne dich, damit ich eintreten kann. Der Stein kann aber, wenn er
sich dem betreffenden Mann nicht eröffnen will, damit antworten: „Der
Fels wird nicht durch Kinder geöffnet, er wird geöffnet durch die
Schwalben, die in der Luft fliegen!“
Das Bemerkenswerte ist, daß keine Menschenkraft den Felsen öffnen kann,
nur ein Spruch vermag es, — oder ein Vogel. Schon diese Formulierung sagt
es, daß die Eröffnung des Felsens ein Unternehmen sei, das nicht wirklich aus-
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. IV, 19
290 C. G. Jung.
heitet sich auch durch die Tatsache, daß die Bäume z. B. wiedergebären
(wie der „Walfischdrache‘“ im Jonasmythus). Sie tun das ganz im
allgemeinen, so sind in der griechischen Sage die Melia vöupaı die
Eschen, die Mütter des ehernen Menschengeschlechtes. (Zugleich
liegt darin auch wieder die phallische Komponente, indem aus der
Esche die Lanze gefertigt wird.) In der nordischen Mythologie ist
Askr, die Esche, der Urvater. Seine Frau Embla ist die ‚„Emsige“ und
nicht, wie man früher glaubte, die Erle. Askr dürfte in erster Linie
wohl die phallische Eschenlanze bedeuten. (Vergl. den sabinischen
Gebrauch, das Haar der Braut mit der Lanze zu scheiteln.) Der Bundehesh
symbolisiert die ersten Menschen, Meschia und Meschiane als den Baum
Reivas, von dem der eine Teil einen Ast in ein Loch des andern steckt.
(Nork.) Der Stoff, den nach dem nordischen Mythus der Gott belebte,
als er Menschen schuf, wird als tr&= Hoelz, Baum!) bezeichnet?).
Ich erinnere auch an ö/n = Holz, was lateinisch materia heißt. Im Holz
der Weltesche Yggdrasil verbirgt sich beim Weltuntergang ein Menschen-
paar, von dem dann die Geschlechter der erneuerten Welt abstammen?).
In diesem Bilde ist leicht wieder das Noahmotiv (,,Nachtmeerfahrt‘“)
zu erkennen, zugleich ist im Symbol von Yggdrasil wieder ein Mutter-
bild zu erkennen. Im Moment des Weltunterganges wird die Weltesche
zur bewahrenden Mutter, zum Toten- und Lebensbaum, ein 2yx6Anıov*).
geführt werden kann, sondern das man nur auszuführen wünscht. (Wünschen
ist im Mittelhochdeutschen auch schon das ‚‚Vermögen Außerordentliches zu
schaffen“.) Wenn ein Mensch stirbt, so bleibt nur der Wunsch übrig, er möchte
noch leben, ein unerfüllter Wunsch, ein ‚„‚schwebender‘‘ Wunsch, daher die Seelen
Vögel sind. Die Seele ist ganz nur Libido, wie an vielen Stellen dieser Unter-
suchung erhellen dürfte, sie ist ‚‚Wünschen“. So ist der hilfreiche Vogel, der
dem Helden im Walfisch wieder ans Licht verhilft, der die Felsen öffnet, — der
Wiedergeburtswunsch. (Die Vögel als Wünsche, vgl. das schöne Bild von Thoma,
wo der Jüngling seine Arme sehnsuchtsvoll ausstreckt nach den Vögeln, die über
sein Haupt hinziehen.)
!) Grimm: Myth., I, S. 474.
°”) In Athen gab es ein Geschlecht der Aiysıodrouotı, der aus der Pappel
Gehauenen.
») Hermann: Nord. Myth., S. 589.
*) Javanische Stämme pflegen ihr Gottesbild in einer künstlichen Aus-
höhlung eines Baumes aufzustellen. Hier schließt sich die „‚Höhlchen“phantasie
Zinzendorfs und seiner Sekte an. Vgl. Pfister, Frömmigk. d. Gr. v. Zinzendorf.
Im persischen Mythus ist der weiße Haoma ein himmlischer Baum, der im See
Ourukasha wächst, der Fisch Khar - mähi kreist schützend um ihn und ver-
Wandlungen und Symbole der Libido. 291
Aus dieser Wiedergeburtsfunktion der Weltesche wird auch das Bild
klar, dem wir in dem Kapitel des ägyptischen Totenbuches, das ‚Pforte
von der Kenntnis der Seelen des Ostens“ heißt, begegnen:
„Ich bin der Pilot in dem heiligen Kiele, ich bin der Steuermann,
der sich in dem Schiffe des Rä!) keine Ruhe gönnt. Ich kenne jenen Baum
von smaragdsrüner Farbe, aus dessen Mitte Rä emporsteigt zur
Wolkenhöhe?).‘‘
Schiff und Baum (Totenschiff und Totenbaum) sind hier nahe
beisammen. Das Bild sagt, daß RA aus dem Baum geboren emporsteigt.
(Osiris in der Erika.) Auf dieselbe Art ist wohl die Darstellung des
Sonnengottes Mithras zu deuten, welcher auf dem Heddernheimer
Relief dargestellt ist, wie er zu halbem Leibe aus dem Wipfel eines
Baumes emporragt (siehe Abbild... (In derselben Weise wie auf
zahlreichen anderen Monumenten bis zu halbem Leibe im Felsen
steckend, wodurch die Felsgeburt veranschaulicht wird, ähnlich Men.)
Öfter findet sich neben der Geburtsstätte des Mithras ein Fluß. Diesem
Symbolkonglomerat entspricht die Geburt des Aschanes, des ersten
Sachsenkönigs, der aus den Harzfelsen emporwächst, die mitten
im Wald bei einem Springbrunnen?) stehen“). Hier finden wir alle
Muttersymbole vereinigt, Erde, Holz, Wasser, drei Formen fester
Materia. Wir dürfen uns nicht mehr wundern, wenn im Mittelalter
der Baum poetisch mit dem Ehrentitel ‚‚Frau angeredet wurde. Ebenso.
ist es nicht erstaunlich, daß die christliche Legende aus dem Totenbaum
des Kreuzes das Lebensholz, den Lebensbaum, machte, so daß öfter
Christus an einem grünenden und fruchttragenden Lebensbaum.
dargestellt wurde. Diese Zurückleitung des Kreuzsymbols auf den
Lebensbaum, der schon babylonisch als wichtiges Kultsymbol be-
glaubigt ist, hält auch der gründliche Bearbeiter der Kreuz-
teidigt ihn gegen die Kröte Ahrimans. Er gibt ewiges Leben, den Frauen Kinder,
den Mädchen Gatten und den Männern Rosse. Im Minökhired heißt der Baum
der „Zubereiter der Leichname“. (Spiegel: Erän. Altertumskunde, II, 115.)
!) Sonnenschiff, das die Sonne und Seele über das Todesmeer geleitet
zum Aufgange.
2) Brugsch: ]- ce. 177.
3) Ähnlich Jesaja, 51, 1: ‚„‚Schauet den Felsen an, davon ihr gehauen
seid, und des Brunnens Gruft, daraus ihr gegraben seid.“ Weitere Belege in A. von
Löwis of Menar: Nordkaukasische Steingeburtsagen, Archiv für Religions-
wissenschaft, XIII, 509 ff.
+) Grimm: Myth., I, S- 474.
19*
392 C. G. Jung.
geschichte, Zöckler!), für durchaus wahrscheinlich. Die vorchrist-
liche Bedeutung des (universell verbreiteten) Symbols widerspricht
dieser Auffassung nicht, im Gegenteil, denn sein Sinn ist Leben.
Auch das Vorkommen des Kreuzes im Sonnenkult (hier das gleicharmige
und das Swastikakreuz als Darstellung des Sonnenrades) sowie im Kult
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Christus am Lebensbaum.
der Liebesgöttinnen (Isis mit der Crux ansata, dem ‚‚Tau‘, dem Speculum
veneris ® usw.) widerspricht der obigen (historischen) Bedeutung
keineswegs. Die christliche Legende hat von diesem Symbolismus
reichlieh Gebrauch gemacht. Für den Kenner mittelalterlicher Kunst-
geschichte ist jene Darstellung bekannt, wo das Kreuz aus dem Grabe
') Das Kreuz Christi. Rel.-hist.-kirchl.-archäol. Untersuchungen, 1875.
Wandlungen und Symbole der Libido. 293
Adams wächst. Die Legende war, daß Adam auf Golgatha begraben
lag. Seth hatte auf sein Grab einen Zweig des Paradiescsbaumes ge-
pflanzt, der zum Kreuz- und Totenbaum Christi wurdet). Bekanntlich ist
durch Adams Schuld Sünde und Tod in die Welt gekommen und Christus
hat uns durch seinen Tod von der Schuld losgekauft. Auf die Frage,
worin denn Adams Schuld bestanden habe, ist zu sagen, daß seine
unverzeihliche, mit dem Tode zu büßende Sünde war, daß er sich er-
dreistete, vom Paradiesesbaum zu pflücken?). Was das für Folgen
hatte, schildert eine orientalische Legende: Einer, dem es vergönnt
war, nach dem Sündenfall noch einen Blick ins Paradies zu werfen,
sah dort den Baum und die vier Ströme. Der Baum aber war verdorrt
und in seinen Zweigen lag ein Kindlein. Die Mutter war schwanger
geworden?).
Dieser bemerkenswerten Sage entspricht die talmudische Tra-
dition, daß Adam schon vor Eva ein dämonisches Weib besaß, Namens
Lilith, mit der er um die Herrschaft rang. Lilith aber erhob sich
durch den Zauber des Gottesnamens in die Luft und verbarg sich im
Meer. Adam aber zwang sie zurück mit Hilfe von drei Engeln?®).
Lilith wurde zu einem Mar, einer Lamia, welche die Schwangeren
bedrohte und die neugeborenen Kinder raubte. Der Parallel-
mythos ist der der Lamien, der Nachtgespenster, die die Kinder er-
schreckten. Die ursprüngliche Sage war, daß Lamia Zeus verlockte,
!) Die Sage von Seth findet sich bei Jubinal: Mysteres inedits du
XV. siecle, T. II, S. 16 £. Zitiert Zöckler: 1. c., 8. 241.
?) Die Schuld wird, wie immer, in diesen Mythen, wenn möglich, auf die
Mutter abgewälzt. Die germanischen heiligen Bäume standen auch unter dem
Gesetz eines absoluten Tabu: es durfte von ihnen kein Blatt abgerissen und
auf dem Boden, soweit ihr Schatten reichte, nichts gepflückt werden.
3) Nach der deutschen Sage (Grimm: Bd. II, S. 809) wird der erlösende
Held geboren, wenn der Baum, der jetzt als schwaches Reis aus einer Mauer
wächst, groß geworden ist und wenn aus seinem Holze die Wiege gezimmert
wird, in welcher der Held soll geschaukelt werden. Die Formel lautet (l. c.):
„Eine Linde solle gepflanzt werden, die werde oben zwei Plantschen (Äste) treiben,
aus deren Holz eine Poie zu machen sei: Welches Kind in ihr zuerst liegen werde,
das sei bestimmt, mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht zu werden
und dann trete Erlösung ein.“ Auch in germanischen Sagen knüpft sich be-
merkenswerterweise der Eintritt des künftigen Ereignisses an einen keimenden
Baum. Vgl. dazu die Bezeichnungen Christi als ein ‚‚Reis“ oder eine „Rute“.
4, Worin das Motiv der ‚‚Vogelhilfe“ zu erkennen ist. Engel sind eigentlich
Vögel. Vgl. das Vogelkleid der Unterweltseelen, ‚Seelenvogel“; im Sacrificium
mithriacum ist der Götterbote (der ‚‚Engel‘) ein Rabe, der geflügelte Hermes
usw. Die Dreizabl ist phallisch bedeutsam.
294 C. G. Jung.
die eifersüchtige Hera aber bewirkte, daß Lamia nur tote Kinder
zur Welt brachte. Seitdem ist die wütende Lamia die Verfolgerin
der Kinder, die sie tötet, wo sie nur Immer kann. Dieses Motiv kehrt
in den Märchenerzählungen häufig wieder, wo die Mutter oft ganz
direkt als Mörderin!) oder als Menschenfresserin auftritt, ein
deutsches Paradigma ist das bekannte Märchen von Hänsel und Gretel.
Tatsächlich ist Aauia ein großer, gefräßiger Meerfisch?), womit der
Anschluß an die von Frobenius so schön bearbeitete Walfischdrachen-
mythe gefunden ist, wo das Meertier den Sonnenheros verschlingt
zur Wiedergeburt und wo der Held alle List aufzuwenden hat, das
Ungeheuer zu überwinden. Wir begegnen hier wiederum dem Bilde
der furchtbaren Mutter in der Gestalt des gefräßigen Fischschlundes
des Todes®). Bei Frobenius (l. c.) finden sich zahlreiche Beispiele,
wo das Ungeheuer nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen,
ein ganzes Land verschlungen hat, was alles durch den Helden zu einer
gloriosen Wiedergeburt erlöst wird.
Die Lamien sind typische Nachtmare, deren weibliche Natur
reichlich belegt ist*). Ihre überall verbreitete Eigentümlichkeit ist,
daß sie ihre Opfer reiten. Ihr Gegenstück sind die gespenstischen
Rosse, die den Reiter in tollem Lauf entführen. Man erkennt in diesen
Symbolformen leicht den Typus des Angsttraumes, der, wie Riklin
zeigt?) für die Märchenerklärung durch den Versuch von Laistner‘)
bereits bedeutsam geworden ist. Das typische Reiten erhält einen
besondern Aspekt durch die Ergebnisse der analytischen Erforschung
der Kinderpsychologie: die beiden einschlägigen Arbeiten von Freud
und mir?) haben einerseits die ängstliche Bedeutung der Pferde, ander-
seits die sexuelle Bedeutung der Reitphantasie herausgebracht. Wenn
wir diese Erfahrungen mit in Betracht ziehen, so kann es uns nicht mehr
zu sehr überraschen, wenn wir vernehmen, daß die mütterliche Welt-
') Vgl. Frobenius: l. ce.
?) Aauög = Schlund, Höhle. ra /auwia = Erdschlünde.
°) Die nahe Beziehung deApig —= Delphin und ÖeApög = uterus ist hervor-
zuheben. In Delphi befindet sich der Erdschlund und der Dreifuß (ÖeApwis =
ein delphischer Tisch mit drei Füßen in Delphinengestalt). Vgl. im letzten Kapitel
Melicertes auf dem Delphin und das Verbrennungsopfer Melkarths. |
‘) Vgl. die umfangreiche Zusammenstellung bei Jones: On the nightmare.
°) Riklin: Wunscherfüllung und Symbolik usw.
°) Laistner: Das Rätsel der Sphinx.
?) Freud: Dieses Jahrbuch, Bd. 1.
Jung: Konflikte der kindlichen Seele. Deuticke, Wien.
Wandlungen und Symbole der Libido. 295
esche Yggdrasill deutsch ‚‚Schreckroß“ heißt. Cannegieter!) sagt von
den Nachtmaren: ‚‚Abigunt easnymphas (matres deas, mairas) hodie
rustiei osse capitis equini tectis injecto, cujusmodi ossa per has
terras m rusticorum villis crebra est animadvertere. Nocte autem ad
concubia equitare creduntur et equos fatigare ad longinqua itinera”.
Das Zusammensein von Mar und Pferd scheint auf den ersten Blick
auch etymologisch vorzuliegen — Nightmare und Mare (engl.). Der indo-
germanische Stamm zu Märe ist aber Mark. Märe ist das Pierd,
engl. mare, älthochdeutsch marah (männliches Pferd) und meriha
(weibliches Pferd), altnordisch merr (mara — Alp), angelsächsich myre
(maira). Französisch cauchmar kommt von calcare = treten (von
Iterativbedeutung, daher für keltern), wird auch vom Hahn gesagt,
der die Henne ‚‚betritt‘“ (Hahnentritt). Diese Bewegung ist ebenfalls
typisch für den Mar, daher heißt es vom König Vanlandi: ‚‚Mara trad
han“, die Mara trat ihn tot im Schlafe?). Ein Synonym für Alp oder Mar
ist der Troll oder ‚‚Treter?)‘“. Diese Bewegung (caleare) ist wiederum
belest durch Freuds und meine Erfahrung an Kindern, wo dem Treten
oder ‚„‚Strampeln“ eine besondere infantile Sexualbedeutung zukommt.
(So tritt auch gleich der Mara die ‚„Stempe‘‘*).
Der gemeinarische Stamm mar heißt sterben, daher ‚‚mara“
die „Tote“, oder der Tod. Daraus ergeben sich mors, u6oos = Schicksal,
(ebenso uoioa?)?). Bekanntlich repräsentieren die unter der Weltesche
sitzenden Nornen das Schicksal, wie Klotho, Lachesis und Atropos.
Auch bei den Kelten geht der Begriff der fatae wohl in den der matres
und matronae über®), die bei den Deutschen göttliche Bedeutung
hatten. Eine bekannte Stelle bei Julius Caesar (de bello Gall. 1, 50)
berichtet uns von dieser Bedeutung der Mütter: ut matres familias
eorum sortibus et vaticinationibus?) declararent, utrum proelium committi
ex usu esset, nec ne.
ı) Epistola de ara ad Noviomagum reperta, 8. 25. Zitiert b. Grimm:
Myth., Bd. IL, S. 1041.)
2) Grimm: ]. e., Bd. II, S. 1041.
3) Vgl. dazu die quellenstampfenden Pferde.
4) Grimm: |. e., Bd. II, S. 1041.
5) Vgl. Herrmann: Nord. Myth., 8. 64, und Fick: Vergleich. Wörterb.
d. indogerm. Sprache, Bd. I.
6) Grimm: |]. c., Bd. I, 8. 345 f.
?) Parallel die mantische Bedeutung des delphischen Schlundes, Mimir’s
Brunnen usw. ‚„‚„Abgründe der Weisheit‘, siehe letztes Kapitel. Hippolytos, in den
seine Stiefmutter verliebt war, wird nach dem Tode zur weisen
Egeria versetzt.
Nymphe
296 ©. G. Jung.
Zu der Etymologie des Mar ist auch hinzuzufügen, daß im Fran-
zösischen möre eine starke lautliche Annäherung stattfindet zwischen
Mutter und Mar, was etymologisch allerdingsnichis beweist. Im Slaw.heißt
mara Hexe, poln. mora = Alp. mör oder möre (Schweizer Deutsch)
heißt Mutterschwein (auch Schimpfwort). Das böhmische mura heißt
Nachtmar und Abendschmetterling, Sphinx. Dieser sonderbare Zusam-
menhang erklärt sich durch die analytisch schon öfter erhobene Tat-
sache, daß Tiere mit zusammenklappbaren Schalen (,, Venusmuschel“)
oder Flügeln aus durchsichtigem Grunde als Symbol des weiblichen
Genitales verwendet werden). Die Sphingiden sind die Dämmerungs-
falter, sie kommen in der Dunkelheit wie die Mare. Endlich ist zu er-
wähnen, daß der heilige Ölbaum der Athene uooia hieß (das von u6oos
hergeleitet wird). Halirrhotios wollte den Baum umhauen, tötete
sich aber dabei selber mit dem Beile.
Der klangliche etymologisch zufällige Zusammenhang von
mar, mere mit Meer und lat. mare ist merkwürdig. Sollte er
vielleicht zurückweisen auf das ‚große, urtümliche Bild“ der Mutter,
die uns erstmals einzige Welt bedeutete und nachmals zum Symbol
von aller Welt wurde? Von den Müttern sagt ja Goethe: sie
sind ‚umschwebt von Bildern aller Kreatur“. Auch die Christen
konnten es nicht lassen, ihre Gottesmutter wieder mit dem Wasser
zu vereinigen: ‚Ave maris stella“ beginnt ein Marienhymnus.
Auch sind es Neptuns - Rosse, welche die Meereswogen sym-
bolisieren. Es dürfte wohl von Belang sein, daß das Infantilwort ma-ma
(Mutterbrust) im Anlaut in allen möglichen Sprachen sich wiederholt
und daß die Mütter von zwei religiösen Heroen Maria und Maja hießen.
Daß die Mutter des Kindes Pferd ist, zeigt sich am deutlichsten in der
barbarischen Sitte, das Kind auf dem Rücken zu tragen oder auf der
Hüfte reiten zu lassen. Odin hing an der Weltesche, der Mutter, seinem
„Schreckroß“. Der ägyptische Sonnengott sitzt auf dem Rücken
seiner Mutter, der Himmelskuh.
Wir sahen bereits, daß nach ägyptischer Vorstellung Isis, die
Gottesmutter, dem Sonnengott den bösen Streich mit der giftigen
Schlange spielte, ebenso benimmt sich die Isis in der Überlieferung
des Plutarch verräterisch gegenüber ihrem Sohne Horus: Horus be-
zwingt nämlich den bösen Typhon, der Osiris meuchlerisch (furchtbare
Mutter = Typhon) mordete. Isis aber läßt ihn wieder frei. Horus,
‘) Beispiel bei Bertschinger: Dieses Jahrbuch, Bd. III, 1. Hälfte.
Wandlungen und Symbole der Libido. 297
darüber empört, legte Hand an die Mutter und riß ihr den
königlichen Schmuck vom Hauptet!), wofür ihr Hermes einen
Kuhkopf aufsetzte. Darauf bezwang Horus den Typhon zum zweiten
Male. Typhon ist in der griechischen Sage ein ungeheurer Drache.
Auch ohne diese Konstatierung ist es klar, daß der Kampf des Horus
der typische Kampf des Sonnenhelden mit dem „Walfischdrachen”
ist. Von letzterem aber wissen wir, daß er ein Symbol der furcht-
baren Mutter ist, des gefräßigen Todesschlundes, wo die Menschen
zermahlen und zerstückelt werden?). Wer dieses Ungeheuer überwindet,
hat sich eine neue oder ewige Jugend erkämpft. Dazu muß man aber,
allen Gefahren trotzend, meistens in den Leib des Ungeheuers hinab-
steigen?) (Höllenfahrt) und dort unten einige Zeit verweilen (,‚Nacht-
meergefängnis“, Frobenius).
Der Kampf mit der Nachtschlange bedeutet demnach die
Überwältigung der Mutter, der ein schändliches Verbrechen,
nämlich der Verrat des Sohnes, zugetraut wird. Eine volle Bestätigung
dieser Zusammenhänge wird uns durch die von George Smith ent-
deckten Fragmente des babylonischen Weltschöpfungsepos, die größten-
teils aus der Bibliothek Asurbanipals stammen. Die Entstehungszeit
des Textes könnte in die Zeit Hammurabis fallen (2000 a. Chr. n.).
Aus diesem Schöpfungsbericht?) erfahren wir, daß der uns bereits
bekannte Schngott Ea, der Sohn der Wassertiefe und der Gott der
Weisheit), Apsü überwältigt hat. Apsü ist der Erzeuger der großen
Götter (er existierte anfangs in einer Art Dreieinigkeit mit Tiämat,
der Göttermutter und Mummu, seinem Vezier.) Ea hat also den Vater
bezwungen. Tiämat aber sann auf Rache: Sie rüstete zum Kriege
gegen die Götter:
1) AA” Ennıßailövra Ti umrei Tag xeloas Anoondoaı ig nepalüg To
Baoikeıov. Plutarch: De Isid. et Ösir., 19, 6.
?) Vgl. die bei Frobenius (Zeitalter des Sonnengottes) berichteten exo-
tischen Mythen, wo der Walfischbauch einfach das Totenland ist.
®) Es gehört zu den ständigen Eigentümlichkeiten des Mar, daß er nur
wieder zu dem Loche hinaus kann, wo er hereinkam. Dieses Motiv
gehört ersichtlicherweise als projiziertes Wunschmotiv in den Wiedergeburts-
mythus.
4) Nach Greßmann: Altorient. Text. und Bild. Bd. I, S. 4 ff.
5) Abgrund der Weisheit, Brunnen der Weisheit, Quelle der Phantasie.
Vgl. unten.
298 ©. G. Jung.
„Mutter Hubur, die alles bildete,
Gab unwiderstehliche Waffen bei, gebar Riesenschlangen
Mit spitzen Zähnen, schonungslos in jeder Hinsicht(?);
Mit Gift füllte sie, statt mit Blut, ihren Leib.
Wütende Riesenmolche (?) bekleidete sie mit Furchtbarkeit;
Von Schreckensglanz ließ sie sie strotzen, bildete sie hochragend (?)
Wer sie erschaute, sollte vor Schauder vergehn (?);
Ihre Leiber sollten sich bäumen, ohne daß sie sich zur Flucht wenden.
Sie stellte auf Molche(?), Drachen und Lahamen,
Orkane, tolle Hunde, Skorpionmenschen,
Mächtige Stürme, Fischmenschen und Widder(?)
Mit schonungslosen Waffen, ohne Furcht vor Kampf.
Gewaltig sind ihre (Tiämat’s) Geheiße, unwiderstehlich sind sie.‘
— — m mn mn mn m nn m m — ——
— 1 — — .- _——-
Ersann(®) sie (Böses) gegen die Götter, ihre Nachkommenschaft;
Um Apsü zu rächen, handelte Tiämat böse.“
„Da nun Ea jene Sache hörte,
Ward er schmerzlich beängstigt, traurig setzte er sich nieder.
„Er ging vor den Vater, seinen Erzeuger Anßar,
Um alles was Tiämat geplant, ihm zu berichten:
„llamat, unsere Mutter, hat Widerwillen gegen uns gefaßt,
Hat eine Zusammenrottung veranstaltet, grimmig wütend.“
Gegen das furchtbare Heer der Tiämat stellen die Götter schließ-
lich den Frühlingsgott Marduk, die siegende Sonne. Marduk rüstet
sich zum Kampfe; von seiner Hauptwaffe, die er sich schafft, heißt es:
„Er schuf den bösen Wind Imhullu, den Südsturm und den Orkan;
Den Vierwind, den Siebenwind, den Wirbelwind(?) und den Unheilswind(?).
Ließ dann hinaus die Winde, die er geschaffen, ihrer sieben;
Im Innern Tiämats Verwirrung zu stiften, zogen sie hinter ihm einher.
Da nahm empor der Herr den Zyklon (?), seine große Waffe;
Als Wagen bestieg er den Sturmwind, den unvergleichlichen, schrecklichen.“
Seine Hauptwaffe ist der Wind und ein Netz, mit dem er Tiämat
umschlingen will. Er nähert sich Tiämat und fordert sie zum Zweikampf
heraus!),
„Da traten zusammen Tiämat und der Weise(?) unter den Göttern, Marduk,
Zum Kampf sich erhebend (®); sich nähernd zur Schlacht:
Da breitete der Herr sein Netz aus und fing sie;
Den Imhullu in seinem Gefolge ließ er gegen ihr Antlitz los,
Als Tiämat nun ihren Mund öffnete, soweit sie vermochte (?),
') „Da näherte sich der Herr, nach Tiämats Mitte (?) spähend —.“
Wandlungen und Symbole der Libido. 299
Ließ er den Imhullu hineinfahren, damit sich ihre Lippen nicht schließen
könnten.
Mit den wütenden Winden füllte er ihren Leib;
Erfaßt(?) ward ihr Inneres und ihren Mund öffnete sie weit.
Er setzte den Speer(?) an(?), zerschlug ihren Leib,
Ihr Inneres zerfetzte er, zerschnitt (ihr) Herz,
Bändigte sie und machte ihrem Leben ein Ende;
Ihren Leichnam warf er hin, auf ihn tretend.“
Nachdem Marduk die Mutter erschlagen, ersann er die Welt-
schöpfung::
„Da ruhte der Herr aus, ihren Leichnam betrachtend,
Teilte dann den Koloß(?), Kluges planend;
Er zerschlug sie wie einen platten(?) Fisch in zwei Teilet),
Eine Hälfte von ihr stellte er hin und deckte (damit) den Himmel.“
Auf diese Weise schaffte Marduk das Weltall aus der Mutter.
Es ist klar ersichtlich, daß die Tötung des Mutterdrachens hier unter
dem Bilde einer Windbefruchtung mit negativen Vorzeichen erfolst.
Die Welt wird aus der Mutter geschaffen, d. h. mit der von der
Mutter (durch die Opferung) weggenommenen Libido. Diese bedeutsame
Formel werden wir im letzten Kapitel noch näher zu beleuchten haben.
Auch in der Literatur des Alten Testamentes finden sich höchst inter-
essante Parallelen zu diesem uralten Mythus, wie Gunkel?) glänzend
nachgewiesen hat. Es lohnt sich, der Psychologie dieser Parallelen
nachzugehen:
Jes. 51,9 £:
Auf, auf, wappne dich mit Kraft, Jahwes Arm!
Auf wie in den Tagen der Vorzeit,
Den Geschlechtern der Urzeit!
Bist Du’s nicht, der Rahab zerschmettert,
Den Drachen schändete?
Bist Du’s nicht, der das Meer austrocknete,
Die Wasser der großen Flut?
Der Meerestiefen zum Wege machte,
Daß hindurchzogen die Erlösten?‘“
Der Name Rahab wird im Alten Testament gern für Ägypten
gesetzt, ebenso Drache (Jes. 30, 7 heißt Ägypten das „‚geschweigte
Rahab“), will daher etwas Böses und Feimdseliges bedeuten. Rahab
!) Spaltung der Mutter, vgl. Kaineus, sowie Spalte, Erdspaltung usw.
?) Schöpfung und Chaos. Göttingen, 1895, 8. 30 ff.
300 C. G. Jung.
ist aber auch die bekannte Hure von Jericho, die als spätere
Gattin des Fürsten Salma Stammutter Christi wurde. Hier tritt
Rahab auf als der alte Drache, als Tiämat, gegen deren schlimme
Macht Marduk oder Jahwe auszieht. Der Ausdruck ‚‚die Erlösten“
bezieht sich auf die aus der Sklaverei befreiten Juden, ist aber auch
mythologisch, indem der Held aus dem Walfischdrachen die schon
früher Verschluckten wieder befreit. (Frobenius. c.)
Psalm 89, 11.
“s
!
„Du hast geschändet wie ein Aas Rahab
Hiob, 26, 12 £.:
„Mit seiner Macht hat er das Meer beruhigt,
Mit seinem Verstande Rahab zerschmetitert.
Die Riegel des Himmels schaudern vor ihm,
Seine Hand schändete die gewundene Schlange.“
Gunkel setzt Rahab als identisch mit Chaos, d. h. Tiämat.
Das „Schänden“ gibt Gunkel auch als ‚‚Vergewaltigen“ wieder {l. c.
pag. 42). Tiämat oder Rahab ist als Mutter auch die Hure. So behandelt
auch Gilgamesch die Ischtar, welche er der Hurerei bezichtigt. Dieser
Vorwurf an die Mutter ist uns aus der Traumanalyse geläufig. Der
Drache Rahab erscheint auch als Leviathan, als Wasserungeheuer.
(Mütterliches Meer.)
Psalm 74, 13 ££.:
Du hast gespalten machtvoll das Meer,
Hast zerbrochen die Häupter der Drachen im Wasser.
Du hast zerschlagen die Häupter Leviathans,
Gabst ihn zum Fraß, zur Speise den Schakalen.
Du hast gespalten Quelle und Bach,
Du hast vertrocknet uralte Ströme.‘
Wenn wir im ersten Teil dieser Arbeit bloß die phallische Be-
deutung des Leviathan hervorgehoben haben, so entdecken wir nun
hier auch seine Mutterbedeutung. Eine weitere deutliche Parallele ist
Jes. 27, 1£f.:
„An jenem Tage sucht Jahwe heim
Mit seinem Schwert, dem grausamen, großen und starken,
Den Leviathan, die gewundene Schlange,
Und tötet den Drachen im Meere.“
Hiob 40, 25 ff. begegnen wir einem besonderen Motiv:
Wandlungen und Symbole der Libido. 8301
„Ziehst du gar Leviathan an der Angel herauf,
Hältst mit der Schnur seine Zunge fest?
Legst die Haken in sein Maul,
Durchbohrst mit dem Ring seine Wange?“
Zu diesem Motiv finden sich bei Frobenius (l. ce.) zahlreiche
Parallelen in exotischen Mythen, wo das mütterliche Meerungeheuer
ebenfalls geangelt wird. Die Vergleiche der Mutterlibido mit den Ele-
mentargewalten des Meeres und den gewaltigen Ungetümen, welche
die Erde trägt, zeigt, wie unüberwindlich groß die Macht jener Libido
ist, die wir als die mütterliche bezeichnen.
Wir haben bereits gesehen, daß das Inzestverbot den Sohn ver-
hindert, sich selber durch die Mutter hindurch wieder zu erzeugen.
Das muß aber der Gott tun, wie uns die bewundernswerte Klarheit
und Offenheit der pietätsvollen ägyptischen Mythologie zeigt, die
uns urälteste und einfachste Vorstellungen aufbewahrt hat: So formt
Chnum, ‚der Former, Töpfer, Baumeister“ auf der Töpferscheibe
sein Ei, denn er ist ‚das unsterbliche Wachstum, die eigene Erzeugung
und die eigene Selbstgeburt, der Schöpfer des Eies, das aus dem Ur-
wasser hervortrat‘‘. Im Totenbuch heißt es: ‚‚Ich bin der hehre Falket),
der hervorgetreten ist aus seinem Ei.“ Eine andere Stelle im Totenbuch
heißt: „Ich bin der Schöpfer des Nun, der seinen Sıtz in der Unterwelt
genommen hat. Mein Nest wird nicht geschaut und mein Ei wird nicht
zerbrochen?).‘“ Ein weiterer Passus lautet: ‚‚Jener große und herrliche
Gott in seinem Ei, der sein eigener Urheber ist für das, was aus Ihm
entstanden 1st?).“
Daher heißt auch der Gott Nagaga-uer, der „große Gackerer“.
(Totenbuch 98, 2: „Ich gackere wie die Gans und ich pfeife wie der
Falke.“) Das Inzestverbot wird der Mutter als boshafte Willkür
vorgeworfen, mit der sie den Sohn von der Unsterblichkeit ausschließe.
Daher wenigstens ein Gott darüber sich empören, die Mutter über-
wältigen und züchtigen muß. (Vergl. oben Adam und Lilith.) Die Über-
1) D. h. der Sonnengott.
2) Für Verstehende darf ich hier wohl erwähnen, daß eines meiner Kinder,
ein Töchterchen, das farbige Modelliermasse zu Weihnachten bekam, als erste
spontane Leistung ein Nest mit einem Ei formte, daneben eine Strahlensonne ,
welche brütend das Ei bescheint.
3) Brugsch: Rel. u. Myth., 8. 161 ff.
302 0. G. Jung.
wältigung bedeutet inzestuöse Notzucht!). Herodot hat uns?) ein
wertvolles Stück dieser religiösen Phantasie aufbewahrt:
„Und wie sie der Isis in der Stadt Busıris ihr Fest begehen, ist von
mir zuvor schon bemerkt worden. Es schlagen nämlich nach der Opferung
sich alle, Männer und Weiber, wohl viele tausend Menschen. Doch den, um
deswillen sie sich schlagen, wäre mir Sünde zu nennen.
„In Papremis jedoch feiern sie Opfer mit heiligen Handlungen,
wie an den übrigen Orten. Aber um die Zeit, wenn die Sonne sich neigt,
sind einige wenige Priester um das Bild herum geschäftig; die meisten
von ihnen stehen mit hölzernen Keulen am Eingang; und andere, die ein
Gelübde erfüllen wollen, über tausend Männer, stehen auch sämtlich mit
Holzprügeln, ihnen gegenüber auf einem Haufen. Nun führen sie das Bild
in einem kleinen und vergoldeten Tempel am Vorabend heraus in ein
anderes heiliges Gebäude. Da ziehen denn die wenigen, die bei dem Bilde
zurückbleiben, einen vierrädrigen Wagen, worauf der Tempel steht, mit
dem Bilde, das er einschließt. Die anderen aber, die in den Vorhallen stehen,
lassen sie nicht herein; allein die Gelübdepflichtigen, die dem Gott beistehen,
schlagen zur Abwehr auf sie los. Da gibt es nun eine hitzige Prügelschlacht,
wobei sie die Köpfe einander zerschlagen und, wie ich glaube, wohl auch
viele an den Wunden sterben; unerachtet die Ägypter selbst behaupteten,
es sterbe kein einziger.
Und diese Festversammlung behaupten die Eingeborenen darum
eingeführt zu haben: in diesem Heiligtum wohne die Mutter des Ares?).
Nun sei Ares auswärts erzogen worden und, als er zum Manne gereift
war, hergekommen, um mit seiner Mutter Umgang zu haben;
da ihn denn die Diener seiner Mutter, weil er ihnen noch nie zu Gesicht
gekommen war, nicht ruhig herzuließen, sondern abhielten; worauf er aus
einer andern Stadt Leute holte, den Dienern übel mitspielte und zu seiner
Mutter einging. Daher behaupten sie, dem Ares diese Schlägerei bei
seinem Fest eingeführt zu haben.‘
Es ist klar, daß die Frommen sich hier für ihre Teilnahme am
Mysterium der Muttervergewaltigung‘) durchprügeln und töten, das
‘) In einem Pyramidentext, welcher den Kampf des toten Pharao um die
Vorherrschaft im Himmel schildert, heißt es: „Der Himmel weint, die Sterne
beben, die Wächter der Götter zittern und ihre Diener entfliehen, wenn sie den
König als Geist sich erheben sehen, als einen Gott, der von seinen Vätern lebt
undsich seiner Mütter bemächtigt.“ (Zitiert b. Dieterich: Mithraslit., 5.100.)
®) Buch II, 61 ff. |
®) Unter Ares ist wahrscheinlich der ägyptische Typhon gemeint.
“) In der polynesischen Mauimythe ist die Tat des Sonnenhelden auch recht
deutlich: er raubt der Mutter den Gürtel. Der Schleierraub im Typus des Schwan-
jungfraumythus heißt dasselbe: In einer afrikanischen Mythe von Joruba not-
züchtigt der Sonnenheld einfach seine Mutter (Frobenius 1. c.).
Wandlungen und Symbole der Libido. 303
ist der Anteil, der ihnen zugehört!), während die Heldentat dem Gotte
gehört?). Mit diesem Ares ist, wie gute Gründe vermuten lassen, der
ägyptische Typhon gemeint. Typhon repräsentiert so die böse
Sehnsucht nach der Mutter, welche aber andere Mythenformen
der Mutter vorwerfen, nach bekanntem Muster. Der dem ÖOsiristod
(Erkrankung des R&) ganz analoge Tod Balders durch die Verwundung
mit dem Mistelzweig scheint einer ähnlichen Erklärung zu bedürfen.
In der Mythe wird berichtet, wie alle Geschöpfe verpflichtet wurden,
Balder nichts zu tun, nur der Mistelzweig wurde vergessen, angeblich,
weil er noch zu jung war. Der fällte Balder. Die Mistel ist ein Parasit.
Aus dem Holze einer parasitischen oder rankenden Pflanze wurde das
weibliche Holzstück bei der rituellen Feuerbohrung gewonnen?),
also die Feuermutter. Auf ‚„‚märentakken“, worunter Grimm die Mistel
vermutet, ruht die Mare aus*). Die Mistel war ein Heilmittel gegen die
Unfruchtbarkeit. In Gallien durfte nur unter feierlichen Zeremonien
nach vollbrachtem Opfer der Druide auf die heilige Eiche steigen,
um dort die rituelle Mistel zu schneiden?). Diese Handlung ist ein kultisch
eingeschränkter und organisierter Inzest. Das, was auf dem Baume
wächst, ıst das Kind®), das man von der Mutter haben möchte, denn das
wäre man selber in erneuter und verjüngter Gestalt und eben gerade
das kann man nicht haben, weil dem das Inzestverbot entgegen- _
steht. Wie der keltische Brauch zeigt, ist diese Handlung nur
unter Beobachtung gewisser Zeremonien dem Priester gestattet; der
Gottheld und Welterlöser aber tut das Unerlaubte, Übermensch-
liche und erkauft dadurch Unsterblichkeit. Der Drache, der zu
diesem Zweck überwunden werden muß, ist, wie dem Leser schon
längst klar geworden sein muß, der Widerstand gegen den Inzest.
Drache und Schlange, namentlich mit ihrer charakteristischen Häufung
1) Der oben erwähnte Mythos von Halirrhotios, der sich selber tötet, als
er den heiligen Baum der Athene, die Moria, fällen wollte, enthält dieselbe Psy-
chologie, ebenso die Priesterkastrationen (Attiskastration) im Dienste der großen
Mutter. Die asketische Selbstquälerei im Christentum fließt selbstverständlich
auch aus diesen Quellen, denn die christliche Symbolform bedeutet eine ganz
intensive Regression auf den Mutterinzest.
2) Das Abreißen vom Lebensbaum ist eben diese Sünde.
8) Vgl. Kuhn: Herabkunft des Feuers,
#1. c. II, S. 1041.
5) Nork: Wörterbuch s. v. Mistel.
*) Daher in England wohl an Weihnachten Mistelzweige aufgehängt
werden, Mistel als Lebensrute. Vgl. Aigremont: Volkserotik und Pflanzenwelt.
304 C. G. Jung.
von Angstattributen, sind die Symbolrepräsentanten der Angst, die
dem verdrängten Inzestwunsch entspricht. Es ist daher verständlich,
wenn wir immer wieder dem Baum mit der Schlange begegnen (im
Paradies überredet die Schlange sogar zur Sünde); der Schlange oder
dem Drachen kommt besonders die Bedeutung des Schatzhüters und
-verteidigers zu. Die sowohl phallische wie weibliche Bedeutung des
Drachens!) zeigt, daß es sich wieder um ein Symbol der sexuell neu-
tralen (oder bisexuellen) Libido handelt, nämlich ein Symbol der
Libido im Widerstand. In dieser Bedeutung tritt im, altpersischen
Tishtriyalied auch das schwarze Pferd Apaosha (der Dämon des
Widerstandes) auf, indem es die Quellen des Regensees besetzt hält.
Das weiße Pferd Tishtriya stürmt zweimal vergebens, das drittemal
gelingt es ihm mit Hilfe Ahuramazdas Apaosha zu überwältigen?).
Darauf öffnen sich die Schleusen des Himmels und fruchtbarer Regen
ergießt sich über die Erde®). In diesem Liede sieht man in der Symbol-
!) Wie der Baum auch phallische Natur hat neben der Mutterbedeutung,
so hat in den Mythen die dämonische Alte (sie sei günstig oder nefast) öfter auch
phallische Attribute, z. B. eine lange Zehe, einen langen Zahn, lange Lippe, langen
Finger, lange Brüste, große Hände, großen Fuß usw. Diese Mischung männlicher
und weiblicher Motive weist darauf hin, daß die ‚‚Alte‘“ ein Libidosymbol ist, wie
der Baum, allerdings vorwiegend mütterlich determiniert. Am deutlichsten
ist die Bisexualität der Libido ausgedrückt im Bilde der drei Gräen, die zusammen.
bloß ein Auge und einen Zahn besitzen. Dieses Bild ist eine direkte Parallele
zu dem Traum einer Patientin, die ihre Libido dargestellt hat als Zwillinge, der
eine ist eine Schachtel und der andere ein flaschenähnlicher Gegenstand,
denn Auge und Zahn sind weibliches und männliches Genitale. (Bezüglich Auge
in dieser Bedeutung vgl. besonders den ägyptischen Mythus; bezüglich Zahn ist
zu bemerken, daß Adonis, die Fruchtbarkeit, durch den Eberzahn stirbt, wie
Siegfried durch Hagens Speer, vgl. dazu unten den Veroneser Priap, dessen Phallus
durch die Schlange abgebissen wird. Zahn ist in dieser Hinsicht wie Schlange
„negativer“ Phallus.
°) Vgl. Grimm; II, IV, $. 802.
Das gleiche Motiv in anderer Anwendung findet sich in einer nieder-
sächsischen Sage: Es wird einst eine Esche aufwachsen, von der man noch nichts
gesehen hat, doch wächst ein kleiner Sproß unbemerkt aus dem Boden. Dazu
kommt in jeder Neujahrsnacht ein weißer Reiter auf weißem Pferde, um
den jungen Schoß abzuhauen. Zu gleicher Zeit kommt aber auch ein schwarzer
Reiter und wehrtihm. Nach langem Kampfe gelingt es dem Weißen, den Schwarzen
zu vertreiben und der Weiße haut den Sproß ab. Einmal aber wird es dem Weißen
Fern ‚mehr gelingen, dann wird die Esche aufwachsen, und wenn sie so groß ist,
eseeadaje ge00% rear eng, Shane qua ag
eben (Weltuntergang).
; FL Chantepie dela Saussaye: Lehrbuch der Religionsgeschichte, Bd. I,
Wandlungen und Symbole der Libido. 805
wahl sehr schön, wie Libido gegen Libido gesetzt ist, Wollen gegen
Wollen, das Uneinssein des primitiven Menschen mit sich selber, das
er in allen Widrigkeiten und Gegensätzlichkeiten der äußern Natur
wieder erkannte.
Das Symbol des von der Schlange umwundenen Baumes
ist also u. A. auch zu übersetzen als die vom Widerstand gegen
den Inzest verteidigte Mutter. Dieses Symbol ist auf mithrischen
Denkmälern nicht selten. Ähnlich ist auch der von der Schlange
umwundene Fels aufzufassen, denn Mithras (Men) ist ein Felsgeborener.
Die Bedrohung des Neugeborenen durch die Schlange (Mithras, Her-
kules) erklärt sich durch die Legende der Lilith und der Lamia. Python,
der Drache der Leto und Poine, die das Land des Krotopos verwüstet,
sind vom Vater des Neugeborenen entsendet: diese Wendung läßt die
uns aus der Psychoanalyse bekannte Lokalisierung der Inzestangst
beim Vater erkennen. Der Vater repräsentiert die tatkräftige Abwehr
der Inzestwünsche des Sohnes, d. h. das Verbrechen, das der Sohn un-
bewußt wünscht, wird dem Vater zugeschoben, in Form einer angeblich
mörderischen Absicht des Vaters als Ursache der Todesangst
vor dem Vater, diesem häufigen neurotischen Symptom. Dieser
Wendung entsprechend ist das vom jungen Heros zu überwindende
Ungeheuer auch häufig ein Riese, welcher den Schatz oder das Weib
behütet. Ein treffendes Beispiel ist der Riese Chumbaba im Gilgamesh-
epos, welcher den Garten der Jshtar beschützt!): er wird von Gil-
gamesh überwältigt, wodurch Ishtar gewonnen wird. Sie stellt darauf
das sexuelle Begehren an Gilgamesh?). Diese Daten dürften genügen,
um die Rolle des Horus bei Plutarch zu verstehen, besonders die
gewalttätige Behandlung der Isis. Durch die Überwältigung der Mutter
wird der Held gleich der Sonne, er erzeugt sich wieder. Er gewinnt die
Kraft der unbesieglichen Sonne, die Kraft ewiger Wiederverjüngung.
So verstehen wir nunmehr auch eine Folge von Bildern (s. Abbild.)
aus der Mithrasmythe auf dem Heddernheimer Relief. Dort ist zuerst
die Geburt des Mithras aus dem Baum (aus dem Wipfel) dargestellt,
das nächste Bild zeigt ihn, den überwältigten Stier tragend, wobei
dem Stier die verdichtete Bedeutung des Ungeheuers (vergleichbar dem
ungeheuern von Gilgamesh überwältigten Stier), des Vaters, der als
Riese und gefährliches Tier das Inzestverbot verkörpert, und der eigenen
!) Fernere Beispiele bei Frobenius: 1. c. passim.
2) Vgl. Jensen: Gilgameshepos.
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. IV. 20
306 C. G. Jung.
Sohnhelden, die er selbstopfernd überwältigt, zukommt.
Das dritte Bild stellt Mithras dar, wie er nach de m Hauptschmuck
des Sol, der Strahlenkrone, greift. Zunächst erinnert diese Hand-
Libido des
lung an die Gewalttat des Horus der Isis gegenüber, sodann an den
Stieropfer des Mithras.
christlichen Grundgedanken, daß die, die überwunden haben,
die Krone des ewigen Lebens erlangen. Auf dem vierten Bild
kniet Sol vor Mithras. Diese beiden letzten Bilder zeigen deutlich,
daß Mithras die Sonnenkraft an sich genommen hat, so daß er auch Herr
der Sonne wird. Er hat seine ‚‚tierische Natur“ (den Stier) überwunden.
Das Tier kennt kein Inzestverbot, der Mensch ist darum Mensch,
weil er den Inzestwunsch, d.h. die Tiernatur, überwindet. So hat Mithras
Wandlungen und Symbole der Libido. 307
seine Tiernatur geopfert, den Inzestwunsch und mit ihm die Mutter,
d. h. die verderbliche todbringende Mutter überwunden. (Eine Lösung,
die schon im Gilgameshepos durch den förmlichen Verzicht des Heros
auf die schreckliche Ishtar vorbereitet ist.) Die Überwindung der Mutter
geschieht in dem bereits etwas asketisch angehauchten Sacrifieclum
mithriacum nicht mehr in der archaischen Überwältigung, sondern
durch den Verzicht, die Opferung des Wunsches. Der Urgedanke der
inzestuösen Wiedererzeugung durch Eingehen in den Mutterleib
hat sich hier schon derart verschoben, daß der Mensch, bereits so
weit in der Domestikation vorgeschritten, glaubt, nicht durch die
Begehung des Inzestes, sondern durch die Opferung des Inzestwunsches
das ewige Sonnenleben zu erreichen. Diese bedeutsame im Mithras-
mysterium, ausgesprochene Wandlung findet ihre größte Vollendung
erst im Symbol des gekreuzigten Gottes. Für Adams Sünde wird ein
blutiges Menschenopfer an den Lebensbaum gehängt!). Der Mutter
opfert der Erstgeborene sein Leben, indem er in den Zweigen hängend
einen schmach- und qualvollen Tod erleidet, eine Todesart, die zu den
schändlichsten Hinrichtungsformen gehörte, welche das römische
Altertum nur für die gemeinsten Verbrecher bereit hatte. Der Held
stirbt also, wie wenn er die gemeinste Freveltat begangen hätte; er
tut sie, indem er sich wieder in die gebärenden Zweige des Lebens-
baumes legt, zugleich aber bezahlt er die Schuld mit der Todesqual.
In dieser Tat größten Mutes und größter Entsagung ist die Tiernatur
am mächtigsten unterdrückt, daher ein größtes Heil für die Menschheit
daraus zu erwarten ist, denn solche Tat allein scheint geeignet, die
Schuld Adams zu sühnen.
Wie schon erwähnt, ist das Aufhängen der Opfer an Bäumen
eine allgemein verbreitete rituelle Sitte, besonders germanisch reichlich
belegt?). Rituell ist, daß die Opfer mit dem Speer durchstochen wurden.
So heißt es von Odin (Edda, BATR:
„Ich weiß, daß ich hing am windbewegten Baum
Neun Nächte hindurch
Verwundet vom Speer, geweiht dem Odin
Ich selber mir selbst.‘
1) In einem schlesischen Passional des 15. Jahrhunderts stirbt Christus
am selben Holz, an dem Adam einst gesündigt. (Zitiert Zöckler: ].c., S. 241.)
?®) Es wurden z. B. auch Tierhäute an die Opferbäume gehängt und es
wurde mit Speeren danach geworfen.
20*
308 C. G. Jung.
Die Aufhängung der Opfer an Kreuzen war auch amerikanisch
(vor der Entdeckung). Müller!) erwähnt die Fejervarysche Hand-
schrift (ein mexikanischer Hieroglyphenkodex), an deren Schluß sich
ein kolossales Kreuz befindet, in dessen Mitte eine blutige Gottheit
aufgehängt ist. Ebenso interessant ist das Kreuz von Palenque?):
Obendrauf ist ein Vogel, auf beiden Seiten zwei menschliche Figuren,
die das Kreuz ansehen und ein Kind dagegen hinhalten (zur Opferung
oder Taufe?). Die alten Mexikaner sollen die Gunst CGenteotls, ‚der
Tochter des Himmels und der Göttin des Getreides“, jedes Frühjahr
durch Annagelung eines Jünglings oder einer Jungfrau an ein Kreuz
und durch Beschießung des Opfers mit Pfeilen angerufen haben?).
Der Name des mexikanischen Kreuzes bedeutete: „Baum unseres
Lebens oder Fleisches‘*).
Ein Bildnis der Insel Philä soll auch Osiris in der Gestalt eines
Kruzifixus darstellen, beweint von Isis und Nephthys, den Schwester-
gattinnen?).
Die Bedeutung des Kreuzes ist gewiß mit der des Lebensbaumes
nicht erschöpft, wie schon angedeutet. Wie auch der Lebensbaum
eine phallische Nebenbedeutung hat (als Libidosymbol), so kommt auch
dem Kreuz eine weitere Bedeutung außer Leben und Unsterblichkeit®)
zu. Müller (l. c.) gebraucht es als Zeichen des Regens und der Frucht-
barkeit, da es indianisch entschieden als Fruchtbarkeitszauber erscheint.
Daß es daher eine Rolle im Sonnenkult spielt, ist fast selbstverständlich.
Hervorzuheben ist auch, daß es ein wichtiges Zeichen zur Fernhaltung
alles Unheils ist (Kreuzschlagen), wie die antike Geste der Manofıica.
Diesem Zweck dienten auch die phallischen Amulette. So gründlich
!) Geschichte der amerikanischen Urreligionen, $. 498.
?) Stephens: Zentralamerika, II, 346. (Zitiert bei Müller: |. c., $. 498.)
®) Zöckler: Das Kreuz Christi, S. 34.
*) H.H. Bankroft: Native Races of te Pacific States of North America,
IT, 506. (Zitiert Robertson: Evang. Myth., S. 139.)
5) Rossellini: Monumenti dell’ Egitto etc. Tom. 3. Tav. 23. (Zitiert
Robertson: ]. e., S. 142.)
6) Zöckler: 1. c., S. 7 ff. In der Darstellung einer Königsgeburt in Luxor
sieht man folgendes: Der Logos und Götterbote, der vogelköpfige Thoth ver-
kündet der jungfräulichen Königin Mautmes, daß sie einen Sohn gebären werde.
In der folgenden Szene halten Kneph und Athor die Crux ansata ihr an den
Mund, indem sie sie damit auf geistige (symbolische) Weise be-
fruchten. Sharp: Egyptian mytholo S m
s ’ . 18 T. ; “ >
gelienmythen, $. 43, 87 (Zitiertt Robertson: Evan
Wandlungen und Symbole der Libido. 309
sonst Zöckler verfährt, so hat er doch ganz übersehen, daß die
phallische Crux ansata dasjenige Kreuz ist, das der Boden der
Antike in zahlreichen Exemplaren wiedergibt. Abbildungen dieser
Cruces ansatae finden sich an vielen Orten und fast jede Antikensamm-
lung besitzt ein oder mehrere Exemplaret).
Schließlich ist auch zu erwähnen, daß die menschliche Körper-
form im Kreuz nachgeahmt wird als ein Mensch mit ausgestreckten
Armen. Es ist merkwürdig, daß auf frühchristlichen Abbildungen
Christus nicht ans Kreuz genagelt ist, sondern mit ausgebreiteten
Armen davor steht?). Maurice?) gewährt dieser Deutung eine treffliche
Unterlage; er sagt folgendes: It is a fact not less remarkable, than
well attested, that the Druids in their groves were accustomed to select
the most stately and beautiful tree as an emblem of the deity they
adored, and having cut off the side branches, they affixed two of the
largest of them to the highest part of the trunk, in such manner that
tkose branches extended on each side like the arms of a man, and
together with the body, presented the apparence of a huge cross; and
in the bark in several places was also inscribed the letter ‚‚tau‘®).
Auch der ‚Baum der Wissenschaft“ der indischen Dschaina-
sekte nimmt Menschengestalt an; er wird dargestellt als ein mächtig
dicker Stamm in der Gestalt eines Menschenkopfes, aus dessen Scheitel
zwei längere, seitlich herabhängende, und ein senkrecht aufstrebender
kürzerer Zweig, von einer knospen- oder blütenartigen Verdickung
gekrönt, herauswachsend). Robertson (Evang. Myth. 8.133) er-
wähnt, daß auch im assyrischen System die Darstellung der Gottheit
in Kreuzform vorhanden ist, wobei der senkrechte Balken einer
menschlischen Gestalt und der wagrechte Balken einem konventionell
gewordenen Flügelpaar entspricht. Altgriechische Idole, wie sie z. B.
in Ägina reichlich gefunden wurden, haben einen ähnlichen Charakter:
ı) Die phallischen Grenzhermen hatten öfter Kreuzgestalt mit einem
Kopf als Spitze. (W. Payne Knight. Worship of Priapus, S. 30.) Altenglisch
hieß das Kreuz rod = Rute,
2) Robertson (I. c., S. 140) erwähnt die Tatsache, daß der mexikanische
Priester und Opferer sich in die Haut eines eben getöteten Weibes hüllt und mit
kreuzartig ausgestreckten Armen sich vor den Kriegsgott stellt.
3) Indian Antiquities, VI, 49.
) Gemeint ist die primitive ägyptische Kreuzform: T.,
)
Zöckler: l. c., $S. 19. Der Blütenknopf ist wohl deutlich phallisch.
Vgl. den oben berichteten Traum der jungen Frau.
Ä
5
310 0. G. Jung. °
unmäßig langes Haupt und flügelförmig abstehende und etwas empor
gehobene Arme (?) und vorn deutliche Brüste).
Ob, wie vielfach behauptet wird, das Kreuzsymbol zu den beiden
Feuerhölzern der rituellen Feuererzeugung eine Beziehung hat, muß
ich dahingestellt sein lassen. Es hat aber den Anschein, als ob tat-
sächlich dem Kreuzsymbol noch die Bedeutung ‚‚Vereinigung“ inne-
wohnte, denn zum Fruchtbarkeitszauber gehört schließlich dieser
Gedanke auch, namentlich zum Gedanken der ewigen Wiedererneuerung,
der mit dem Kreuz aufs innigste verbunden ist. Dem Gedanken der
‚‚ Vereinigung‘, ausgedrückt durch das Kreuzsymbol, begegnen wir
im Timäus des Plato, wo die Weltseele in der Form eines X (Chi)
zwischen Himmel und Erde ausgespannt gedacht ist, also in der Form
eines ‚‚Andreaskreuzes“. Wenn wir nun noch erfahren, daß die Welt-
seele insich die Welt als Körper enthält, so werden wir durch dieses
Bild unfehlbar an die Mutter erinnert. (Platon, Timaios, übers. Kiefer,
S. 27):
„Die Seele setzte er (der Demiurg) in der Mitte des Weltkörpers
ein und dehnte sie durch das ganze Weltall aus, umhüllte aber auch
den Weltkörper noch von außen mit ihr. So brachte er denn das
Weltall zustande als einen sich im Kreise drehenden Kreis, der einzig und
einsam, infolge seiner guten Beschaffenheit imstande ist, mit sich selbst
zu verkehren, und keines andern bedarf, genügend bekannt
und befreundet mit sich selbst. Durch alle die Vorkehrungen schuf
er die Welt als einen seligen Gott.“
Dieser höchste Grad von Untätigkeit und Bedürfnislosigkeit,
symbolisiert durch das Eingeschlossenseinin sich selber, bedeutet
göttliche Seligkeit. Einziges menschliches Vorbild zu dieser Anschauung
ist das Kind im Mutterleibe, d. h. vielmehr der erwachsene Mensch
in beständiger Umarmung und Verschlingung mit seinem Ursprung,
der Mutter. Dieser mythologisch-philosophischen Anschauung ent-
sprechend bewohnte der beneidenswerte Diogenes auch ein Faß, um
dadurch der Seligkeit und Gottähnlichkeit seines Nichtbedürfens
mythologischen Ausdruck zu verleihen. (Mutterleibsphantasie). Vom
Verhältnis der Weltseele zum Weltkörper sagt Platon folgendes:
„Wenn wir jetzt erst von der Seele zu sprechen beginnen, so hat nicht
auch der Gott sie erst nach dem Körper gebildet: denn er hätte nicht zu-
gelassen, daß die Ältere vom Jüngeren beherrscht werde; wir,
‘) Die Mitteilung über diese Funde verdanke ich Herrn Prof. Fiechter
in Stuttgart.
Wandlungen und Symbole der Libido. sll
vielfach vom Zufall und Ungefähr abhängig, reden eben auch so, er aber
schuf die Seele so, daß sie ihrer Entstehung und guten Beschaffenheit
nach dem Körper vorausging und ehrwürdiger war als er, er
machte sie zur Herrin und künftigen Gebieterin des Körpers.“
(106827
Es scheint auch aus anderen Andeutungen denkbar, daß das
Bild der ‚‚Seele‘“ überhaupt ein Derivat der Mutterimago ist, d. h.
eine Symbolbezeichnung für den in der Mutterimago stecken gebliebenen
Libidobetrag. (Vgl. die christliche Vorstellung von der Seele als einer
Braut des Herrn.) Die weitere Entwicklung der Weltseele im. Timaios
erfolgt in dunkler zahlenmystischer Weise. Als die Mischung vollendet
war, geschah folgendes:
„Dieses ganze so zusammengehäufte Gebilde aber spaltete er hier-
auf der Länge nach in zwei Teile, verband dieselben kreuzweise in
ihrer Mitte, so daß sie die Gestalt eines X bildeten.“
Dieser Passus nähert sich deutlich der Spaltung und Vereinigung
des Ätman an, der nach der Spaltung einem Mann und einem Weibe
verglichen wird, die sich umschlungen halten. Ein anderer Passus
(l. c. 8. 30) ist erwähnenswert:
„Nachdem nun nach dem Sinne des Meisters die ganze Zusammen-
fügung der Seele erfolgt war, bildete er hierauf alles, was körperlich ist,
innerhalb derselben und fügte es so zusammen, daß es dieselbe
mitten durchdrang.“
Im übrigen verweise ich auf meine Ausführungen über die mütter-
liche Bedeutung der Weltseele bei Plotin in Kap. II. Eine ähnliche
Loslösung des Kreuzsymboles von konkreterer Gestaltung finden wir
bei den Muyskaindianern, die über einem Wasserspiegel (Teich oder
Fluß) zwei Seile übers Kreuz spannen und am Schnittpunkt Früchte,
Öl und Edelsteine als Opfer in Wasser werfent). Hier ist die Gottheit
offenbar das Wasser und nicht das Kreuz, welch letzteres durch den
Kreuzungspunkt nur die Opferstelle bezeichnet. Das Opfer an der
‚„‚Vereinigungsstelle“ läßt erkennen?), warum dieses Symbol ein ur-
sprünglicher Fruchtbarkeitszauber?) war, warum wir ihm so häufig
(vorchristlich) bei den Liebes(= Mutter)göttinnen begegnen, ägyptisch
besonders bei Isis und dem Sonnengott. Die beständige Vereinigung
1) Zöckler: 1. c., 8. 33.
2) Das Opfer am ‚‚Kreuzungspunkt‘ dürfte vielleicht überhaupt mit dem
Sprachsymbolismus von ‚‚Kreuzen“, ‚Kreuzung‘ usw. zu tun haben.
3) Das Opfer wird ins Wasser, d. h. in die Mutter versenkt.
312 C. G. Jung.
dieser beiden Gottheiten haben wir bereits besprochen. Da das Kreuz
(Tau, Crux ansata) immer wiederkehrt in der Hand des Tum, des obersten
Gottes, des Hegemon der Enneas, so dürfte es nicht überflüssig sein,
noch ein mehreres von den Bestimmungen des Tum zu sagen. Der Tum
von On-Heliopolis führt den Namen ‚‚der Vater seiner Mutter“; was
das heißt, bedarf keiner Erklärung. Die ihm beigegebene Göttin Jusas
oder Nebit-Hotpet wird bald die Mutter, bald die Tochter, bald
die Gattin des Gottes genannt. Der Tag des Herbstanfanges
wird in den heliopolitischen Inschriften als ‚‚der Festtag der Göttin
Jusasit‘‘ bezeichnet, als die Ankunft der Schwester, um sich mit
ihrem Vater zu vereinigen“. Es ist der Tag, an welchem ‚‚die Göttin
Mehnit ihre Arbeit vollendet, um den Gott Osiris in das linke Auge!)
eintreten zu lassen“. Der Tag heißt auch ‚‚Ausfüllung des heiligen Auges
mit seinem Erforderlichen“. Die Himmelskuh mit dem Mondauge,
die kuhköpfige Isis nimmt im Herbstaequinoctium den den Horus
zeugenden Samen in sich auf?). (Mond als Samenbewahrer.) Das ‚Auge“
vertritt ersichtlich das Genitale, wie in der Mythe von Indra, der wegen
eines Bathsebafrevels die Bilder der Yoni (Vulva) über seinen ganzen
Körper ausgebreitet zu tragen hatte, von den Göttern aber so weit
begnadigt wurde, daß das entehrende Yonibild in Augen verwandelt
wurde®), (Formähnlichkeit.) Im Auge ist die ‚‚pupilla“ ein Kind. Der
große Gott wird wieder ein Kind, er tritt in den Mutterleib ein, um sich
zu erneuern?). In einem Hymnus heißt es auch:
„Deine Mutter, der Himmel, streckt ihre Arme nach dir aus.“
An anderer Stelle heißt es:
BR „Du strahlst, o Vater der Götter, auf dem Rücken deiner Mutter,
täglich empfängt dich deine Mutter in ihren Armen. Wenn du in der Wohnung
der Nacht leuchtest, vereinigst du dich mit deiner Mutter, dem Himmel?).“
Der Tum von Pitum-Heroopolis führt nicht nur die Crux ansata
als Symbol bei sich, sondern hat auch sogar dieses Zeichen als seinen
‘) Worunter der Mond zu verstehen ist. Vgl. später: Mond als Sammelort
der Seelen (umschlingende Mutter).
?) Brugsch: |. c., S. 281 ff.
RR = Vgl. dazu, was Abrahamin bezug auf pupilla sagt. (Traum und Mythus,
z *) Rückzug des R& auf die Himmelskuh. In einem indischen Reinigungs-
rıtus muß der Büßer durch eine künstliche Kuh hindurchkriechen, um wieder-
geboren zu werden.
°) Schultze: Psychologie der Naturvölker, Leipzig, 1900, S. 338.
Wandlungen und Symbole der Libido. 813
häufigsten Beinamen, nämlich äny oder änyi, was Leben oder der
der Lebendige bedeutet. Er ist hauptsächlich als Agathodämonschlange
verehrt, von der es heißt: ‚Die heilige Agathodämonschlange geht
hervor aus der Stadt Nezi‘. Die Schlange (wegen ihrer Häutung) ist
das Symbol der Wiedererneuerung, wie der Scarabaeus (ein Sonnen-
symbol), von dem es heißt, daß er, nur männlichen Geschlechtes, sich
selber wieder erschaffe.
Der Name ‚Chnum“ (ein anderer Name für Tum, gemeint ist
immer der Sonnengott) kommt vom Verb ynum, welches sich ver-
binden, vereinigen heißt!). Chnum tritt vorzugsweise als der Töpfer
und Bildner seines Eies auf. Das Kreuz scheint demnach ein außer-
ordentlich verdichtetes Symbol zu sein: seine überragende Bedeutung
ist die vom Lebensbaum und daher ist es ein Symbol der Mutter. Die
Symbolisierung in einer menschlichen Gestalt ist daher verständlich.
Die phallischen Formen der Crux ansata gehören mit zum abstrakten
Sinn „Leben“ und ‚Fruchtbarkeit‘“ sowie zur Bedeutung von ‚‚Ver-
einigung“, die wir nun sehr wohl als cohabitatio mit der Mutter
zum Zwecke der Wiedererneuerung ansprechen dürfen?). Es
ist daher ein nicht nur rührender, sondern in seiner Naivität überaus
tiefsinniger Symbolismus, wenn in einer altenglischen Marienklage?)
Maria das Kreuz anklagt, es sei ein falscher Baum, ungerechterweise
und grundlos habe er ‚‚ihres Leibes reine Frucht, ihr holdes Vögelein“
mit giftigen Trank zerstört (die Hinterlist der Isis, tödlicher Liebes-
trank), mit dem Todestrank, den nur die Nachkommen des Sünders
Adam, denen eine Schuld anhafte, zu trinken hätten. ihr Sohn hätte
daran keine Schuld. Sie klagt:
„Kreuz, du bist meines Sohnes schlimme Stiefmutter, so
hoch hast du ihn hinaufgehängt, daß ich nicht einmal seine Füße küssen
kann! Kreuz, du bist mein Todfeind; du hast mir erschlagen mein blaues
Vögelein !“
Sancta Crux antwortet:
1) Brugsch: 1. e., 8. 290 ff.
2) Man darf sich über diese Formel nicht wundern, denn es ist der tierische
Mensch in uns, dessen Urkräfte in der Religion erscheinen. Dieterichs Worte
(Mithraslit., S. 108) gewinnen in diesem Zusammenhange einen besonders bedeut-
samen Aspekt: ‚‚Von unten kommen die alten Gedanken zu neuer Kraft in
der Religionsgeschichte: Die Revolution von unten schafft neues Leben der
Religion in uralten unzerstörbaren Formen.“
») Dispute between Mary and the Cross in R. Morris: Legends of the
Holy Rood., London, 1871. (Zitiert Zöckler: 1. c., S. 240.)
314 0. G. Jung.
‚Frau, dir danke ich meine Ehre; deine herrliche Frucht, die
ich jetzt trage, strahlt in roter Blütet). Nicht für dich allein, nein,
die ganze Welt zu retten, erblüht diese köstliche Blume in dir?).“
Über das Verhältnis der beiden Mütter (Isıs am Morgen und
Isis am Abend) zueinander sagt Sancta Crux:
„Du warst zur Himmelskönigin gekrönt, um des Kindes willen, das du
geboren. Ich aber werde als glänzende Reliquie einst aller Welt erscheinen,
beim Gerichtstage; da werde ich dann erheben meine Klage um
deinen heiligen, unschuldig an mir gemordeten Sohn.“
So vereinigt sich die mordende Todesmutter mit der gebärenden
Lebensmutter in ihrer Klage um den sterbenden Gott und als äußeres
Zeichen ihrer Vereinigung küßt Maria das Kreuz und söhnt sich mit ihm
aus®). Das naive ägyptische Altertum hat uns die Vereinigung der
kontrastierenden Tendenzen im Mutterbild der Isis noch aufbewahrt.
Natürlich ist diese Imago bloß ein Symbol der Libido des Sohnes zur
Mutter und schildert den Konflikt zwischen Liebe und Inzestwiderstand.
Die verbrecherische, inzestuöse Absicht des Sohnes erscheint als ver-
brecherische Hinterlist in die Mutterimago projiziert. Die Abtrennung
des Sohnes von der Mutter bedeutet den Abschied des Menschen von
dem Gattungsbewußtsein des Tieres, von dem für das infantilarchaische
Denken charakteristischen Mangel an Individualbewußtsein. Erst
durch die Gewaltsamkeit des ‚‚Inzestverbotes““ konnte das sich selber
bewußte Individuum geschaffen werden, das vorher gedankenlos
eins war mit der Sippe, und so erst konnte die Idee des individuellen
und endgültigen Todes möglich werden. So kam durch Adams Sünde
der Tod in die Welt. (Dies, wie ersichtlich, uneigentlich, d. h. gegen-
sätzlich ausgedrückt.) Die Abwehr des Inzestes durch die Mutter be-
deutet so dem Sohn eine Bosheit, welche ihn der Todesangst ausliefert.
(In ursprünglicher Frische und Leidenschaft tritt uns dieser Konflikt
im Gilgameshepos entgegen; auch dort ist der Inzestwunsch in die
Mutter projiziert.) Der N eurotiker, der die Mutter nicht lassen kann,
hat gute Gründe: die Todesangst hält ihn dort. Es scheint, als
sei kein Begriff und kein Wort stark genug, die Bedeutung dieses Kon-
‘) Ein sehr schönes Bild der ins Meer versinkenden blutroten Sonne.
.....%) Jesus erscheint hier als Zweig und Blüte am Lebensbaum. Vgl. dazu
die interessanten Nachweise von Robertson: Evang. Myth,, S. 5lff. über
| ge der Nazarener“, welchen Titel er von Nazar oder Netzer — Zweig herleitet-
er tra Griechenland wurde der Marterpfahl, an dem Verbrecher hingerichtet
gestrait wurden, als &xdrn (Hekate, unterirdische Todesmutter) bezeichnet.
Wandlungen und Symbole der Libido. 8ld
fliktes auszudrücken. Ganze Religionen wurden gebaut, um der Größe
dieses Konfliktes Worte zu leihen. Dieses, durch Jahrtausende fort-
gesetzte Ringen nach Ausdruck kann gewiß seine Kraftquelle nicht
in dem durch den Vulgärbegriff des Inzestes allzu eng gefaßten Tat-
bestand haben; vielmehr muß man wahrscheinlich das in letzter Linie
und ursprünglich als ‚Inzestverbot“ sich ausdrückende Gesetz als den
Zwang zur Domestikation auffassen und das Religionssystem
als Institution bezeichnen, welche die den Kulturzwecken nicht un-
mittelbar dienenden Triebkräfte anımalischer Natur zunächst aufnimmt,
organisiert und allmählich zu sublimierter Anwendung fähig macht.
Die bei Miß Miller nunmehr folgenden Visionen bedürfen keiner
ausführlichen Besprechung mehr. Die nächste Vision ist das Bild einer
„purpurnen Meeresbucht“. Die Meeressymbolik reiht sich glatt an das
Vorausgegangene an. Man könnte hier des ferneren an die Reminiszenzen
vom Golf von Neapel denken, denen wir im ersten Teil begegnet sind.
Im Zusammenhang des Ganzen allerdings dürfen wir die Bedeutung
der ‚„‚Meeresbucht‘“ nicht übersehen. Im Französischen heißt es ‚une
baie‘, was wohl einem bay im englischen Urtext entsprechen dürfte.
Es dürfte sich hier lohnen, einen Seitenblick auf das Etymologische
dieser Vorstellung zu werfen. Baie wird überhaupt für etwas Offen-
stehendes gebraucht, wie denn das katalonische Wort badia (Bai}
von badar = öffnen kommt. Im Französischen heißt bayer den Mund
offen haben. Ein anderes Wort für dasselbe ist Meerbusen, latein. Sinus,
und ein drittes Wort ist Golf, das französisch in nächster Beziehung
steht mit gouffre — Abgrund. Golf kommt von x6Anos!), das zugleich
Busen und Schoß, Mutterschoß, daher vagina (med.), bedeutet.
Es kann auch Gewandfalte und Tasche bedeuten. (Schweizerdeutsch
wird auch buese als Rocktasche angeführt.) x6Aros kann auch ein
tiefes Tal zwischen hohen Bergen bedeuten. Diese Bezeichnungen
zeigen klar, welche Urvorstellungen zugrunde liegen. Sie machen die
Wortwahl Goethes verständlich an jener Stelle, wo Faust der Sonne
mit beflügelter Sehnsucht folgen möchte, um in ewigem Tage ‚ihr
ewiges Licht zu trinken”:
„Nichts hemmte dann den göttergleichen Lauf
Der wilde Berg mit allen seinen Schluchten;
Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten
Vor den erstaunten Augen auf.“
1) Diez: Etym. Wörterbuch der romanischen Sprachen, 8. 90 ff.
316 C. G. Jung.
Faustens Sehnsucht geht ja wie bei jedem Helden nach dem
Mysterium der Wiedergeburt, der Unsterblichkeit, daher sein Weg
aufs Meer hinausführt und hinunter in den ungeheuerlichen Schlund
des Todes, dessen Angst und Enge zugleich den neuen Tag bedeutet:
„Ins hohe Meer werd’ ich hinausgewiesen,
Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen,
Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.
Ein Feuerwagen schwebt, auf leichten Schwingen,
An mich heran! Ich fühle mich bereit,
Auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen,
Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit.
Dies hohe Leben, diese Götterwonne!
— mm me mn ums mm mie mm mim Ammmmmg |jMimiiit uiikmmmimi sdime mim mim. pm mm mn
Vermesse dich, die Pforten aufzureißen,
Vor denen jeder gern vorüberschleicht.
Hier ist es Zeit, durch Taten zu beweisen,
Daß Männerwürde nicht der Götterhöhe weicht,
Vor jener dunkeln Höhle nicht zu beben,
In der sich Phantasie zu eigner Qual verdammt.
Nach jenem Durchgang hinzustreben,
Um dessen engen Mund die ganze Hölle flammt;
Zu diesem Schritt sich heiter zu entschließen,
Und wär’ es mit Gefahr, ins Nichts dahinzufließen.“
Es klingt wie eine Bestätigung, wenn die nächstfolgende Vision
von Mıiß Miller „une falaise A pic“, eine steil abstürzende Klippe ist.
(Vgl. gouffre.) Der Abschluß der ganzen Reihe von Einzelvisionen
bildet, wie die Autorin berichtet, ein Gewirr von Lauten, etwa wie
Wa-ma, wa-ma. Dieser Laut klingt sehr ursprünglich und barbarisch.
Da wir über die subjektiven Wurzeln dieser Laute von der Autorin
nichts erfahren, so bleibt uns nur eine Vermutung übrig: Im Zusammen-
hang des Ganzen wäre nämlich zu erwägen, ob nicht dieser Laut eine
leichte Entstellung des allbekannten Rufes ist, der ma-ma heißt. (Vgl.
dazu unten.)
Darauf erfolgt eine Pause in der Produktion von Visionen, dann
setzt die Tätigkeit des Unbewußten wieder energisch ein.
Na
Der Kampf um die Befreiung von der Mutter.
& Es erscheint ein Wald, Bäume und Gebüsche. Nach den Er-
Orterungen des vorangegangenen Kapitels bedarf es hier nur noch des
Wandlungen und Symbole der Libido. 817
Hinweises, daß das Waldsymbol im wesentlichen mit der Bedeutung
des heiligen Baumes zusammenfällt. Der heilige Baum findet sich meist.
in einem heiligen Waldbezirk oder Paradiesesgarten. Der heilige Hain
steht öfter an Stelle des Tabubaumes und übernimmt alle Eigenschaften.
des letzteren. (Vgl. auch das oben über #4n Gesagte.) Die erotische
Symbolik des Gartens ist allbekannt. Der Wald hat mythologisch
Mutterbedeutung wıe der Baum. In der nunmehr folgenden Vision
bildet der Wald die Szene, auf der die dramatische Darstellung des
Endes Chiwantopels sich abspielen wird. Dieser Akt spielt also an
oder in der Mutter.
Ich setze zunächst den Anfang des Dramas im Urtext hierher,
soweit der erste Opferversuch reicht. Am Anfang des nächsten Kapitels
findet der Leser die Fortsetzung, den Monolog und die Opferszene.
Es dürfte ratsam sein, schon hier den weiteren Verlauf des Dramas
Ins Auge zu fassen.
„Le personnage Chiwantopel surgit du midi, & cheval avec autour
de In une couverture aux vives couleurs, rouge, bleue et blanche. Un Indien
dans un costume de peau de daim ä perles, et orn& de plumes s’avance en
se blotissant et se pr&pare a tirer une flöche contre Chiwantopel. Celui-ci
presente sa poitrine dans une attitude de defi, et I’Indien fascine & cette
vue, S’esquive et disparait dans la for&t‘“.
Der Held Chiwantopel erscheint zu Pferde. Diese Tatsache
erscheint von Belang, da, wie der weitere Verlauf des Dramas zeigt,
(siehe Kap. VII) das Pferd keine gleichgültige Rolle spielt, sondern
den gleichen Tod erleidet wie der Held und von diesem sogar als ‚treuer
Bruder‘ bezeichnet wird. Diese Andeutungen weisen auf eine bemerkens-
werte Ähnlichkeit von Roß und Reiter hin. Es scheint zwischen beiden
ein innerer Zusammenhang zu existieren, der sie zum gleichen Schicksal
führt. Wir sahen bereits, daß die Symbolisierung der ‚Libido im Wider-
stand‘ durch die furchtbare Mutter an einigen Stellen parallel geht
mit dem Pferd!). Es wäre, genau genommen, unrichtig, zu sagen, das
Pferd sei oder bedeute die Mutter. Das Mutterbild ist ein Libidosymbol
und ebenso ist das Pferd ein Libidosymbol und an einigen Punkten
begegnen sich die beiden Symbole im Wege der Begriffsüberschneidung.
Das Gemeinsame der beiden Bilder aber liegt in der Libido, speziell
ı) Hexen verwandeln sich gerne in Pferde, daher man an ihren Händen
Nägelmale von Hufbeschlag entdecken kann. Der Teufel reitet auf den Hexen-
pferden, Pfaffenköchinnen werden nach dem Tode in Pferde verwandelt. Negelein:
Zeitschrift des Vereines für Volkskunde, XI, S. 406 ff.
318 GC. G. Jung.
in der aus dem Inzest verdrängten Libido. In dieser Fassung erscheint
uns also der Held und sein Pferd als eine künstlerische Gestaltung
der Idee des Menschen mit seiner verdrängten Libido, wobei dem
Pferde die Bedeutung des animalischen Unbewußten zukäme, das
gezähmt und dem Willen des ‚Menschen unterworfen erscheint.
(Parallele Darstellungen wären Agni auf dem Widder, Wotan auf
Sleipnir, Ahuramazda auf Angromainyu!), Jahwe auf dem monströsen
Seraph, Christus auf dem Esel?), Dionysos auf dem Esel, Mithras auf
dem Pferd, Löwe und Schlange, seine symbolischen Tiere, danebenher
eilend, Men auf menschenfüßigem Pferd, Freir auf dem goldborstigen
Eber usw.) Den mytholopischen Reittieren wohnt immer auch eine
große Bedeutung inne, indem sie sehr oft anthropomorphisiert er-
scheinen: So hat Mens Pferd menschliche Vorderbeine, Bileams Esel
menschliche Sprache, der enteilende Stier, dem Mithras auf den Rücken
springt, um ihn niederzustechen (Taurokathapsie®?), ist eigentlich
nach persischer Legende der Gott selbst. Das Spottkruzifix vom Palatin
stellt den Gekreuzigten mit einem Eselskopf dar (vielleicht in An-
lehnung an die antike Legende, daß im Tempel von Jerusalem das
Bild eines Esels verehrt wurde). Als Drosselbart (d. h. Pferdebart)
ist Wotan halb Mensch, halb Pferd?). Auch läßt ein altes deutsches
Rätsel diese Einheit von Roß und Reiter?) sehr hübsch erkennen:
„Wer sind die zwei, die zum Thing fahren? Drei Augen haben sie zu-
sammen, zehn Füße®) und einen Schweif und reisen so über Land“.
Die Sagen schreiben dem Pferd Eigenschaften zu, welche psycho-
logisch dem Unbewußten des Menschen zukommen: Pferde sind
hellsehend und hellhörend, sie sind Wegweiser, wo der Verirrte sich
nicht zu helfen weiß, sie sind von mantischer Fähigkeit; Ilias 19 führt
das Pferd unheilverkündende Rede; sie hören die Worte, welche die
!) Ebenso reitet der sagenhafte Urkönig Tahmuraht auf Ahriman, dem
Teufel.
?) Die Eselin und ihr Füllen dürften dem christlichen Sonnenmythus an-
gehören, indem das Zodion Cancer ( Sommersolstitium) antik als Esel und sein
Junges bezeichnet wurde. (Vgl. Robertson: Evang. Myth., S. 19.
®) Das Bild ist wohl aus dem Zirkus genommen. Noch hat der spanische
Matador heroenhafte Bedeutung. Sueton (Claud. 21): Feros tauros per spatia
eirei agunt insiliuntque defessos et ad terram cornibus detrahunt.
*) Also zentaurisch.
AEG °) Vgl. die erschöpfende Darstellung dieses Themas bei Jähns: Roß und
eiter.
°) Sleipnir ist achtfüßig.
Wandlungen und Symbole der Libido. 819
Leiche spricht, wenn sie zu Grabe getragen wird, was die Menschen
nicht hören; Caesar erfährt von seinem menschenfüßigen Roß (wahr-
scheinlich hergenommen aus einer Identifikation Caesars mit dem
phrygischen Men), daß er die Welt erobern werde. Ein Esel prophezeit
dem Augustus den Sieg von Actium. Das Pferd sieht auch Gespenster.
Alle diese Dinge entsprechen typischen Manifestationen des Un-
bewußten. Daher es auch ganz verständlich ist, wenn das Pferd als
das Bild der (bösen) tierischen Komponente des Menschen reichlich
Beziehungen zum Teufel hat. Der Teufel hat einen Pferdefuß, unter
Umständen auch Pferdegestalt. In kritischen Momenten zeigt er plötz-
lich den Pferdefuß (sprichwörtlich), wie bei Haddings Entführung
Sleipnir plötzlich hinter dem Mantel Wotans hervorschaut!). Wie der
Mar den Schlafenden reitet, so tut’s auch der Teufel, daher es heißt,
die vom Alp Befallenen seien vom Teufel geritten (daher die sprich-
wörtliche Redensart). Im Persischen ist (vgl. oben) der Teufel das
Reittier Gottes. Der Teufel repräsentiert, wie alles Böse, auch die
Sexualität, daher die Hexen mit ihm Umgang haben, wobei er in Bocks-
oder Pferdegestalt auftritt. Die unverkennbar phallische Natur des
Teufels teilt sich auch dem Pferde mit, daher dieses Symbol in Zu-
sammenhängen auftritt, wo nur diese Bedeutung erklärend wirkt.
Es ist voranzuschicken, daß Loki in Rossesgestalt zeugt, wie der Teufel,
der in Pferdegestalt dasselbe tut, als alter Feuergott. So wird auch der
Blitz theriomorph dargestellt als Pferd?). Eine ungebildete Hysterika
erzählte mir, daß sie als Kind an heftiger Gewitterangst gelitten habe,
weil sie jedesmal da, wo ein Blitz eingeschlagen hatte, unmittelbar
darauf ein ungeheures bis an den Himmel reichendes schwarzes Pferd
gesehen habe?). So heißt es auch in der Sage, daß der Teufel als Blitz-
gottheit den Pferdefuß (Blitz) auf die Dächer werfe. Gemäß der
uralten Bedeutung des Gewitters als Erdbefruchtung kommt dem Blitz
respektive dem Pferdefuß phallische Bedeutung zu. Tatsächlich hat
auch der Pferdefuß mythologisch die phallische Funktion, wie im
Traum: Eine ungebildete Patientin, die von ihrem Mann ursprünglich
sehr gewalttätig zum Koitus gezwungen worden war, träumte (nach der
Trennung!) öfter, ein wildes Pferd springe über sie und trete ihr mit
dem Hinterfuß in den Leib. Plutarch hat folgende Gebetsworte aus
den Dionysosorgien übermittelt: 2ideiv Nows Alövvoe "Alıov Es vaon
!) Negelein: l. c., S. 412.
2) Negelein: ]. c., S. 419.
3) Ich habe seither noch einen zweiten ganz ähnlichen Fall erfahren.
320 C. G. Jung.
äyvöv ovdv Kaplıeoow Es vaor ı@ Bo&w noöl Vbwv, AfıE Tadpe, üıe tadoe.
(,, Komm, o Dionysos, in deinen Tempel zu Elis, komm mit den Chariten
in deinen heiligen Tempel, tobend (orgiastisch rasend) mit dem Stier-
fußt)‘“. Pegasus schlägt mit dem Fuß die Hippokrene, eine Quelle,
aus dem Boden. Auf einem korinthischen Steinbild des Bellerophontes,
das zugleich Fontäne war, floß das Wasser aus dem Huf des Pferdes
heraus. Auch Balders Roß eröffnet durch seinen Tritt eine Quelle.
So ist der Pferdefuß der Spender des fruchtbaren Nasses?). Eine nieder-
österreichische Sage bei Jähns (l. c. $. 27 ) erwähnt, daß man zuweilen
einen riesigen Mann auf weißem Pferde über die Berge reiten sehe,
was baldigen Regen bedeute. In der deutschen Sage kommt Frau Holle,
die Geburtsgöttin, auf dem Pferd. Schwangere in Geburtsnähe pflegen
einem Schimmel Hafer in ihrer Schürze zu geben und ihn zu bitten,
für baldige Entbindung zu sorgen; ursprüngliche Sitte war es, daß
das Pferd das Genitale der Frau zu berühren hatte. Das Pferd hatte
überhaupt (wie der Esel) die Bedeutung eines priapischen Tieres?).
Roßtrappen sind segen- und fruchtspendende Idole. Roßtrappen
wirkten besitzgründend und hatten grenzsetzende Bedeutung, wie die
Priape des lateinischen Altertums. Wie die phallischen Daktyle hat
ein Pferd mit seinem Huf den Metallreichtum des Harzes aufgedeckt.
Das Hufeisen, eine Abkürzung für Pferdefuß®), hat glückbringende
und apotropäische Bedeutung. In den Niederlanden wird ein ganzer
Pferdefuß im Stall gegen Zauber aufgehängt. Die analoge Wirkung
des Phallus ist bekannt, daher die Torphalli. Besonders wendete die
Pferdekeule den Blitz ab, nach dem Grundsatz: Similia similibus.
Pferde symbolisieren auch den Wind, h. h. das Tertium com-
parationis ist wiederum das Libidosymbol. Die deutsche Sage kennt
den Wind als den nach den Mädchen lüsternen wilden Jäger. Stürmische
Punkte leiten ihren Namen gern von Pferden (Hingstbarge) ab, so
die Schimmelberge der Lüneburgerheide. Die Zentauren sind typische
Windgötter, wie sie auch die künstlerische Intuition Böcklins dar-
gestellt hat?).
Pferde bedeuten auch Feuer und Licht. Beispiel sind die
‘) Preller: Griech. Mythol., I, I, S. 432. I. Aufl.
°) Weitere Beispiele siehe bei Aigremont: Fuß- und Schuhsymbolik.
») Aigremont: |. c., 8. 17.
*) Negelein: l. c., S. 386 £.
°) Ausführliche Nachweise über die Zentauren als Windgötter finden sich
bei E. H. Meyer: Indogermanische Mythen., S. 447 ff.
Wandlungen und Symbole der Libido. 32l
feurigen Pferde des Helios. Des Hektor Rosse heißen Xanthos (gelb,
hell), Podargos (schnellfüßig), Lampos (leuchtender) und Aithon (bren-
nender). Eine ganz ausgesprochene Feuersymbolik wird repräsentiert
durch die bei Dio Chrysostomus erwähnte mystische Quadriga!):
Der höchste Gott führt seinen Wagen immer im Kreise. Der Wagen
ist mit 4 Pferden bespannt. Das an der Peripherie gehende Pferd be-
wegt sich sehr schnell. Es hat eine glänzende Haut und trägt darauf
die Zeichen der Planeten und der Sternbilder?). (Ein Bild des
drehenden Feuerhimmels.) Das zweite Pferd geht etwas langsamer
und ist nur auf der einen Seite beleuchtet. Das dritte Pferd geht noch
langsamer und das vierte dreht sich um sich selbst. Einmal aber setzt
das äußerste Pferd mit seinem feurigen Atem die Mähne des zweiten
in Brand und das dritte überflutet mit strömendem Schweiß das vierte.
Dann lösen sich die Pferde auf und gehen in die Substanz des Stärksten
und Feurigsten über, welches nun zum Wagenlenker wird. Die Pferde
stellen auch die 4 Elemente dar. Die Katastrophe ist Weltbrand und
Sintflut, worauf die Spaltung des Gottes in das Vielerlei aufhört und
die göttliche Einheit wiederhergestellt wird?). Unzweifelhaft ist die
Quadriga auch astronomisch als ein Zeitsymbol zu verstehen. Wir
sahen ja bereits im Ersten Teil, daß die stoische Vorstellung von Schicksal
ein Feuersymbol ist. Es ist daher eine konsequente Durchführung des
Gedankens, wenn die dem Schicksalsbegriff nahverwandte Zeit dieselbe
Libidosymbolik aufweist.
Brihädaranyaka-Upanishad 1, 1 sagt:
„Die Morgenröte, wahrlich, ist des Opferrosses Haupt, die Sonne sein
Auge, der Wind sein Odem, sein Rachen das allverbreitete Feuer, das
Jahr ist der Leib des Opferrosses. Der Himmel ist sein Rücken,
der Luftraum seine Bauchhöhle, die Erde seines Bauches Wölbung, die
Pole sind seine Seiten, die Zwischenpole seine Rippen, die Jahreszeiten
seine Glieder, die Monate und Halbmonate seine Gelenke, Tage
und Nächte seine Füße, die Gestirne seine Gebeine, das Gewölk sein
1) Or. XXXVI, $39 ff. (Zitiert Cumont: Myst. d. Mithra, S. 87, I. Aufl.)
2) Dies ist ein besonderes Motiv, das etwas Typisches an sich haben muß.
Meine Patientin (Psychologie der Dementia praecox, 8.165) gab ebenfalls an,
daß ihre Pferde ‚‚Halbmonde“ unter der Haut hätten, ‚‚wie Löckchen“, In
den Rudraliedern des Rigveda heißt es vom Eber Rudra, daß seine Haare ‚‚in
Muschelform aufgewunden“ seien. Indras Körper ist mit Augen bedeckt.
®) Diese Veränderung erfolgt durch eine Weltkatastrophe. In der Mythologie
bedeutet das Grünen und das Absterben des Lebensbaumes auch den Wende-
punkt in der Folge der Zeitalter.
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen. IV. er!
322 C. G. Jung.
Fleisch. Das Futter, das es verdaut, sind die Sandwüsten, die Flüsse seine
Adern, Leber und Lungen die Gebirge, die Kräuter und Bäume seine
Haare, die aufgehende Sonne ist sein Vorderteil, die niedergehende sein
Hinterteil.‘“ — „Der Ozean ist sein Verwandter, der Ozean seine Wiege.‘
„Hier finden wir das Pferd unzweifelhaft als Zeitsymbol gedeutet,
daneben auch als die ganze Welt. Wir begegnen auch in der mithrischen
Religion einem sonderbaren Zeitgott, dem Aion, Kronos oder auch
Deus leontocephalus genannt, weil seine stereotype Darstellung eine
löwenköpfige Menschengestalt ist, die, in steifer Haltung dastehend,
von einer Schlange umschlungen ist, deren Kopf von hinten über dem
Löwenkopf nach vorn ragt. Die Figur hält in den Händen je einen
Schlüssel, auf der Brust ruht der Donnerkeil, auf dem Rücken befinden
sich die 4 Flügel der Winde, außerdem trägt die Gestalt etwa auch die
Zodia am Körper. Beigaben sind Hahn und Werkzeuge. Im karo-
lingischen Psalterium von Utrecht, das antike Vorlagen hatte, ıst
Saeculum-Aion als ein nackter Mann mit einer Schlange in der Hand
dargestellt!).
Wie schon der Name der Gottheit andeutet, ist er ein Zeitsymbol,
das interessanterweise aus Libidosymbolen zusammengesetzt ist.
Der Löwe, das Zodion der höchsten Sommerhitze?), ist das Symbol
des mächtigsten Begehrens. (‚Meine Seele brüllt mit eines hungrisen
Löwen Stimme;“ Mechthild von Magdeburg.) Die Schlange ist im
Mithrasmysterium. öfter antagonistisch zum Löwen, entsprechend jener
höchst allgemeinen Mythe vom Kampf der Sonne mit dem Drachen.
Im ägyptischen Totenbuch wird Tum sogar als Kater bezeichnet,
weil er als solcher die Apophisschlange bekämpft. Die Umschlingung
ist auch, wie wir sahen, die Verschlingung, das Eingehen in den
Mutterleib. So ist die Zeit definiert durch das Unter- und Aufgehen
der Sonne, d. h. durch das Absterben und die Wiedererneuerung der
Libido. Die Beigabe des Hahnes deutet wiederum auf die Zeit und die
der Werkzeuge auf das Schaffende der Zeit. („Duree cereatrice“
Bergson.) ÖOromazdes und Ahriman werden durch Zrwanakarana,
die „unendlich lange Dauer erzeugt“. Die Zeit, dieses Leere und ledig-
lich Formale, wird im Mysterium also durch die Wandlungen der
!) Cumont: Text. et Mon., I, 8. 76.
°) Daher wird der Löwe von Simson getötet und später erntet Simson
den Honig aus dem Leichnam. Das Ende des Sommers ist die Fruchtbarkeit des
Herbstes. Es ist eine genaue Parallele zum sacrificium mithriacum. Zu Simson
vgl. Steinthal: Die Sage von Simson. Zeitschrift für Völkerpsych., Bd. Il.
Wandlungen und Symbole der Libido. 329
schaffenden Kraft, der Libido, ausgedrückt. Maerobius (I, 20, $ 15)
sagt: „„Leonis capite monstratur praesens tempus — quia conditio
ejus valida fervensque est.‘ Philo von Alexandrien weiß es besser:
„Tempus ab hominibus pessimis putatur deus volentibus Ens essen-
tiale abscondere — pravis hominibus tempus putatur causa rerum mundi,
sapientibus vero et optimis non tempus sed Deust).‘“
Bei Firdusi?) ist die Zeit öfter das Symbol des Schicksals, dessen
Libidonatur wir bereits kennen gelernt haben. Der obenerwähnte
indische Text geht allerdings noch weiter; sein Pferdesymbol enthält
alle Welt in sich, sein Verwandter und seine Wiege ist das Meer, die
Mutter, gleichgesetzt der Weltseele, deren mütterliche Bedeutung wir
oben gesehen haben. Wie der Aion die Libido in der Umschlingung, d.h.
im Stadium des Todes und der Wiedergeburt darstellt, so ist auch hier
die Wiege des Pferdes das Meer, d. h. die Libido ist in der Mutter,
sterbend und wiedererstehend, wie das Symbol des Christus, der als
reife Frucht am Lebensbaume hängt, sterbend und wiedererstehend.
Wir haben bereits gesehen, daß das Pferd durch Yggdrasil mit
der Baumsymbolik zusammenhängt. Das Pferd ıst auch em ‚‚Toten-
baum“; so hieß im Mittelalter die Totenbahre St. Michaelspferd und
Neupersisch bedeutet das Wort für Sarg ‚„hölzernes Pferd‘). Das
Pferd hat auch die Rolle des Psychopompos, es ist das Reittier zum
Jenseitsland; Pferdeweiber holen die Seelen (Walküren). Neu-
griechische Lieder stellen Charon zu Pferde dar. Diese Bestimmungen
führen, wie ersichtlich, zur Muttersymbolik hinüber. Das trojanische
Pferd war das einzige Mittel, mit dem die Stadt bezwungen werden
konnte, weil nur der ein unüberwindlicher Held ist, der in die Mutter
hineingegangen und wiedergeboren ist. Das trojanische Pferd ist eine
Zauberhandlung, wie das Notfeuer, welches auch dazu dient, die
Notwendigkeit zu bezwingen. Die Formel lautet offenbar: Um diese
Schwierigkeit zu bewältigen, mußt du den Inzest begehen
und noch einmal aus deiner Mutter geboren werden. Es
scheint, daß das Einschlagen eines Nagels in den heiligen Baum etwas
1) Philo: In Genesim, I, 100. (Zitiert Cumont: Text. et Mon., I, S. 82.)
2) Spiegel: Erän. Altertumskunde. HI, 193. In der dem Zoroaster
zugeschriebenen Schrift Ilegi ®boewg wird die Ananke, die Schicksalsnot-
wendigkeit, durch die Luft dargestellt. Cumont: ]. e., I, S. 87.
?) Spielreins Pat. (Jahrbuch, III, S. 394) spricht von Pferden, die
Menschen, sogar ausgegrabene Leichen fressen.
21*
334 Ö. G. Jung.
Ähnliches bedeutete. Ein solches Palladium scheint der ‚‚Stock im Eisen“
in Wien gewesen zu sein.
Noch einer Symbolform ist zu gedenken: Gelegentlich reitet der
Teufel auf einem dreibeinigen Pferd. Die Todesgöttin Hel reitet
in der Pestzeit ebenialls auf einem dreibeinigen Pferd!). Dreibeinig ist
der riesige Esel, der im himmlischen Regensee Vourukasha steht,
dessen Urin das Wasser des Sees reinigt, und von dessen Gebrüll alle
nützlichen Tiere schwanger werden und alle schädlichen Tiere abortieren.
Die Triade weist wieder auf das Phallische hin. Die gegensätzliche
Symbolik bei Hel ist in ein Bild verschmolzen bei dem Esel des Vou-
rukasha. Die Libido ist ebensowohl befruchtend wie zerstörend.
Diese Bestimmungen lassen in ihrer Gesamtheit klar die Grund-
züge wieder erkennen: Das Pferd ist ein Libidosymbol von teils phal-
lischer, teils Mutterbedeutung, wie der Baum, repräsentiert also Libido
in dieser Anwendung, nämlich die durch das Inzestverbot verdrängte
Libido. |
De::ı Helden im Millerschen Drama rähert sich ein Indianer,
bereit einen Pfeil auf ihn abzuschießen. Chiwantopel aber zeigt dem
Feinde die Brust mit stolzer Gebärde. Dieses Bild erinnert die Autorin
an die Szene zwischen Cassius und Brutus in Julius Caesar von
' Shakespeare?). Es hat sich ein Mißverständnis zwischen den beiden
Freunden erhoben, indem Brutus dem Cassius vorwirft, daß er ihm
das Geld für die Legionen verweigere. Cassius, empfindlich und gereizt,
bricht in die Klageworte aus:
„Komm, Marc Anton, und komm, Octavius nur!
Nehmt eure Rach’ allein an Cassius,
Denn Cassius ist des Lebens überdrüssig:
Gehaßt von einem, den er liebt; getrotzt
Von seinem Bruder; wie ein Kind gescholten.
Man späht nach allen meinen Fehlern, zeichnet
Sie in ein Denkbuch, lernt sie aus dem Kopf,
Wirft sie mir in die Zähne. — O ich könnte
Aus meinen Augen meine Seele weinen!
Da ıst mein Dolch, hier meine nackte Brust ;
Ein Herz drin, reicher als des Plutus Schacht
Mehr wert als Gold: wo du ein Römer bist,
So nimm’s heraus. Ich, der dir Gold versagt,
2
’) Negelein: 1. e., S. 416.
®) IV. Aufzug. II. Szene.
Wandlungen und Symbole der Libido. 329
Ich biete dir mein Herz. Stoß zu, wie einst
Auf Caesar! Denn ich weiß, daß du am ärssten
Ihn haßtest, liebtest du ihn mehr, als je
Du Cassius geliebt.“
Das hierher gehörige Material wäre unvollständig, wenn man nicht
erwähnte, daß diese Rede des Cassius mehrere Analogien aufweist
zu dem agonalen Delir des Cyrano (vgl. Erster Teil), nur daß Cassius
bei weitem theatralischer und übertriebener ist. In seiner Art liegt sogar
etwas Kindliches und Hysterisches. Brutus denkt ja nicht daran, ihn zu
töten, sondern verabreicht ihm eine sehr kalte Douche im folgenden
Dialog:
Brutus: „Steckt euren Dolch ein! |
Seid zornig, wenn ihr wollt, es steh’ euch frei!
Tut, was ihr wollt: Schmach soll für Laune gelten.
O Cassius! Einem Lamm seid Ihr gesellt,
Das so nur Zorn hegt, wie der Kiesel Feuer,
Der, viel geschlagen, flücht’ge Funken zeigt
Und gleich drauf wieder kalt ist.
Cassius: „Lebt ich dazu,
Ein Schmerz nur und Gelächter meinem Brutus
Zu sein, wenn Gram und böses Blut mich plast?
Brutus: „Als ich das sprach, hatt’ ich auch böses Blut.
Cassıus: „Gesteht Ihr soviel ein® Gebt mir die Hand!
Brutus: „Und auch mein Herz.
Cassıus: „O Brutus!
Brutus: ‚Was verlangt Ihr?
Cassius: „Liebt Ihr mich nicht genug, Geduld zu haben,
Wenn jene rasche Laune, von der Mutter
Mir angeerbt, macht, daß ich mich vergesse?
Brutus: ‚Ja, Cassius; künftig, wenn Ihr allzu streng
„Mit Eurem Brutus seid, so denkt er,
Die Mutter schmäl’ aus Euch und läßt Euch gehn.“
Die analytische Aufklärung der Empfindlichkeit des Cassius
führt zur Erkenntnis, daß er sich in diesen Momenten mit der Mutter
identifiziere und sich daher recht weiblich benehme, wie das ja seine
Rede ausgezeichnet dartut. Denn seine weibische, um Liebe werbende
und verzweiflungsvolle Unterwerfung unter den männlichen trotzigen
Willen des Brutus berechtigt letzteren zu der freundlichen Bemerkung,
daß Cassius einem Lamm gesellt sei, d. h. noch etwas sehr Untüchtiges
in seinem Charakter habe, welches von der Mutter stamme. Man er-
kennt hierin unschwer den analytischen Tatbestand einer infantilen
326 C. G. Jung.
Disposition, die, wie immer, durch ein Prävalieren der Elternimago,
hier der Mutterimago, gekennzeichnet ist. Ein infantiles Individuum
ist darum infantil, weil es sich nur ungenügend oder gar nicht aus der
Kindheitsumgebung, d. h. von seiner Elternanpassung befreit hat,
daher es fälschlicherweise der Welt gegenüber einerseits so reagiert,
wie ein Kind den Eltern gegenüber, immer Liebe und sofortige Gefühls-
belohnung heischend;; anderseits durch die enge Bindung an die Eltern
mit diesen identifiziert, benimmt sich der Infantile wie der Vater und
wie die Mutter. Er ist nicht imstande, sich selbst zu leben und seinen
ihm zugehörigen Typus zu finden. Weshalb Brutus sehr richtig an-
rimmt, ‚‚die Mutter schmäl”“ aus Cassius, er sei’s nicht selbst. Der
‚psychologisch wertvolle Tatbestand, den wir hier erheben, ist der Nach-
weis, daß Cassius infantil und mit der Mutter identifiziert
ist. Das hysterische Benehmen fällt dem Umstande zur Last, daß
Cassius zum Teil noch Lamm ist, also unschuldvolles und gänzlich
harmloses Kind; er ist also, was sein Gefühlsleben anbetrifft, hinter
sich selber noch zurückgeblieben, wie wir solches öfter sehen bei
Menschen, die anscheinend als Mächtige das Leben und die Mitmenschen
beherrschen: sie sind den Anforderungen ihrer Liebesgefühle gegenüber
Kinder geblieben.
Die Figuren des Millerschen Dramas als Kinder der Phantasie
der Schöpferin schildern natürlich alle diesen oder jenen Charakter-
zug, der der Autorin zugehört. Am ehesten wird der Held die Wunsch-
figur repräsentieren, denn der Held vereinigt immer alle erwünschten
Ideale in sich. Die Geste Cyranos!) ist gewiß schön und eindrucksvoll,
die Geste des Cassius hat theatralischen Effekt. Beide Helden schicken
sich an, effektvoll zu sterben, was Cyrano gelingt. Diese Geste schildert
einen Todeswunsch im Unbewußten unserer Autorin, dessen Bedeutung
wir anläßlich ihres Gedichtes von der Motte bereits ausführlich be-
sprochen haben. Das Sterbenwollen junger Mädchen ist nur ein indi-
rekter Ausdruck, der auch Pose bleibt, wenn wirklich gestorben wird,
denn auch der Tod kann posiert werden. Durch solchen Ausgang ge-
winnt die Pose nur an Schönheit und Wert — unter Umständen. Daß
der höchste Gipfel des Lebens durch die Symbolik des Todes ausgedrückt
wird, ist eine bekannte Tatsache, denn das Schaffen über sich selber
hinaus bedeutet den eigenen Tod. Die kommende Generation ist das
Ende der vorangehenden. Diese Symbolik ist auch der erotischen
!) Vgl. erster Teil.
Wandlungen und Symbole der Libido. 327
Sprache geläufig. Zu den deutlichsten Beispielen gehört das laszive
Gespräch zwischen Lucius und der buhlerischen Masd bei Apulejus
(Metamorph. lib. II, 32):
„Proeliare, inquit, et fortiter proeliare: nec enim tibi cedam, nec terga
vortam. Cominus in aspectum, si vir es, dirige; et grassare naviter, et occide
moriturus. Hodierna pugna non habet missionem. — »Bimul ambo
corruimus inter mutuos amplexus animas anhelantes.“
Diese Symbolik ist überaus bedeutsam, weil sie zeiot, wie
leicht ein gegensätzlicher Ausdruck zustande kommt und wie ver-
ständlich und bezeichnend zugleich ein derartiger Ausdruck ist. Die
stolze Geste, mit der der Held sich dem Tode darbietet, kann sehr
wohl auch indirekter Ausdruck sein, der um das Mitleid oder die Auf-
regung des andern buhlt und so der kühlen analytischen Reduktion,
wie sie Brutus vornimmt, verfiele. Auch Chiwantopels Geste ist ver-
dächtig, denn die Cassiusszene, die ihr zur Vorlage dient, verrät indis-
kreterweise, daß die ganze Sache bloß infantil sei und einer zu aktiven
Mutterimago ihr Dasein verdanke. Wenn wir dieses Stück zusammen-
halten mit der im vorigen Kapitel aufgedeckten Reihe von Mutter-
symbolen, dann müssen wir sagen, daß die Gassiusszene uns bloß noch-
mals bestätigt, was wir längst vermuteten, daß nämlich die treibende
Kraft dieser symbolischen Visionen einer infantilen Mutterübertragung,
d. h. einer unabgelösten inzestuösen Bindung an die Mutter entstamme.
Im Drama nimmt nun, im Gegensatz zu der inaktiven Natur der
vorausgehenden Symbole, die Libido eine drohende Aktivität an,
indem ein Konflikt offenbar wird, worin der eine Teil den andern mit
Mord bedroht. Der Held, als das Idealbild der Träumerin, ist geneigt
zu sterben, er fürchtet den Tod nicht. Entsprechend dem Infantil-
charakter dieses Helden, wäre es gewiß an der Zeit, daß er endlich
vom Schauplatz abträte (in infantiler Sprache ‚„stürbe‘). Der Tod soll
ihm gebracht werden in Form eines Pfeilschusses. In Anbetracht des
Umstandes, daß die Helden sehr oft selber große Pfeilschützen sind
oder Pfeilschüssen erliegen (Typus St. Sebastian), dürfte es nicht über-
flüssig sein, danach zu fragen, was der Tod durch den Pfeilschuß
bedeute.
Wir lesen in der Biographie der hysterischen Nonne und stig-
matisierten Katharina Emmerich!) S. 63 folgende Beschreibung ihres
(offenbar neurotischen) Herzleidens. |
1) P. Thomasa Villanova Wegener: Das wunderbare äußere und innere
Leben der Dienerin Gottes Anna Catherina Emmerich, usw. Dülmen i. W., 1891.
328 ©. G. Jung.
„„Sie erhielt nämlich schon im Noviziate als Weihnachtsgeschenk
vom heiligen Christ ein gar sehr peinigendes Herzleiden für die ganze Zeit
ihres Ordenslebens. Gott zeigte ihr im Innern den Zweck, es sei für den
Verfall des Ordensgeistes, insbesondere für die Sünden ihrer Mitschwestern.
Was aber dieses Leiden am peinigendsten machte, war ihre Gabe, welche
sie von Jugend auf besessen hatte, nämlich das innere Wesen der Menschen
nach seiner Wahrheit vor Augen zu sehen. Das Herzleiden empfand sie
körperlich, als werde ihr Herz beständig von Pfeilen durchbohrt!).
Diese Pfeile — und das war das noch schlimmere geistige Leiden — er-
kannte sie aus der Nähe als die Gedanken, Pläne, geheimen Reden von
Mißdeutungen, Verleumdungen, Lieblosigkeiten, worin ihre Mitschwestern
ganz grund- und gewissenlos gegen sie und ihren gottesfürchtigen Wandel
begriffen waren.“
Es ist schwer, eine Heilige zu sein, denn eine derartige Ver-
gewaltigung erträgt auch die geduldige und langmütige Natur nur sehr
schlecht und verteidigt sich auf ihre Art. Das Gegenstück zur Heiligkeit
sind die Versuchungen, ohne die doch kein rechter Heiliger leben kann.
Wir wissen aus psychoanalytischer Erfahrung, daß diese Versuchungen
auch unbewußt verlaufen können, so daß nur Äquivalente davon in
Form von Symptomen dem Bewußtsein zugeführt werden. Wir wissen
es schon sprichwörtlich, daß Herz und Schmerz sich reimen. Es ist eine
längst bekannte Tatsache, daß die Hysterie an Stelle eines seelischen
Schmerzes einen körperlichen setzt. Das hat der Biograph der Emmerich
ganz richtig aufgefaßt. Nur ist ihre Deutung der Schmerzen wie ge-
wöhnlich eine projizierte: Es sind immer die andern, welche heimlich
allerhand Übles von ihr behaupten und dies macht ihr angeblich die
Schmerzen?). Die Sache liegt aber etwas anders: Der ganze schwere
Verzicht auf alle Freuden des Lebens, dieses Absterben vor der Blüte,
ist das Schmerzhafte im allgemeinen, und im besondern sind es die un-
erfüllten Wünsche und die Versuche der animalischen Natur, die Macht
der Verdrängung zu durchbrechen. Natürlich spielt das Herumklatschen
und Sticheln der Mitschwestern liebevoll und ausgerechnet immer
auf diese peinlichsten Dinge an, so daß es der Heiligen erscheinen mußte,
als kämen ihre Beschwerden davon her. Sie konnte natürlich nicht wissen,
daß das Gerücht gern die Rolle des Unbewußten übernimmt, das wie
ein geschickter Gegner immer auf die tatsächlichen, selber schmerzlich
empfundenen Lücken unseres Panzers zielt. | |
') Das Herz der Gottesmutter ist von einem Sehwert durchbohrt.
*) Entsprechend dem Bilde im Psalm 11, 2: ‚„‚„Denn siehe, die Gottlosen
spannen den Bogen und legen ihre Pfeile auf die Sehnen, damit heimlich zu schießen
die Frommen.“ |
Wandlungen und Symbole der Libido. 929
In diesem Sinne drückt sich ein Passus aus den Versreden Gotamo
Buddhos aust):
Ein Wunsch doch wieder, ernst erwünscht,
Im Willen aufgezeugt, genährt,
Und muß allmählich sein gemißt
Wie Pfeil im Fleische wühlt er wild.
Die verwundenden und schmerzhaften Pfeile kommen nicht
von außen durch Gerüchte, die doch immer nur von außen angreifen,
sondern sie kommen aus dem Hinterhalt, aus unserem eigenen Un-
bewußten. Das schafft das wehrlose Leiden, nicht das, was von außen
an uns herankommt. Die eigenen verdrängten und nicht an-
. erkannten Wünsche sind es, die wie Pfeile in unserem
Fleisch stecken?). In einem andern Zusammenhang wird dies auch
für unsere Nonne klar, und zwar sehr buchstäblich. Es ist eine bekannte
Tatsache, die für den Wissenden keiner weiteren Belege bedarf, daß
jene mystischen Vereinigungsszenen mit dem Heiland in der Regel
von einem enormen Betrag an Sexuallibido durchsetzt sind®). Es ist
daher nicht erstaunlich, daß die Stigmatisationsszene nichts als eine
Inkubation durch den Heiland ist, nur wenig metaphorisch verändert
gegenüber der antiken Auffassung der Unio mystica als einer cohabitatio
mit dem Gotte: Die Emmerich erzählt von ihrer Stigmatisation
folgendes: (8. 77 bis 78.)
„Ich hatte eine Betrachtung der Leiden Christi und flehte ihn an,
mich doch sein Leiden auch mitempfinden zu lassen, und betete fünf Vater-
unser zu Ehren der heiligen fünf Wunden. Ich kam, mit ausgebreiteten
Armen im Bette liegend, in eine große Süßigkeit und in einen unendlichen
Durst nach den Schmerzen Jesu. Da sah ich ein Leuchten auf mich nieder-
kommen, es kam schräg von oben. Es war ein gekreuzister Körper, ganz
1) K. E. Neumann: Die Reden Gotamo Buddhos aus der Sammlung der
Bruchstücke Suttanipäto des Päli-Kanons übersetzt. München 1911.
2) In demselben Sinne eines endogenen Schmerzes nennt Theokrit 27, 28
die Geburtswehen: ‚‚„Geschosse der Dithyia“. Im Sinne eines Wunsches findet
sich dasselbe Gleichnis bei Jesus Sirach 19, 12: ‚‚Wenn ein Wort im Narren
steckt, so ist’s eben, als wenn ein Pieil in der Hüfte steckt.“ D.h., es läßt ihm keine
Ruhe, als bis es heraus ist.
3) Man wäre versucht zu sagen, es seien bloß uneigentlich ausgedrückte
Koitusszenen. Dies wäre aber eine zu starke und nicht zu rechtfertigende Be-
tonung des Ausgangsmaterials. Man darf nicht vergessen, daß die Heiligen vor-
bildlich die schmerzhafte Domestikation der Bestie gelehrt haben. Das Resultat
davon, nämlich der Fortschritt der Zivilisation, hat auch als Motiv dieses Handelns
anerkannt zu werden.
330 C. G. Jung.
lebendig und durchscheinend, mit ausgebreiteten Armen, aber ohne Kreuz.
Die Wunden leuchteten heller als der Körper, sie waren fünf Glorienkreise,
aus der ganzen Glorie hervortretend. Ich war ganz entzückt und mein Herz
war mit großem Schmerze und doch mit Süßigkeit vor Verlangen nach dem
Mitleiden der Schmerzen meines Heilandes bewegt. Und indem mein Ver-
langen nach dem Leiden des Erlösers im Anblicke seiner Wunden immer
mehr stieg, und wie aus meiner Brust, durch meine Hände, Seite und Füße
nach seinen heiligen Wunden hinflehte, stürzten zuerst aus den Händen,
dann aus der Seite, dann aus den Füßen des Bildes dreifache leuchtende
rote Strahlen, unten in einem Pfeile sich endend, nach meinen Händen,
Seite und Füßen.“
Die Strahlen sind, ihrem phallischen Grundgedanken entsprechend,
dreifach, unten in einer Pfeilspitze endigend!). Wie Amor, so hat
auch die Sonne Ihren Köcher voll zerstörender oder befruchtender Pfeile?),
Sonnenstrahlen, denen’ phallische Bedeutung innewohnt. Auf dieser
Bedeutung beruht offenbar die orientalische Sitte, tapfere Söhne als Pfeile
und Wurfspieße der Eltern zu bezeichnen. ‚Scharfe Pfeile machen“ ist
eine arabische Redensart für ‚‚tapfere Söhne zeugen“. Um die Geburt
eines Sohnes anzuzeigen, hängt der Chinese Pfeil und Bogen vors
Haus. Daher erklärt sich auch die Psalmstelle (127, 4): ‚Wie die Pfeile
in der Hand eines Starken, also geraten die jungen Knaben.“ (Vgl.
dazu das in der Einleitung über den ‚Knaben‘ Gesagte.) Durch diese
Bedeutung des Pfeiles wird verständlich, wie der Skythenkönig Ariantas
dazu kam, als er eine Volkszählung veranstalten wollte, von jedem
Skythen eine Pfeilspitze zu fordern®). Eine ähnliche Bedeutung kommt
auch der Lanze zu. Aus der Lanze stammen die Menschen ab, denn die
Esche ist auch die Mutter der Lanzen, daher das ‚‚eherne‘“ Menschen-
geschlecht aus ihr abstammt. Den Hochzeitsgebrauch, auf den Ovid
anspielt („Comat virgineas hasta recurva comas“. Fastorum lib. II,
960), haben wir bereits erwähnt. Kaineus*) befahl, daß man seine
Lanze verehre. Nun berichtet Pindar von diesem Kaineus die Sage,
daß er „die Erde mit geradem Fuß spaltend“ in die Tiefe gefahren sei?).
‘) Apulejus (Metam. lib. II, 31) gebraucht die Symbolik von Pfeil und
Bogen in sehr drastischer Weise: ‚,‚Ubi primam sagittam saevi Cupidinis in ima
praecordia mea delapsam excepi, arcum meum en! Ipse vigor attendit et oppido
formido, ne nervus rigoris nimietate rumpatur.“
*) So der pestbringende Apollo. Ahd. heißt Pfeil: strala.
®) Herodot: IV, 81.
*) Vgl. Roscher: s. v. Kaineus, Sp. 894 ff.
°) Spielreins Kranke (Jahrbuch III, S. 371) hat die Idee der Erd-
spaltung ebenfalls in ähnlichem Zusammenhange: ‚‚Das Eisen braucht man zum
Wandlungen und Symbole der Libido. sol
Ursprünglich soll er eine Jungfrau Kainis gewesen sein, die wegen Ihrer
Willfährigkeit von Poseidon zu einem unverwundbaren Mann gemacht
worden sei. Ovid (Met. lib. XII) schildert den Kampf der Lapithen
mit dem unverwundbaren Kaineus, wie sie ihn zuletzt ganz mit Bäumen
bedeckten, weil sie ihm anders nicht beikommen ‚konnten. Ovid sagt
en Exitus in dubio est: alii sub inania corpus
Tartara detrusum silvarum mole ferebant,
Abnuit Ampycides: medioqgue ex aggere fulvis
Vidit avem pennis liquidas exire sub auras.
Roscher!) hält diesen Vogel für den Goldregenpfeifer (Cha-
radrius pluvialis), der seinen Namen davon hat, daß er in der yaodögo,
dem Erdspalt, wohnt. Durch seinen Gesang zeigt er kommenden
Regen an. In diesen Vogel wird Kaineus verwandelt.
Wir erkennen in diesem kleinen Mythus wiederum die typischen
Bestandteile des Libidomythus: Ursprüngliche Bisexualität, Un-
sterblichkeit (Unverwundbarkeit) durch Eingehen in die Mutter (mit
dem Fuß die Mutter spalten, zugedeckt werden) und Auferstehung als
Seelenvogel und Bringer der Fruchtbarkeit. (Auftliegende Sonne.)
Wenn dieser so geartete Heros seine Lanze verehren läßt, so ist wohl
zu denken, daß ihm seine Lanze ein gültiger und ersetzender Aus-
druck sei.
Wir verstehen von unserem jetzigen Standpunkt aus jene Stelle
bei Hıob?), die ich im ersten Teil Kap. IV erwähnte, in einem neuen
Sinne:
„ar — hat mich ihm zum Ziel aufgerichtet. Er hat mich umgeben
mit seinen Schützen; er hat meine Nieren gespalten und nicht verschont —
Zwecke der Erddurchbohrung — Mit dem Eisen kann man — Menschen schaffen —
Die Erde wird gespalten, gesprengt, der Mensch wird geteilt, — Der Mensch wird
auseinandergeteilt und wieder zusammengelegt — Um dem Lebendigbegrabensein
ein Ende zu machen, hieß Jesus Christus seine Jünger die Erde durchbohren.“
Das Motiv des ‚‚Spaltens‘“ ist von allgemeiner Bedeutung. Der persische Held
Tishtria, der auch als weißes Pferd erscheint, öffnet den Regensee und macht
so die Erde fruchtbar. Er heißt auch Tir = Pfeil. Er wird auch weiblich
dargestellt mit Bogen und Pfeil. (Cumont: Text et mon. I, S. 136.) Mithras
schießt mit dem Pfeil Wasser aus dem Felsen, um die Dürre zu lösen. Auf mi-
trhischen Monumenten findet sich gelegentlich das Messer in die Erde gesteckt,
sonst ist es das Opferinstrument, das den Stier tötet. (Cumont: 1. c., 8. 165,
115, 116.)
1) Götting. Gelehrt. Anzeig. 1884, 8. 155.
2) 16, 13 £f.
332 C. G. Jung.
Er hat mir eine Wunde über die andere gemacht; er ist an mich gelaufen,
wie ein Gewaltiger.““ |
Diese Symbolik verstehen wir nunmehr als einen Ausdruck für
die durch den Ansturm unbewußter Wünsche verursachte Seelenqual,
die Libido wühlt in seinem Fleisch, ein grausamer Gott hat sich seiner
bemächtigt und durchbohrt ihn mit seinen schmerzhaften libidinösen
Wurfgeschossen, mit Gedanken, die überwältigend ihn durchfahren.
(Wie mir eine in der Genesung befindliche Dementiapraecoxkranke
sagte: „Heute hat mich plötzlich ein Gedanke ‚‚durchstürzt‘.)
Dieses nämliche Bild findet sich bei Nietzsche wieder!):
„Hingestreckt, schaudernd,
Halbtotem gleich, dem man die Füße wärmt,
Geschüttelt, ach! von unbekannten Fiebern,
Zitternd vor spitzen eisigen Frostpfeilen,
Von dir gejagt, Gedanke!
Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher!
‘Du Jäger hinter Wolken!
Darniederseblitzt von dir,
Du höhnisch Auge, das mich aus Dunklem anblickt: So liege ich,
Biege mich, winde mich, gequält
Von allen ewigen Martern,
Getroffen
Von dir, grausamer Jäger,
Du unbekannter — Gott!
Triff tiefer!
Triff einmal noch!
Zerstich, zerbrich dies Herz!
Was soll dies Martern
Mit zähnestumpfen Pfeilen?
Was blickst du wieder,
Der Menschen Qual nicht müde,
Mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen?
Nicht töten willst du,
Nur martern, martern?
Es bedarf keiner langatmigen Erklärung, um in diesem Gleichnis
das alte, universelle Bild des gemarterten Gottesopfers zu erkennen,
dem wir bereits begegneten bei den mexikanischen Kreuzopfern und dem
Odinsopfer?). Dasselbe Bild tritt uns entgegen im hundertfach wieder-
‘) Zarathustra: Der Zauberer. Werke, Bd. IV, S. 367 £.
°®) Spielreins Patientin sagt ebenfalls aus, daß sie von Gott durch-
sc hossen worden sei (3 Schüsse) ‚‚dann kam eine Auferstehung — des Geistes.“
Das ist Introversionssymbolik.
Wandlungen und Symbole der Libid. 333
holten St. Sebastiansmartyrium, wo das mädchenhaft zarte, blühende
Fleisch des jungen Gottes all den Schmerz des Verzichtes erraten läßt,
den die Empfindung des Künstlers hineingelegt hat. Der Künstler
steckt ja immer ein Stück des Geheimnisses seiner Zeit in sein Kunst
werk. In erhöhtem Maße gilt dasselbe auch vom vornehmsten christ-
lichen Symbol, dem von der Lanze durchstochenen Kruzifixus, dem
Bild des von seinen Wünschen gepeinigten, in Christo gekreuzisten
und sterbenden Menschen christlicher Epoche.
Daß es nicht von außen kommende Qual ist, die den Menschen
trifft, sondern daß er sich selber Jäger, Mörder, Opferer und Opfer-
messer ist, zeigt uns ein anderes Gedicht Nietzsches (Werke, Bd.VIII,
S. 414), wo der anscheinende Dualismus in den seelischen Konflikt
aufgelöst ist unter Verwendung derselben Symbolik:
„Oh Zarathustra,
grausamster Nimrod!
Jüngst Jäger noch Gottes
Das Fangnetz aller Tugend,
Der Pfeil des Bösen!
Jetzt — — — — — — —
Von dir selber erjast,
Deine eigene Beute,
In dich selber eingebohrt
Jetzt — — — — — —
Einsam mit dir,
Zwiesam im eignen Wissen,
Zwischen hundert Spiegeln
Vor dir selber falsch,
Zwischen hundert Erinnerungen
Ungewiß,
an jeder Wunde müd,
An jedem Froste kalt,
In eigenen Stricken gewürgt,
Selbstkenner!
Selbstnenker!
Was bandest du dich
Mit dem Strick deiner Weisheit?
Was locktest du dich
Ins Paradies der alten Schlange?
Was schlichst du dich ein
In dich. — m. dich. ZZ IR IR
Nieht von außen treffen den Helden die tödlichen Pfeile, sondern
er selbst ist es, der in Uneinigkeit mit sich selbst, sich selber jagt, be-
334 | C. G. Jung.
kämpft und martert. In ihm selber hat sich Wollen gegen Wollen, Libido
gegen Libido gekehrt — daher der Dichter sagt: „‚In sich selber ein-
gebohrt“, d. h. vom eigenen Pfeil verwundet. Da wır den Pfeil als ein
Libidosymbol erkannt haben, so wird uns auch das Bild des „Ein-
bohrens“ klar: es ist ein phallischer Akt der Vereinigung mit sich selbst,
eine Art Selbstbefruchtung (Introversion), auch eine Selbstver-
gewaltigung, ein Selbstmord, daher sich Zarathustra als Selbsthenker
bezeichnen bann, wie Odin, der sich selber dem Odin opfert.
Die Verwundung durch den eigenen Pfeil bedeutet also zunächst
einen Introversionszustand. Was dieser zu bedeuten hat, wissen
wir bereits: Die Libido sinkt in ihre ‚‚eigene Tiefe“ (ein bekanntes
Gleichnis Nietzsches) und findet dort unten in den Schatten des
Unbewußten den Ersatz für die Oberwelt, die sie verlassen hat, nämlich
die Welt der Erinnerungen (‚zwischen hundert Erinnerungen“),
worunter die stärksten und einflußreichsten die frühinfantilen Erinne-
rungsbilder sind. Es ist die Welt des Kindes, jener paradiesische Zustand
frühester Kindheit, von dem uns einst ein hartes Gesetz trennte. In
diesem unterirdischen Reich schlummern süße Heimatgefühle und
die unendlichen Hoffnungen alles Werdenden. Wie Heinrich in der
‚„ Versunkenen Glocke“ von Gerhart Hauptmann von seinem Wunder-
werke sagt:
„Bs singt ein Lied, verloren und vergessen,
Ein Heimatlied, ein Kinderliebeslied,
Aus Märchenbrunnentiefen aufgeschöpft,
Gekannt von jedem, dennoch unerhört.‘
Doch, wie Mephistopheles sagt, ‚die Gefahr ist groß“t). Diese
Tiefe ıst verlockend, sie ist die Mutter und — der Tod. Wenn die Libido
die lichte Oberwelt verläßt, sei es aus Entschluß des Menschen oder aus
abnehmender Lebenskraft, so sinkt sie in die eigene Tiefe zurück, in
die Quelle, aus der sie einst geflossen, und kehrt zurück zu jener Bruch-
stelle, dem Nabel, durch den sie einst in diesen Körper eingetreten ist.
Diese Bruchstelle heißt Mutter, denn aus ihr kam uns die Quelle
der Libido. Darum, wenn irgend ein großes Werk zu tun ist, vor dem
der schwache Mensch, an seiner Kraft verzweifelnd, zurückweicht,
dann strömt seine Libido zu jenem Quellpunkt zurück — und das ist
jener gefährliche Augenblick, in dem die Entscheidung fällt zwischen
Vernichtung und neuem Leben. Bleibt die Libido im Wunderreich
!) Faust II. Teil, Mütterszene.
Wandlungen und Symbole der Libido. 330
der inneren Welt hängen!), so ist der Mensch für die Oberwelt zum
Schatten geworden, er ist so gut als ein Toter oder Schwerkranker?).
Gelingt es aber der Libido, sich wieder loszureißen und zur Oberwelt
emporzudringen, dann zeigt sich ein Wunder: diese Unterweltsfahrt
war ein Jungbrunnen für sie gewesen und aus ihrem scheinbaren Tode
erwacht neue Fruchtbarkeit. Dieser Gedankengang wird in einem
indischen Mythus sehr schön zusammengefaßt: Einst versank Wishnu
in Entzückung (Introversion) und gebar in diesem Schlafzustand
Brahma, der, auf einer Lotosblume thronend, aus dem Nabel Wishnus
emporstieg und die V&das mitbrachte, sie eifrig lesend. (Geburt des
schöpferischen Gedankens aus der Introversion.) Durch Wishnus
Verzückung aber kam eine ungeheure Sintflut über die Welt (Ver-
schlingsung durch Introversion, die Gefahr des Eingehens in die Todes-
mutter symbolisierend). Ein Dämon, die Gefahr benutzend, stahl
dem Brahma die V&das und verbarg sie in der Tiefe. (Verschlingung
der Libido.) Brahma weckte Wishnu, und dieser, sich in einen Fisch
verwandelnd, tauchte in die Flut, kämpfte mit dem Dämon (Drachen-
kampf), besiegte ihn und eroberte die Vedas wieder. (Schwererreichbare
Kostbarkeit.)
Diesem urtümlichen Gedankensang entspricht die Selbstver-
tiefung im Geiste und die daraus erfolgende Kräftigung. Ebenso er-
klären sich daraus zahlreiche Opfer- und Zauberriten, von denen schon
mehrere erwähnt wurden. So fällt auch das uneinnehmbare Troja da-
durch, daß die Belagerer in den Bauch des hölzernen Pferdes kriechen,
denn einzig der ist Held, der aus der Mutter wiedergeboren ist, wie die
Sonne. Wie gefährlich dies Wagnis aber ist, zeigt das Geschick des
Philoktet, der bei der Trojafahrt der einzige war, der das verborgene
Heiligtum der Chryse kannte, wo schon die Argonauten geopfert hatten
und wo auch die Griechen zu opfern gedachten, um ihrer Fahrt ein
glückliches Ende zu sichern. Chryse war eine Nymphe auf der Insel
Chryse; nach dem Bericht des Scholiasten zu Sophokles’ Philoktet
!) Auch dies ist mythologisch dargestellt in der Sage von Theseus und
Peirithoos, welche die unterirdische Proserpina sich erobern wollten. Sie stiegen
zu diesem Zwecke in den Erdscehlund im Haine Kolonos, um in die Unterwelt
zu gelangen; als sie unten waren, wollten sie sich etwas ausruhen, blieben aber
gebannt an den Felsen hängen, d. h. sie blieben in der Mutter stecken und waren
daher für die Oberwelt verloren. Später wurde wenigstens Theseus von Herakles
befreit (Rache des Horus für Osiris), womit Herakles in die Rolle des todüber-
windenden Heilandes tritt.
2) Diese Formel gilt in erster Linie auch für die Dementia praecox.
336 | ©. G. Jung.
hat diese Nymphe Philoktet geliebt und ihn verflucht, weil er ihre Liebe
verschmähte. Diese charakteristische Projektion, der wir u. a. auch
im Gilgameshepos begegnen, ist zurück zu übersetzen, wie bereits
oben angedeutet, in den verdrängten Inzestwunsch des Sohnes, der durch
die Projektion so dargestellt wird, als hätte die Mutter den bösen
Wunsch, für dessen Ablehnung dem Sonn der Tod gegeben werde.
In Wirklichkeit liegt aber die Sache so, daß der Sohn sterblich wird,
dadurch daß er sich von der Mutter trennt. Seine Todesangst entspricht
dann dem verdrängten Wunsch, zur Mutter zurückzukehren und läßt
ihn glauben, daß die Mutter ihn bedrohe oder verfolge. Die teleologische
Bedeutung dieser Verfolgungsangst ist klar: sie soll Sohn und
Mutter auseinanderhalten.
Der Fluch der Chryse verwirklicht sich insofern, als Philoktet,
sich ihrem Altare nähernd, nach der einen Version mit einem. seiner
eigenen tödlich giftigen Pfeile sich am Fuße verletzt oder nach anderen
Versionen!) (diese besser und ausgiebiger belegt) von einer giftigen
Schlange in den Fuß gebissen wird?). Von da an siecht er, wie
bekannt, dahin?).
1) Vgi. Roscher: s. v. Philoktetes, Sp. 2318, 15 ff.
2) Wie der russische Sonnenheld Oleg an den Schädel des erschlagenen
Pferdes herantritt, fährt eine Schlange daraus hervor und sticht ihn in den Fuß.
Daran erkrankt und stirbt er. Als Indra in der Gestalt des Gyena, des Falken,
den Soma raubt, verwundet ihn Kricanu, der Hüter, mit dem Pfeil am Fuß.
Rigveda I, 155, IV, 322.
®) Vergleichbar dem Gralkönig, der den Becher, das Muttersymbol, hütet.
Der Mythus des Philoktet ist aus einem längern Zusammenhang genommen,
nämlich aus dem Heraklesmythus. Herakles hat zwei Mütter, die hilfreiche
Alkmene und die verfolgende Here (Lamia), von deren Brust er die Unsterblichkeit
(Sehnsucht nach der Mutter) getrunken hat. Heres Schlangen überwindet Herakles
schon in der Wiege, d. h. er überwindet die furchtbare Mutter, die Lamia. Aber
Here schickt ihm von Zeit zu Zeit Wahnsinnsanfälle, in deren einem er seine
Kinder tötet (Lamia). Nach einer interessanten Überlieferung geschieht die
Tat in jenem Augenblicke, wo sich Herakles weigert, im Dienste des Eurystheus
das große Werk zu verrichten. Infolge des Zurückweichens regrediert die für
das Werk bereitgestellte Libido in typischer Weise auf die unbewußte Mutter-
imago, was den Wahnsinn zur Folge hat (wie heutzutage auch noch), in welchem
Herakles sich mit der Lamia (Here) identifiziert und die eigenen Kinder mordet. Das
delphische Orakel teilt ihm auch mit, daß er Herakles heiße, weil er der Here
seinen unsterblichen Ruhm verdanke, da ihre Verfolgung ihn zu den großen Taten
nötige. Man sieht, daß die große Tat eigentlich bedeutet: Die Mutter und in ihr
die Unsterblichkeit erobern. Seine charakteristische Waffe, die Keule, schnitt
er aus dem mütterlichen Ölbaum. Als Sonne besaß er die Pfeile Apolls. Den
Wandlungen und Symbole der Libido. 337
Diese durchaus typische Verwundung (siehe unten!), die auch
R& zerstört, wird in einem ägyptischen Hymnus folgendermaßen ge-
schildert:
nemeischen Löwen überwindet er in seiner Höhle, deren Bedeutung ‚‚Grab im
Mutterleibe‘‘ ist (vgl. Ende dieses Kapitels), dann folgt der Kampf mit der Hydra,
der typische Sonnendrachenkampf, die gänzliche Mutterüberwindung (vgl. unten).
Darauf Einfangen der cerynitischen Hirschkuh, die er mit dem Pfeile am Fuß
verwundet, also das tut, was sonst dem Helden geschieht. Den eingefangenen
erymanthischen Eber zeigt Herakles dem Eurystheus, worauf dieser aus Angst
inein Faß kroch, d. h. starb. Die Stymphaliden, der kretische Stier und die
menschenfressenden Rosse des Diomedes sind Symbole für verheerende
Todesmächte, unter denen besonders das letztere Beziehung auf die Mutter er-
kennen läßt. Die Erkämpfung des kostbaren Gürtels der Amazonenkönigin
Hippolyte läßt die Mutter wieder klar hervortreten: Hippolyte ist bereit, den
Schmuck zu lassen, allein Here, sich in die Gestalt der Hippolyte ver-
wandelnd, ruft die Amazonen gegen Herakles in den Kampf. (Vgl. Horus, den
Kopfschmuck der Isis an sich reißend; darüber Weiteres unten, Kapitel VII.) Die
Befreiung der Hesione erfolgt dadurch, daß Herakles mit einem Schiffe in den
Bauch des Ungeheuers hinunterfährt und in dreitägiger Arbeit das Ungeheuer
von innen tötet (Jonasmotiv, Christus im Grab respektive Hölle, Überwindung
des Todes durch Hineinkriechen in den Mutterleib und Umbringen des Todes in
Gestalt der Mutter. Die Libido in Gestalt der schönen Jungfrau wieder erobert.)
Der Zug nach Erythia ist eine Parallele zu Gilgamesh, zum Moses des Koran,
der nach der Vereinigung der beiden Meere zieht; es ist die Sonnenfahrt nach
dem Westmeer, wobei Herakles die Meerenge von Gibraltar eröffnet (‚‚nach jenem
Durchgang‘; Faust) und mit dem Schiffe des Helios nach Erythia hinausfuhr.
Dort erschlug er den riesigen Wächter Eurytion (Chumbaba im Gilgameshepos,
das Vatersymbol), dann den dreifachen Geryon (ein Monstrum von phallischer
Libidosymbolik) und verwundete dabei durch einen Pfeilschuß sogar die dem
Geryon zu Hilfe eilende Here. Dann erfolgt der Raub der Rinder, Die schwer-
erlangte Kostbarkeit ist hier in einer Umgebung, welche die Sache wirklich un-
mißverständlich macht. Herakles geht wie die Sonne in den Tod, in die Mutter
hinunter (Westmeer), überwindet aber die Libido zur Mutter und kommt mit den
wunderbaren Rindern wieder, er hat also seine Libido, sein Leben, den gewaltigen
Reichtum wiedergewonnen. Denselben Gedanken finden wir im Raub der goldenen
Hesperidenäpfel, die vom hundertköpfigen Drachen verteidigt sind. Die Über-
wältigung des Cerberus ist auch als Überwältigung des Todes durch das Eingehen
in die Mutter (Unterwelt) leicht verständlich. Um zu seinem Weibe Deianira zu
kommen, muß er einen furchtbaren Kampf mit einem Wassergott Achelous
bestehen (mit der Mutter). Der Fährmann Nessus (ein Zentaur) vergewaltigt
ihm aber Deianeira. Mit seinen Sonnenpfeilen erlegt Herakles diesen Widersacher.
Nessus gibt aber der Deianira den Rat, sein giftiges Blut als Liebeszauber auf-
zubewahren. Als nach der wahnsinnigen Ermordung des Iphitus ihm Delphi den
Orakelspruch verweigert, bemächtigt ersich sogar des heiligen Dreifußes.
Der delphische Spruch zwang ihn nunmehr, ein Sklave der Omphale zu werden,
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol, Forschungen. IV. 22
r
338 C.G. Jung.
‚Das Alter des Gottes bewegte ihm den Mund,
Es warf seinen Speichel ihm auf die Erde,
Und was er ausspie, fiel auf den Boden.
Das knetete Isis mit ihrer Hand
Zusammen mit der Erde, die daran war;
Sie bildete einen ehrwürdigen Wurm daraus
Und machte ihn wie einen Speer.
Sie wand ihn nicht lebend um ihr Gesicht,
Sondern warf ihn zusammengerollt (?) auf den Weg.
Auf dem der große Gott wandelte
Nach Herzenslust durch seine beiden Länder.
Der ehrwürdige Gott trat glänzend hervor,
Die Götter, die dem Pharao dienten, begleiteten ihn
Und er erging sich wie alle Tage.
Da stach ihn der ehrwürdige Wurm.......
Der göttliche Gott öffnete den Mund,
Und die Stimme seiner Majestät drang bis zum Himmel.
Und die Götter riefen: Siehe!
Er konnte nicht darauf antworten,
Seine Kinnbacken klapperten,
All seine Glieder zitterten
Und das Gift ergriff sein Fleisch,
Wie der Nil sein Gebiet ergreift.“
In diesem Hymnus hat uns Ägypten wiederum eine ursprüngliche
Fassung des Schlangenstiches aufbewahrt. Das Altern der Sonne im
Herbst, als ein Bild des menschlichen Greisenalters, wird symbolisch
auf eine Vergiftung durch die Schlange der Mutter zurückgeführt.
Der Mutter wird vorgeworfen, ihre Heimtücke verursache den Tod
des Sonnengottes. Die Schlange, das uralte Angstsymbol!), veran-
schaulicht die verdrängte Tendenz, zur Mutter zurückzukehren, denn
die einzige Möglichkeit, sich vor dem Tode zu sichern, besitzt die Mutter,
denn sıe ist die Lebensquelle. Dementsprechend kann auch nur die
die ihn ganz zum Kinde macht. Herakles kehrte darauf heim zu Deianira, die ihm
das giftige Nessusgewand entgegenschickte (Isisschlange), das sofort mit seiner
Haut verwuchs, sodaß er vergeblich versuchte, es abzureißen (Häutung des alternden
Sonnengottes, Schlange als Symbol der Wiederverjüngung). Herakles bestieg
darauf den Scheiterhaufen, um sich als Phönix selbst zu verbrennen, d. h. sich
aus seinem eigenen Ei wieder zu gebären. Niemand als der junge Philoktet wagte
es, den Gott zu opfern. Dafür erhielt Philoktet die Sonnenpfeile und der Libido-
mythus erneuerte sich mit diesem Horus.
') Auch die Affen haben instinktive Schlangenfurcht.
Wandlungen und Symbole der Libido, 339
Mutter den Todkranken heilen, daher der Hymnus im weitern schildert,
wie die Götter zusammengerufen wurden, um Rat zu halten:
„Und Isıs kam auch mit ihrer Weisheit,
Deren Mund voll Lebenshauch ist,
Deren Spruch das Leid vertreibt,
Und deren Wort den nicht mehr Atmenden belebt.
Sie sagte: Was ist das? Was ist das, göttlicher Vater?
Sieh, ein Wurm hat dir Leid gebracht usw.‘
„Sage mir deinen Namen, göttlicher Vater,
Denn der Mann bleibt leben, der mitseinem Namen gerufen wird.“
Worauf R& entgegnet:
„Ich bin der, der Himmel und Erde schuf und die Berge schürzte
Und alle Wesen darauf machte.
Ich bin der, der das Wasser machte und die große Flut schuf,
Der den Stier seiner Mutter machte,
Welches der Erzeuger ist usw.‘
„Das Gift wich nicht, es ging weiter,
Der große Gott ward nicht gesund.
Da sprach Isis zu R&:
Das ist nicht dein Name, was du mir sagst.
Sage ihn mir, daß das Gift hinausgehe,
Denn der Mensch, dessen Name genannt wird, bleibt leben“.
Endlich kann R£& sich entschließen, seinen wahren Namen zu sagen.
Er wurde zwar annähernd geheilt (mangelhafte Zusammensetzung des
Osiris), aber hatte seine Macht verloren und zog sich schließlich auf die
Himmelskuh zurück. |
Der giftige Wurm ist, wenn man so sagen darf, ein „negativer“
Phallus, eine tötende, statt belebende Libidoform, also ein Todeswunsch,
statt eines Lebenswunsches. Der ‚wahre Name‘ ist Seele und Zauber-
kraft, also ein Libidosymbol. Was Isis verlangt, ist die Rückübertragung
der Libido auf die Muttergöttin. Dieses Verlangen erfüllt sich buch-
stäblich, indem der alternde Gott zur göttlichen Kuh, dem, Mutter-
symbol, zurückkehrt!). Aus unseren obigen Überlegungen erklärt sich
diese Symbolik: Die vorwärts strebende lebendige Libido, die das
Bewußtsein des Sohnes beherrscht, verlangt Trennung von der Mutter;
1) Wie lebendig solch uralte Assoziationen noch sind, zeigt Segantinis
Bild: Die beiden Mütter: Kuh und Kalb, Mutter und Kind, im selben Stalle.
Aus dieser Symbolik erklärt sich auch das Milieu der Geburtsstätte des Heilandes.
22*
340 | C. G. Jung.
dem steht aber die Sehnsucht des Kindes nach der Mutter hindernd
entgegen in der Form eines psychologischen Widerstandes, der er-
fahrungsgemäß in der Neurose sich in allerhand Befürchtungen aus-
drückt, d. h. in Angst vor dem Leben. Je mehr der Mensch sich von
der Realitätsanpassung zurückzieht und in faule Untätigkeit verfällt,
desto größer wird (cum grano salis) seine Angst, die ihn auf seinem Weg
überall hindernd befällt. Die Angst stammt von der Mutter, d.h. aus
der der Realitätsanpassung entgegenstrebenden Sehnsucht, zurück-
zugehen zur Mutter. Auf diese Weise wird die Mutter scheinbar zur
heimtückischen Verfolgerin. Natürlich ist es nicht die wirkliche Mutter,
obschon auch die wirkliche Mutter mit ihrer krankhaften Zärtlichkeit,
mit der sie ihr Kind bis ins erwachsene Alter verfolgen kann, öfter
durch nicht mehr zeitgemäße Infantilhaltung des Kindes es schwer
schädigen kann; es ist vielmehr die Mutterimago, die zur Lamia wird.
Ihre Kraft aber bezieht die Mutterimago einzig und allein aus der
Geneigtheit des Sohnes, nicht nur vorwärts zu schauen und zu arbeiten,
sondern auch rückwärts zu schielen nach den verweichlichenden
Süßigkeiten der Kindheit, nach jener herrlichen Unverantwortlichkeit
und Lebenssicherheit, mit der uns schützende Mutterobhut einstmals
umgeben hatt).
Diese rückschauende Sehnsucht wirkt wie ein lähmendes Gift
auf die Tatkraft und Unternehmungslust, daher sie wohl einer giftigen
Schlange verglichen werden kann, die auf unserem Wege liegt. An-
Scheinend ist es ein dämonischer Feind, der die Tatkraft raubt, in Wirk-
lichkeit aber das eigene Unbewußte, dessen rückgreifende Tendenz
das bewußte Vorwärtsstreben zu überwältigen beginnt. Die Ursache
dieses Vorganges kann z. B. das natürliche Altern sein, welches die
Tatkraft abschwächt, oder es können große äußere Schwierigkeiten
sein, an denen der Mensch zusammenbricht und wieder zum Kinde
wird, oder es kann, und dies ist wohl etwas sehr Häufiges, das Weib
sein, das den Mann gefangennimmt, von dem er sich nicht mehr befreien
‘) Der Mythus von Hippolytos zeigt sehr hübsch alle typischen Bestand-
teile des Problems: Seine Stiefmutter, Phaedra verliebt sich unzüchtigerweise
in ihn. Er weist sie zurück, sie verklagt ihn wegen Schändung bei ihrem Manne,
dieser bittet den Wassergott Poseidon, Hippolytos zu strafen. Da kommt
ein Monstrum aus dem Meer. Die Rosse des Hippolytos werden davon
scheu und schleifen Hippolytos zu Tode. Er wird aber durch Äskulap wieder
erweckt und von den Göttern zur weisen N ymphe Egeria, der Beraterin des
Numa Pompilius, versetzt. So geht der Wunsch doch in Erfüllung: jedoch ist aus
dem Inzest Weisheit geworden.
Wandlungen und Symbole der Libido. 341
kann und an dem er zum Kind wird!). Es wird wohl auch bedeutsam
sein, daß Isis als Schwester-Gattin des Sonnengottes das giftige Tier
schafft, und zwar aus dem Speichel des Gottes, der als ein Ausfluß
für Sperma gesetzt sein mag und daher ein Libidosymbol ist. Sie schafft
das Tier aus der Libido des Gottes, d. h. sie empfängt seine Kraft,
macht ihn schwach und abhängig, so daß sie dadurch in die beherr-
schende Rolle der Mutter eintritt. (Mutterübertragung auf die Gattin.)
Dieses Stück ist (im Simsonmythus) in der Rolle der Dalila, die die
Haare Simsons, die Sonnenstrahlen, abschneidet und ihn seiner Kraft
beraubt, noch erhalten?). Jedes Schwachwerden des erwachsenen
Menschen läßt die Wünsche des Unbewußten lauter werden, daher das
Abnehmen der Kraft ohneweiters als ein Rückstreben zur Mutter
erscheint.
Noch einer Quelle zur Wiederbelebung der Mutterimago ist zu
gedenken. Wir sind ihr bereits bei der Besprechung der Faustischen
Mütterszene begegnet: nämlich die gewollte Introversion eines
_ schöpferischen Geistes, der, vor den eigenen Problemen zurückweichend
und seine Kräfte innerlich sammelnd, für Augenblicke wenigstens zur
Lebensquelle hinabtaucht, um dort ein Weiteres an Kraft der Mutter
abzuringen zur Vollendung seines Werkes. Es ist ein Mutter-Kind-
spiel mit sich selber, m dem viel weichliche Selbstbewunderung und
-bespiegelung liegt (‚zwischen hundert Spiegeln“; Nietzsche), ein
narzissistisches Stadium, für profane Augen vielleicht ein wunder-
liches Schauspiel. Die Trennung von der Mutterimago, die Geburt aus
sich selber, macht durch ihre Qualen alles Widerliche wett. Solches
wollen wohl die Verse Nietzsches sagen:
„Was locktest du dich
Ins Paradies der alten Schlange?
Was schlichst du dich ein
In dieh: m dich? I LT DR ER
Ein Kranker nun,
Der an Schlangengift krank ist?);
Ein Gefangener nun,
Der das härteste Los zog:
Im eigenen Schachte
!) Vgl. Herakles und Omphale.
?) Vgl. auch die Vorwürfe des Gilgamesh gegen Ishtar.
3) Auch Spielreins Patientin ist an ‚„‚„Schlangengift“ krank. Jahrbuch IIT,
S. 385,
342 ©. @. Jung.
Gebückt arbeitend,
In dich selber eingehöhlt,
Dich selber angrabend,
Unbehilflich,
Steif,
Ein Leichnam —
Von hundert Lasten übertürmt,
Von dir überlastet,
Ein Wissender!
Ein Selbsterkenner!
Der weise Zarathustra!...... NEN
Du suchtest die schwerste Last:
Da fandest du dieh — — — — — — — u,
Die Symbolik dieses Stückes ist von größtem Reichtum. Wie
in die Erde eingehöhlt ist der in sich selber Vertiefte; ein Toter
eigentlich, der in die Mutter Erde zurückgekehrt ist!); ein Kaineus
„von hundert Lasten übertürmt“ und in den Tod hinuntergedrückt.
Einer, der ächzend die schwere Last seiner eigenen Libido trägt, jener
Libido, die ihn zur Mutter zurückzieht. Wer denkt nicht an die Tauro-
phorie des Mithras, der seinen Stier (wie der ägyptische Hymnus sagt:
den „Stier seiner Mutter‘), d. h. seine Liebe zur Mutter, als schwerste
Last auf den Rücken nimmt und damit den schmerzvollen Gang,
den sogenannten Transitus antritt?)? Dieser Passionsweg führt zur
Höhle, in welcher der Stier geopfert wird. So hat auch Christus das
Symbol der Liebe zur Mutter, das Kreuz, zu tragen?) und trägt es zur
!) Die gänzlich introvertierte Patientin Spielreins (Jahrbuch Bd. III,
S. 336) gebraucht ähnliche Bilder; sie spricht von einer ‚‚Starrheit der Seele am !
Kreuze“, von ‚‚Steinfiguren“, die ‚„‚„gelöst‘“ werden müssen.
Ich verweise hier auch darauf, daß die oben besprochenen Symbolismen
treffliche Beispiele für die ‚‚tunktionale Kategorie“ Silberers sind, sie schildern
den Introversionszustand.
?) W. Gurlitt sagt: ‚‚Das Stiertragen ist eines der schweren 3930, die
Mithras im Dienste der zu erlösenden Menschheit verrichtet, ‚‚etwa, wenn es ge-
stattet ist, Kleines mit Großem zu vergleichen, der Kreuztragung Christi ent-
sprechend.“ (Zitiert Cumont, Text. et mon. I, 172.) Gewiß ist es gestattet, die
beiden Dinge miteinander zu vergleichen. Über jene Zeit dürfte man hinaus sein,
wo man hoehmütig, in richtiger Barbarenart, auf fremde Götter, die dii minorum
Aare, heruntersah. Aber man ist noch lange nicht darüber hinaus.
ce ne interessanten Beitrag zur Frage des Symbols der Kreuztragung
2 ertson (Evang. Myth., S. 130): Simson trug die Torpfeiler von Gaza
und starb zwischen den Säulen des Saales der Philister. Auch Herakles trug
gebückt unter seiner Last seine Säulen an die Stelle (Gades), wo er nach der
Wandlungen und Symbole der Libido. 343
Opferstätte, wo das Lamm geopfert wird in der Gestalt des Gottes,
des infantilen Menschen, des ‚‚Selbsthenkers“, um dann in die unter-
irdische Gruft versenkt zu werdent). |
Was bei Nietzsche wie dichterische Redefigur anmutet, ist
eigentlich uralter Mythus. Es ist, wie wenn dem Dichter noch die Ahnung
oder die Fähigkeit gegeben wäre, unter den Worten unserer heutigen
Sprache und in den Bildern, die sich seiner Phantasie aufdrängten,
jene unvergänglichen Schatten längst vergangener Geisteswelten zu
fühlen und wieder wirklich zu machen. G. Hauptmann sagt auch:
„Dichten heißt, hinter Worten das Urwort auiklingen lassen?).“
Das Opfer, dessen geheimen und vielseitigen Sinn wir mehr
ahnen als verstehen, geht zunächst unvollendet am Unbewußten unserer
Autorin vorüber. Der Pfeil wird nicht abgeschossen, der Held Chiwan-
topel ist noch nicht tödlich. vergiftet und bereit zum Tode im Selbst-
syrischen Version der Legende auch starb. (Die Säulen des Herakles bezeichnen
den Westpunkt, wo die Sonne ins Meer sinkt.) ‚‚In der alten Kunst wird er tat-
sächlich dargestellt, wie er die beiden Säulen in der Weise unter den Armen trägt,
daß sie gerade ein Kreuz bilden; hier haben wir vielleicht den Ursprung des Mythus
von Jesus vor uns, der sein eigenes Kreuz zur Richtstätte trägt. — Merkwürdiger-
weise substituieren die 3 Synoptiker Jesus einen Mann namens Simon aus Kyrene
als Kreuzträger. Kyrene ist in Libyen, dem legendären Schauplatz der Arbeit
des Säulentragens des Herakles, wie wir. gesehen haben, und Simon (Simson)
ist die nächste griechische Namensform für Samson —das auf Griechisch, nach dem
Hebräischen, Simson gelesen worden sein konnte. In Palästina aber war Simon,
Semo oder Sem tatsächlich ein Gottesname, der den alten Sonnengott Semesch
repräsentierte, der seinerseits wieder mit Baal identifiziert war, aus dessen Mythus
der Samsonmythus zweifellos entstanden ist; und der Gott Simon genoß in
Samaria besondere Verehrung.‘ Das Kreuz des Herakles dürfte wohl das Sonnen-
rad sein, wofür die Griechen das Kreuzsymbol hatten. Das Sonnenrad auf dem
Relief der kleinen Metropolis in Athen enthält sogar ein Kreuz, das dem Malteser-
kreuz sehr ähnlich sieht. (Cf. Thiele: Antike Himmelsbilder, 1898, S. 59.)
!) Die griechische Mythe von Ixion, der ans Sonnenrad gekreuzigt, an die
„vierspeichige Fessel“ (Pindar) gebunden wurde, sagt es beinahe unverhüllt.
Ixion ermordete zuerst seinen Schwiegervater, wurde aber später von Zeus entsühnt
und mit seiner Huld beglückt. Der Undankbare aber trachtete, Hera, die Mutter,
zu verführen. Zeus aber täuschte ihn, indem er die Wolkengöttin Nephele der
Hera Gestalt nachahmen ließ. (Aus dieser Verbindung sollen die Zentauren hervor-
gegangen sein.) Ixion rühmte sich seiner Tat, aber Zeus stürzte ihn zur Strafe
in die Unterwelt, wo er auf das vom Wind ewigfortgewirbelte Rad gebunden
wurde. (Vgl. die Strafe der Francesca da Rimini bei Dante und die „‚Büßerinnen“
in Abrahams Segantini.)
2) Zitiert Zentralblatt für Psychoanalyse, Jahrgang II, S. 365.
344 C. G. Jung.
opfer. Wir dürfen schon jetzt sagen, daß, nach dem vorliegenden
Material, mit diesem Opfer wohl das Aufgeben der Mutter gemeimt
sei, d. h. der Verzicht auf alle Bande und Beschränkungen, welche die
Seele aus der Zeit der Kindheit mit ins erwachsene Alter herüber-
genommen hat. Aus verschiedenen Andeutungen von Miß Miller geht
hervor, daß sie zur Zeit jener Phantasien noch im Kreise der Familie
oelebt hat, offenbar in einem Alter, das bereits der Selbständigkeit
dringend bedurft hätte. Der Mensch lebt nämlich ohne wesentliche
Gefährdung seiner geistigen Gesundheit nicht zu lange ın der infantilen
Umgebung respektive im Schoße der Familie. Das Leben ruft ihn hinaus
zur Selbständigkeit, und wer diesem harten Ruf aus kindlicher Be-
quemlichkeit und Ängstlichkeit keine Folge leistet, wird durch die
Neurose bedroht. Und ist einmal die Neurose ausgebrochen, dann
wird sie auch immer mehr zu einem vollgültigen Grunde, den Kampf
mit dem Leben zu fliehen und für immer in der moralisch vergiftenden
Infantilatmosphäre zu bleiben.
In dieses Ringen um die persönliche Selbständigkeit gehört
die Phantasie vom Pfeilschuß. Noch hat sich bei der Träumerin der
Gedanke dieses Entschlusses nicht durchgerungen. Sie weist ihn viel-
mehr ab. Nach all dem Obigen ist es einleuchtend, daß die Pfeilschuß-
symbolik bei direkter Übersetzung als ein Koitussymbol anzusprechen
ist. Das ‚‚Occide moriturus‘‘!) gewänne dadurch auch hier den ihm
. gehörenden sexuellen Sinn. Chiwantopel repräsentiert natürlich die
Träumerin. Mit dieser Reduktion auf das Grobsexuelle ist aber nichts ge-
wonnen und nichts verstanden, denn daß das Unbewußte Koituswünsche
beherbergt, ıst ein Gemeinplatz, dessen Entdeckung weiter nichts
bedeutet. Der Koituswunsch unter diesem Aspekt ist nämlich
ein Symbol für die eigene, von den Eltern abgetrennte Betätigung
der Libido, für die Eroberung des selbständigen Lebens. Dieser Schritt
zum neuen Leben bedeutet aber auch zugleich den Tod des vergangenen
Lebens?), daher Chiwantopel, der Infantilheld®) (der Sohn, das Kind,
das Lamm, der Fisch), der noch durch die Bande der Kindheit gefesselt
ist und der als Symbol der inzestuösen Libido zu sterben hat, damit
jede rückwärtige Verbindung abgeschnitten sei. Denn zum Kampfe
!) „.Töte selber sterbend.“
°) Die in den Träumen reichlich auftretende Todessymbolik hat Stekel
hervorgehoben (Sprache des Traumes, $. 317 ff.).
°) Vgl. die Cassiusszene oben.
Wandlungen und Symbole der Libido. 345
des Lebens ist alle Libido benötigst und es darf keine zurückbleiben.
Diesen Entschluß, der alle sentimentalen Verknüpfungen mit Vater und
Mutter zerreißen soll, kann die Träumerin noch nicht fassen und er
sollte doch gefaßt sein, um dem Rufe des eigenen Schicksals Folge
leisten zu können. ’
VI.
Das Opier.
Nachdem der Angreifer verschwunden ist, beginnt Chiwantopel
folgenden Monolog:
„Du bout de l’&pine dorsale de ces continents, de l’extr&mite des
basses terres, j’ai erre pendant une centaine de lunes, apres avoir abandonne
le palais de mon p£re toujours poursuivi par mon desir fou de trouver ‚‚celle
qui comprendra“. Avec des joyaux j.ai tent& beaucoup de belles, avec des
baisers j’al essaye d’arracher le secret de leur coeur, avec des actes de
prouesse j’ai conquis leur admiration. (Il passe en revue les femmes qu’il
a connues:) Chi-ta, la princesse de ma race... c’est une becasse, vani-
teuse comme un paon, n’ayant autre chose en tete que bijoux et parfums.
Ta-nan, la jeune paysanne... bah, une pure truie, rien de plus qu’un
buste et un vente, et ne songeant qu’au plaisir. Et puis Ki-ma, la pre-
tresse, une vraie perruche, repö&tant les phrases creuses apprises des pr£tres;
toute pour la montre, sans instruction reelle ni sincerite, mefiante, poseuse
SEN, Helas! Pas une qui me comprenne, pas une qui soit
semblabie a moi ou qui ait une äme soeur de mon äme. Il n’en est pas une,
d’entre elles toutes, qui ait connu mon äme, pas une qui ait pu lire ma
pensee, loın de la; pas une capable de chercher avec moi les sommets lumi-
neux, ou d’epeler avec moi le mot surhumain d’Amour!“
Hier sagt es Chiwantopel selber, daß das Herumreisen und Herum-
wandern ein Suchen sei nach dem andern und nach dem in der Ver-
einigung mit ihm liegenden Sinne des Lebens. Wir haben im ersten
Teil dieser Arbeit diese Möglichkeit bloß leise angedeutet. Daß nun das
Suchende männlichen und das Gesuchte weiblichen Geschlechtes ist,
ist weiter nicht erstaunlich, da der hauptsächliche Gegenstand der
unbewußten Übertragung die Mutter ist, wie sich aus all dem, was wir
bereits erfahren haben, ergeben dürfte. Die Tochter stellt sich zur Mutter
männlich ein: Die Genese dieser Einstellung läßt sich in unserem Falle
bloß vermuten, da objektive Belege fehlen. Infolgedessen begnügen
wir uns besser mit dem Erschließbaren. ‚Celle qui comprendra‘‘ be-
deutet also in der Infantilsprache die Mutter. Zugleich bedeutet es aber
auch den Lebensgefährten. Der Geschlechtsgegensatz kümmert be-
346 | C.G. Jung.
kanntlich die Libido wenig. Für die unbewußten Besetzungen spielt
das Geschlecht des Objektes zunächst eine überraschend geringe Rolle,
auch das Objekt selber, als ein Objektivreales gefaßt, ist wenig be-
deutsam. (Von größter Wichtigkeit ist aber, ob übertragen oder intro-
vertiert wird.) Die ursprüngliche konkrete Bedeutung von ‚begreifen‘,
„erfassen“ usw. läßt die untere Hälfte des Wunsches, einen gleichge-
sinnten Menschen zu finden, klar erkennen. Die ‚‚obere‘“ intellektuelle
Hälfte aber ist ebenfalls darin enthalten und will mit berücksichtigt
sein. Man wäre auch gern geneigt, an die Tendenz zu glauben, wenn
nicht gerade unsere Kultur damit einen besonderen Unfug triebe: ist
doch die ‚„unverstandene Frau‘ beinahe schon sprichwörtlich geworden,
was nur die Folge ganz verdrehter Wertungen sein kann. Unsere Kultur
unterschätzt einerseits die Wichtigkeit der Sexualität außerordentlich,
anderseits drängt sich die Sexualität eben gerade infolge der auf ihr
lastenden Verdrängung an allen möglichen ihr nicht zugehörenden
Orten heraus und bedient sich einer dermaßen indirekten Ausdrucks-
weise, daß man sie beinahe überail plötzlich anzutreffen erwarten
kann. So wird auch die Vorstellung des intimen Verständnisses einer
menschliehen Seele, was eigentlich etwas sehr Schönes und Reinliches
ist, durch das Hereinfließen der indirekten Sexualbedeutung be-
schmutzt!) und widerwärtig verzerrt. Diese Nebenbedeutung oder,
besser gesagt, der Mißbrauch, den die verdrängte und weggelogene
Sexualität mit den höchsten seelischen Funktionen treibt, ermöglicht
es z. B. gewissen unserer Gegner, in der Psychoanalyse schlüpfrige
Beichtstuhlerotik zu wittern. Das sind subjektive Wunscherfüllungs-
delirien, die keiner Gegenargumentation bedürfen. Dieser Mißbrauch
macht aber auch den Wunsch, „begriffen“ zu werden, dann höchst
verdächtig, wenn die natürlichen Forderungen des Lebens noch nicht
erfüllt worden sind. Die Natur hat erste Rechte an den Menschen,
lange nachher erst kommt der Verstandesluxus. Das mittelalterliche
Ideal eines Lebens um des Sterbens willen dürfte nachgerade abgelöst
werden durch eine natürlichere Lebensauffassung, in welcher die
natürlichen Forderungen des Menschen voll berücksichtigt sind, so daß
Gelüste der animalischen Sphäre nicht mehr die hohen Güter der
geistigen Sphäre in ihren Dienst herunterziehen müssen, um überhaupt
=) Ein direkter ungezwungener Ausdruck der Sexualität ist ein natürliches
Ereignis und als solches nie unschön oder widerlich. Die „sittliche“ Verdrängung
macht die Sexualität einerseits schmutzig und heuchlerisch, anderseits frech
und aufdringlich.
Wandlungen und Symboie der Libido. 347
Betätigung zu finden. Wir sind daher genötigt, den Wunsch der Träu-
merin nach Verstandensein zunächst als ein verdrängtes Streben nach
dem natürlichen Schicksal aufzufassen, Diese Deutung fällt auch ganz
zusammen mit der psychoanalytischen Erfahrung, daß es zahllose
neurotische Menschen gibt, die sich anscheinend darum vom Leben
abhalten lassen, weil sie einen unbewußten und öfter auch bewußten
Widerwillen vor dem sexuellen Schicksal haben, unter dem sie sich
zwangsmäßig allerhand Unschönes vorstellen, und nur allzu groß ist
ihre Neigung, diesem Drange der unbewußten Sexualität nachzugeben
und das gefürchtete (unbewußt gehoffte) sexuell Widerwärtige zu
erleben, um sich damit die Berechtigung eines begründeten Horrors
zu erwerben, der sie dann um so sicherer in der Infantilsituation
zurückhält. Daher kommt es, daß so viele Menschen eben gerade in
jenes Schicksal hereinfallen, vor dem sie die größte Abscheu haben.
Wie richtig unsere Vermutung war, daß es sich im Unbewußten
von Miß Miller um den Selbständigkeitskampf handle, zeigt ihre
Angabe, daß der Abschied des Helden aus dem Vaterhause sie an das
Schicksal des jungen Buddha erinnere, der ebenfalls alles heimatliche
Wohlleben aufgab, um in die Welt hinauszuziehen, seiner Bestimmung
ganz zu leben!). Buddha gab dasselbe heroische Vorbild, wie Christus,
der sich von der Mutter abschneidet und sogar bittere Worte führt
wie: (Matth. 10, 3£.)
„Denkt nicht, daß ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf die Erde;
ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ich
bin gekommen, zu entzweien einen Menschen mit seinem Vater, die Tochter
mit ihrer Mutter, die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter, und
seine eigenen Leute werden des Menschen Feinde sein. Wer Vater und
Mutter mehr liebt denn mich, ist mein nicht wert.“
Oder (Lue. 12, 51ff.):
„Meint ihr, ich sei erschienen, Frieden zu bringen auf Erden? Nein,
sage ich euch, sondern vielmehr Spaltung, denn von nun an werden sein
fünf in einem Hause gespalten, drei werden gegen zwei und zwei gegen drei
sein, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater, die Mutter
gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter
gegen die Frau und die Frau gegen die Schwiegermutter.‘
Horus entreißt seiner Mutter den Kopfschmuck, die Macht.
!) Eine andere Quelle, die Miß Miller hier angibt, nämlich Sam. Johnson:
Histoire de Rasselas, prince d’Abyssinie (?), war mir nicht zugänglich,
348 C. &. Jung.
Er rang, wie Adam mit Lilith, um die Macht. Nietzsche sprach das-
selbe auch aus mit sehr schönen Worten!):
„Man darf vermuten, daß ein Geist, in dem der ‚Typus freier Geist‘
einmal bis zur Vollkommenheit reif und süß werden soll, sein entscheidendes
Ereignis in einer großen Loslösung gehabt hat, daß er vorher um so mehr
ein gebundener Geist war und für immer an seine Ecke und Säule ge-
fesselt schien?). Was bindet am festesten? Welche Stricke sind beinah
unzerreißbar? Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden
es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend eignet,
jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene
Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, für die Hand,
die sie führte, für das Heiligtum, wo sie anbeten lernten; — ihre
höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden,
am dauerndsten verpflichten. Die große Loslösung kommt für solcher-
maßen Gebundene plötzlich usw.‘
„Lieber sterben als hier leben‘ — so klingt die gebieterische
Stimme und Verführung: und dies ‚hier‘, dies ‚zu Hause‘ ist alles, was sie (die
Seele) bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen
das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen das, was ihr ‚Pflicht hieß,
ein aufrührerisches, willkürliches vulkanisch stoßendes Verlangen nach
Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung,
Vereisung, ein Haß auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer
Griff und Blick rückwärts?), dorthin, wo sie bis jetzt anbetete
und liebte, vielleicht eine Glut der Scham über das, was sie eben tat,
und ein Frohlocken zugleich, daß sie es tat, ein trunkenes inneres froh-
lockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verrät — ein Sieg? über was?
über wen? ein rätselhafter, fragenreicher, fragwürdiger Sieg, aber der
erste Sieg immerhin: — dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört
zur Geschichte der großen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich,
die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von
Kraft und Willen zur Selbstbestimmung#).“
‘) Menschliches, Allzumenschliches. Vorrede.
°) Vgl. unten über das Motiv der Fesselung.
°) Die sacrilegische Gewalttat des Horus an der Isis, worüber sich Plu-
tarch (de Is. et Os.) gewaltig entsetzt; er sagt folgendes darüber: ‚Wenn aber
jemand annehmen und behaupten wollte, dies alles sei in bezug auf die glückselige
und unvergängliche Natur, welcher zumeist entsprechend das Göttliche gedacht
wird, wirklich geschehen und vorgefallen: dann, um mit Äschylos zu reden, ‚‚muß
man ausspeien und den Mund sich reinigen“. Man kann sich aus diesem Urteile
einen Begriff machen davon, wie der Gutgesinnte in der antiken Sozietät die christ-
lichen Anschauungen verachtet haben mag, erstens den gehenkten Gott, dann die
Behandlung der Familie, die „Grundfeste‘‘ des Staates. Der Psychcanalvtiker
wundere sich also nicht. Es war alles schon einmal da.
*) Vgl. oben das vorbildliche Schicksal von Theseus und Peirithoos.
Wandlungen und Symbole der Libido. 349
Die Gefahr ist, wie Nietzsche glänzend ausführt, die Ver-
einsamung in sich selber:
„Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender,
würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und Mater
saeva cupidinum.“
Die von der Mutter zurückgenommene Libido, welche nur wider-
strebend zurückkommt, wird bedrohend wie eine Schlange, das Symbol
des Todes, denn die Beziehung zur Mutter hat aufzuhören, zu sterben,
woran man selber fast stirbt. In „Mater saeva cupidinum”“
erreicht das Bild eine seltene, fast bewußte Vollendung.
Es kommt mir nicht zu, versuchen zu wollen, mit besseren Worten
die Psychologie der Loslösung von der Kindheit zu schildern, als dies
Nietzsche getan hat.
Mıß Miller gibt uns noch einen weiteren Hinweis auf ein Material,
das in einer mehr allgemeinen Weise ihre Schöpfung beeinflußt habe:
Es ıst dies das große indianische Epos von Longfellow: The song
of Hiawatha.
Meine Leser werden sich, wenn sie überhaupt die Geduld hatten,
sich bis hierher durchzulesen und durchzudenken, öfter gewundert
haben, wie viele Male ich Dinge aus fernsten Fernen zum Vergleich
heranziehe und wie sehr ich die Basis verbreitere, auf der sich die Schöp-
fungen von Miß Miller erheben. Öfter werden ihnen auch Zweifel
aufgetaucht sein, ob wohl ein solches Unternehmen gerechtfertigt sei,
an Hand von spärlichen Andeutungen prinzipielle Erörterungen über
die psychologischen Grundlagen der Mythen, der Religion und der
Kultur überhaupt anzustellen: Denn, wird man sagen, hinter den
Millerschen Phantasien ist solches wohl kaum zu suchen. Ich brauche
wohl kaum zu betonen, daß auch ich öfter gezweifelt habe. Ich hatte
nämlich Hiawatha früher nie gelesen, bis ich im Verlaufe meiner
Arbeit zu diesem Stück kam, das ich mir so lange aufgespart hatte,
bis ich es lesen mußte. Hiawatha, eine poetische Kompilation india-
nischer Mythen, gibt mir aber eine Berechtigung für alle vorange-
gangenen Überlegungen, indem in diesem Epos.ein seltener Reichtum
mythologischer Probleme ausgebreitet liegt. Diese Tatsache dürfte
für den Beziehungsreichtum der Millerschen Phantasien von großem
Belang sein. Wir sind daher genötigt, einen Einblick in dieses Epos
zu gewinnen.
390 ©. G. Jung.
Nawadaha singt die Gesänge des Epos vom Helden Hiawatha,
des Menschenfreundes:
„There he sang of Hiawatha,
Sang the song of Hiawatha,
Sang his wondrous birth and being,
How he prayed and how he fasted,
How he lived, and toiled, and suffered,
That the tribes of men might prosper,
That he might advance his people!“
Diese teleologische Bedeutung des Helden als jener symbolischen
Figur, welche Libido in Form von Bewunderung und Anbetung auf
sich vereinigt, um sie über die Symbolbrücken des Mythus höheren
Verwendungen zuzuführen, ist hier vorweggenommen. So werden wir
mit Hiawatha als einem Heiland rasch bekannt und sind bereit, von
all dem zu hören, was von einem Heiland ausgesagt werden muß, von
wundersamer Geburt, frühen großen Taten und seiner Aufopferung
für die Mitmenschen.
Der I. Gesang beginnt mit einem Stück Evangelium: Gitche
Manito, der ‚‚master of life‘, des Haders seiner Menschenkinder müde,
ruft seine Völker zusammen und verkündet ihnen frohe Botschaft:
„J will send a Prophet to you,
A Deliverer of the nations,
Who shall guide you and shall teach you,
Who shall toil and suffer with you.
If you listen to his counsels,
You will multiply and prosper;
If his warnings pass unheeded,
You wıll fade away and perish
y°°
Gitche manito, der Mächtige, „the creator of the nations“, ist
dargestellt, wie er aufgerichtet (stood erect) ‚‚on the great Red Pipe-
stone Quarry“ steht:
„From his footprints flowed a river,
Leaped into the lishi of morning,
O’er the precipice plunging downward
Gleamed like Ishkoodah, the comet.“
Das aus den Fußstapfen fließende Wasser bekundet genugsam
die phallische Natur dieses Schöpfers. Ich verweise auf die früheren
Ausführungen über die phallische und Fruchtbarkeitsnatur des Pferde-
Wandlungen und Symbole der Libido. ol
fußes und der Roßtrappe!), speziell erinnere ich an die Hippokrene
und den Fuß des Pegasus. Demselben Bild begegnen wir in Psalm 65, 10ff:
„Du suchest das Land heim und wässerst es und machest es sehr
reich. Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle. Du läßest ihr Ge-
treide wonl geraten, denn also bauest du das Land.
‚Du tränkest seine Furchen und feuchtest sein Gepflügtes,
mit Regen machst du es weich und segnest sein Gewächs.
Du krönest das Jahr mit deinem Gut und deine Fußstapfen
triefen von Fett.“
Wo der befruchtende Gott hintritt, ist Fruchtbarkeit. Von der
symbolischen Bedeutung des Tretens sprachen wir bereits bei den
„tretenden‘‘ Maren. So fährt auch Kaineus mit ‚‚geradem Fuß die Erde
spaltend‘“ in die Tiefe. Amphiaraos, ein anderer chthonischer Heros,
versinkt in die Erde, die ihm ein Blitzstrahl von Zeus geöffnet hat.
(Vgl. dazu die oben berichtete Vision der Hysterischen, die nach dem
Plitz jeweils ein schwarzes Pferd sah: Identität von Roßtrappe und
Blitzstrahl.) Durch den Blitzstrahl werden Heroen unsterblich gemacht?).
Faust gelangt zu den Müttern, indem er stampft:
„Versinke stampfend, stampfend steigst du wieder -—.“
Im Sonnenverschlingungsmythus stampfen oder stemmen sich
die Helden ım Rachen des Ungeheuers öfter. So durchstampft Tor
den Schiffboden im Kampf mit dem Ungeheuer und tritt bis auf
den Grund des Meeres. (Kaineus.) (Über das „Strampeln“ als In-
fantilphantasie, vgl. oben.) Die Regression der Libido auf die vor-
sexuelle Stufe bringt es mit sich, daß diese vorbereitende Hand-
lung des Tretens zum Ersatz für die Koitusphantasie (Mutterinzest)
respektive für die Phantasie des Wiedereintrittes in den Mutterleib
wird. Der Vergleich des aus den Fußstapfen fließenden Wassers mit
einem Kometen ist Lichtsymbolik für das befruchtende Naß. (Sperma.)
Nach einer Notiz bei A. v. Humboldt (Kosmos) nennen gewisse
. südamerikanische Indianerstämme die Meteore ‚Harn der Sterne“,
Es wird dann noch erwähnt, wie Gitche Manito Feuer macht: Er
bläst auf einen Wald, so daß die Bäume, aneinander gerieben, in Feuer
geraten. Dieser Dämon ist also ein treffliches Libidosymbol, auch das
Feuer erzeugt er.
1) Vgl. dazu die Belege in Aigremont: Fuß- und Schuhsymbolik. Ferner
diese Arbeit I. Teil: Sonnenfuß in einem armenischen Volksgebet. Auch de Guber-
natis: Die Tiere in den indogermanischen Mythol., Bd. I, S. 220 ff.
®) Rohde: Psyche.
392 | C. &. Jung.
Nach diesem Prolog folgt im II. Gesang die Vorgeschichte des
Helden: Der große Krieger Mudjekeewis (der Vater Hiawathas) hat den
großen Bären, „the terror of the nations“ listig überwältigt und ihm
den magischen „Belt of Wampum“, einen Muschelgürtel, gestohlen.
Wir begegnen hier dem Motiv dersch wererreichbaren Kostbarkeit,
die der Held dem Ungeheuer entreißt. Wer der Bär ist, zeigen die Ver-
gleiche des Dichters: Mudjekeewis schlägt den Bären auf den Kopf,
nachdem er ihm den Schmuck geraubt:
„With the heavy blow bewildered,
Rose the great Bear of the mountains;
But his knees beneath him trembled,
And he whimpered like a woman.“
Mudjekeewis sagt spottend zu ihm:
„Else you would not cry and whimper
Like a miserable woman!
But you, Bear! sit here and whimper,
And disgrace your tribe by crying,
Like a wretched Shaugodaya,
Like a cowardly old woman
get
Diese drei Vergleiche mit einem Weibe finden sich auf einer
Seite beieinander. Mudjekeewis hat als rechter Held das Leben wieder
einmal dem Tode, der alles verschlingenden furchtbaren Mutter, aus
dem Rachen gerissen. Diese Tat, die, wie wir gesehen haben, auch
dargestellt wird als Höllenfahrt, ‚‚Nachtmeerfahrt“, Überwindung des
Ungeheuers von innen, bedeutet zugleich als ein Eingehen in den Mutter-
leib eine Wiedergeburt, deren Folgen auch für Mudjekeewis bemerkbar
werden. Wie in der Zosimosvision, so wird auch hier der Eintretende
zum zveöua, zum Windhauch oder Geist: Mudjekeewis wird zum
Westwind, diesem fruchtbaren Hauche, zum Vater der Winde!).
Seine Söhne wurden zu den übrigen Winden. Von ihnen und ihrer
Liebesgeschichte erzählt ein Intermezzo, aus dem ich nur die Werbung
Wabuns, des Ostwindes, erwähnen möchte, weil hier das erotische
‘) Porphyrius: de antro nympharum. (Zitiert b. Dieterich: Mithraslit.,
S. 63) sagt, daß nach der Mithraslehre den Seelen, die aus der Geburt gingen,
Winde bestimmt seien, da diese Seelen Windhauch (mveüua) eingezogen und
daher ein derartiges Wesen hätten: yuyais 6’ eig y&veoıw lovoaug nal dnö
VEVEOEDS Kwgıfousvang einötwg Erafav iveuovs did TO Ep&inceodaı nal aürdg
nveüua xal obolav &ysır Touadryv.
Wandlungen und Symbole der Libido. 808
Kosen des Windes besonders hübsch geschildert ist. Er sieht jeden
Morgen ein hübsches Mädchen auf einer Wiese, das er umwirbt:
„Every morning, gazing earthward,
Still the first thing he beheld there
Was her blue eyes looking at him,
Two blue lakes among the rushes.“
Der Vergleich mit dem Wasser ist nicht nebensächlich, denn
„aus Wind und Wasser“ soll der Mensch wiedergeboren werden.
„And he wooed her with caresses,
Wooed her with his smile of sunshine,
With his flattering words he wooed her,
With his sighing and his singing,
Gentlest whispers in the branches,
Softest music, sweetest odors“ etc.
In diesen onomatopoetischen Versen ist die schmeichelnde
Werbung des Windes trefflich ausgedrückt!).
Der III. Gesang bringt die Vorgeschichte der Mütter Hiawathas.
Seine Großmutter lebte als Mädchen auf dem Monde. Dort schaukelte
sie sich einst auf einer Liane, ein eifersüchtiger Liebhaber aber schnitt
die Liane ab und Nokomis, Hiawathas Großmutter, fiel auf die Erde
herunter. Die Menschen, die sie herunterfallen sahen, hielten sie für
eine Sternschnuppe. Diese wunderliche Herkunft der Nokomis
wird durch einen späteren Passus desselben Gesanges näher beleuchtet:
Dort fragt der kleine Hiawatha die Großmutter, was der Mond sei.
Nokomis belehrt ihn darüber folgendermaßen: Der Mond sei der Körper
einer Großmutter, die ein kriegerischer Enkel im Zorn dort hinauf-
geworfen habe. Der Mond ist also die Großmutter. Im antiken Glauben
ist der Mond ein Sammelort der abgeschiedenen Seelen?), ein Samen-
!) In der Mithrasliturgie geht der zeugende Geisthauch von der Sonne aus,
vermutlich ‚‚aus der Sonnenröhre“. (Vgl. Erster Teil.) Entsprechend dieser Vor-
stellung heißt im Rigveda die Sonne der Einfüßer. Vgl. dazu das armenische
Gebet, daß die Sonne ihren Fuß auf dem Angesichte des Betenden möge ruhen
lassen. (Abeghian: Der armenische Volksglaube, 1899, S. 41.)
2) Firmicus Maternus (Mathes., I, 5. 9): Cui (animo) descensus per
orbem solis tribuitur, per orbem vero lunae praeparatur ascensus, Lydus (de
mens., IV, 3) berichtet, der Hierophant Praetextatus habe gesagt. daß Janus
tag Veroregag wuyag Eni Tv oE/mvınöov x000v Amoneune, BEpiphanius
(Haeres., LXVI, 52): ötı &x T&v yuyav 6 Ölonog (TÜS 0EAnvns) Anonlunsaraı.
Zitiert Cumont: Text. et Mon., I, I, S. 40. In exotischen Mythen ist es das-
selbe mit dem Mond. Frobenius: Il. c., 8. 352 ff.
Jahrbuch für psychoanalyt. u. psychopathol. Forschungen, IV. 23
394 C. G. Jung.
bewahrer, daher auch wieder ein Ursprungsort des Lebens von vor-
wiegend weiblicher Bedeutung. Das Merkwürdige ist, daß Nokomis,
auf die Erde fallend, eine Tochter, Wenonah, gebar, die nachmalige
Mutter Hiawathas. Das Hinaufschleudern der Mutter und das Herunter-
fallen und Gebären scheint etwas Typisches an sich zu haben. So er-
zählt eine Geschichte aus dem 17. Jahrhundert, daß ein wütender Stier
eine schwangere Frau in Haushöhe emporgeworfen und ihr den Leib
aufgerissen habe und das Kind sei wohlbehalten auf die Erde gefallen.
Man hielt dieses Kind infolge seiner wunderbaren Geburt für einen
Helden oder Wundertäter, aber es starb frühzeitig. Bekanntlich ist
bei tiefstehenden Wilden der Glaube verbreitet, die Sonne sei weiblich
und der Mond männlich. Bei den Namaqua, einem Hottentottenstamm,
besteht die Meinung, die Sonne bestehe aus klarem Speck: „die
Leute, die auf Schiffen fahren, ziehen sie durch Zauber allabendlich
herunter, schneiden sich ein tüchtiges Stück ab und geben ihr dann
einen Fußtritt, daß sie wieder an den Himmel hinauffliegt.“
(Waitz: Anthropologie II, 342.) Die infantile Nahrung kommt von
der Mutter. (Vgl. unten.) Wir begegnen in den Gnostikerphantasien
einer vielleicht hierher gehörigen Menschenentstehungslegende: Die ans
Himmelsgewölbe angebundenen weiblichen Archonten vermögen infolge
der schnellen Umdrehung des Himmels ihre Früchte nicht bei sich zu
behalten, sondern lassen sie auf die Erde herunterfallen, woraus die
Menschen entstehen. Ein Zusammenhang mit barbarischen Geburts-
helferkünsten (Herunterfallenlassen der Gebärenden) ist nicht aus-
geschlossen. Die Vergewaltigung der Mutter ist schon mit dem Abenteuer
des Mudjekeewis eingeführt, und ist fortgesetzt in der gewaltsamen
Behandlung der ‚Großmutter‘, der Nokomis, die infolge des Ab-
schneidens der Liane und des Herunterfallens irgendwie schwanger
geworden zu sein scheint. Das ‚„‚Abschneiden des Zweiges“, das Pflücken,
haben wir bereits als Mutterinzest erkannt. (Vgl. oben.) Jener bekannte
Vers vom „Lande Sachsen, wo die schönen Mädchen auf den Bäumen
wachsen“, und Redensarten, wie ‚die Kirschen in Nachbars Garten
pflücken“ spielen auf ein ähnliches Bild an. Das Herunterfallen der
Nokomis verdient mit einer poetischen Figur bei Heine verglichen
zu werden:
„Es fällt ein Stern herunter
Aus seiner funkelnden Höh’!
‘ Das ist der Stern der Liebe,
Den ich dort fallen seh’!
Wandlungen und Symbole der Libido, 399
Es fallen vom Apfelbaume
Der Blüten und Blätter viel.
Es kommen die neckenden Lüfte
Und treiben damit ihr Spiel.‘
Wenonah wird später vom Westwind kosend umworben und
wird von ihm schwanger. Wenonah als junge Mondgöttin hat die
Schönheit des Mondlichtes. Nokomis warnt sie vor der gefährlichen
Werbung des Mudjekeewis, des Westwindes. Aber Wenonah läßt sich
betören und empfing vom Windhauch, vom rveüua einen Sohn, unseren
Helden:
„And the West-Wind came at evening, —
Found the beautiful Wenonah,
Lying there among the lilies,
Wooed her with his words of sweetness,
Wooed her with his soft caresses,
Tıll she bore a son in sorrow,
Bore a son of love and sorrow.“
Die Befruchtung durch den Geisthauch ist uns bereits eine be-
kannte Erfahrung. Der Stern oder Komet gehört offenbar zur Geburts-
szene als Libidosymbol, auch Nokomis kommt zur Erde wie ein fallender
Stern. Mörikes liebenswürdige Dichterphantasie hat sich einen ähn-
lichen göttlichen Ursprung ersonnen.
Und die mich trug im Mutterleib,
Und die mich schwang im Kissen,
Die war ein schön frech braunes Weib,
Wollt’ nichts vom Mannsvolk wissen.
Sie scherzte nur und lachte laut
Und ließ die Freier stehen:
Möcht’ lieber sein des Windes Braut,
Denn in die Ehe gehen!“
Da kam der Wind, da nahm der Wind
Als Buhle sie gefangen:
Von dem hat sie ein lustig Kind
In ihrem Schoß empfangen.
Buddhas wunderbare Geburtsgeschichte, von Sir Edwin Arnold
wieder erzählt!), weiß ebenfalls davon:
!) The Light of Asia or the great renunciation (Mahäbhinishkramana).
23*
356 C. G. Jung.
„Maya the queen —
Dreamed a strange dream, dreamed that a star from heaven —-
Splendid, six-rayed, in color rosy-pearl,
Where of the token was an Elephant
Six-tusked and white as milk of Kamadhuk
Shot through the void; and, shining into her,
Entered her womb upon the right!).“
Während der Konzeption der Maya bläst ein Wind über Land:
„A wind blew
With unknown freshness over lands and sees.“
Nach der Geburt kommen die 4 Genien des Ostens, Westens,
Siidens und Nordens, um als Palanquinträger Dienste zu leisten. (Das
Zusammenkommen der Weisen bei Christi Geburt.) Wir finden also
auch hier eine deutliche Erwähnung der ‚4 Winde.“ Zur Vervoll-
ständigung der Symbolik findet sich im Buddhamythus wie bei Christi
Geburtslegende außer der Stern- und Windbefruchtung noch die
Befruchtung durch ein Tier, hier der Elefant, der mit seinem phallischen
Rüssel bei Maya die christliche Ohr- respektive Kopfbefruchtung
vollbringt. Bekanntlich ist außer der Taube auch das Einhorn ein
zeugendes Symbol des Logos.
An dieser Stelle dürfte sich die Frage aufdrängen, warum wohl
die Geburt eines Helden immer unter so sonderbaren symbolischen
Umständen zu erfolgen hat. Es wäre auch denkbar, daß ein Held unter
gewöhnlichen Umständen entstünde und allmählich aus seiner niedrigen
Umgebung emporwüchse vielleicht unter tausend Mühen und Ge-
fahren. (Übrigens ist dieses Motiv dem Heldenmythus auch keineswegs
fremd.) Man wird sagen, der Aberglaube verlange die sonderbaren
Geburts- oder Zeugungsumstände; warum aber verlangt er sie?
Die Antwort auf diese Frage ist: daß der Held in der Regel nicht
bloß geboren wird wie ein gewöhnlicher Sterblicher, sondern daß
seine Geburt unter den geheimnisvollen Zeremonien einer
Wiedergeburt aus der Mutter- Gattin erfolgt. Daher stammt
in allererster Linie das Motiv der 2 Mütter des Helden. Wie uns
Rank?) an vielfachen Beispielen gezeigt hat, hat der Held öfter Aus-
setzung und Unterbringung bei Pflegeeltern zu erfahren. Auf diese
Weise kommt er zu den zwei Müttern. Ein treffendes Beispiel ist auch
‘) Auf entsprechenden Abbildungen sieht man, wie der Elefant der Maya.
mit dem Rüssel in den Kopf dringt.
”) Rank: Der Mythus von der Geburt des Helden.
_ Wandlungen und Symbole der Libido. 397
das Verhältnis des Herakles zu Hera. (Vgl. oben.) Im Hiawathaepos
stirbt Wenonah nach der Geburt und Nokomis tritt an ihre Stelle.
Maja stirbt nach der Geburt!) und Buddha erhält eine Pflegemutter.
Öfter ist die Pflegemutter ein Tier (die Wölfin des Romulus und Remus
usw.). Die zweifache Mutter kann auch durch das Motiv der zwie-
fachen Geburt ersetzt sein, was namentlich in der christlichen
Mythologie zu hoher Bedeutung gelangt ist; nämlich in der Taufe,
die eine Wiedergeburt darstellt, wie wir gesehen haben. So wird der
Mensch nicht bloß banal geboren, sondern noch einmal auf geheimnis-
volle Weise, wodurch er des Gottesreiches, d. h. der Unsterblichkeit
teilhaft wird. Jeder wird auf diese Weise ein Heros, der durch die eigene
Mutter sich wieder erzeugt, denn einzig dadurch wird er der Unsterb-
lichkeit teilhaft. Daher wohl kommt es, daß der universelles Heil
schaffende Kreuzestod von Christus als ‚Taufe‘ aufgefaßt wird, d. h.
als Wiedergeburt durch die zweite Mutter, den geheimnisvollen Todes-
baum. So sagt Christus (Luc. 12,50): „Ich habe eine Taufe zu bestehen,
und wie drängt es mich, bis sie vollendet ist!“ Seine Todesqual faßt
er symbolisch als Geburtsqual.
Das Motiv der zwei Mütter deutet auf den Selbstverjüngungs-
gedanken hin und will offenbar die Wunscherfüllung ausdrücken:
möchte es möglich sein, daß dieMutter mich wieder gebiert;
zugleich heißt es, auf den Helden angewendet: Es ist einer ein Held,
wenn seine Gebärerin bereits einmal seine Mutter war; d.h. ein Held
ist, wer sich durch seine Mutter wieder zu erzeugen vermag.
Auf diese letztere Formulierung zielen die zahlreichen An-
deutungen der Zeugungsgeschichte des Helden. Der Vater Hiawathas
überwältigt zuerst die Mutter unter dem furchterregenden Symbol
des Bären, dann erzeugt er, selber zum Gott geworden, den Helden.
Was Hiawatha als Held zu tun hätte, deutet ihm Nokomis an, mit
der Legende der Mondentstehung: er solle seine Mutter gewalttätig
hinaufwerfen (oder hinwerfen?), dann wird sie durch diese Gewalttat
schwanger, gebiert eine Tochter, diese verjüngte Mutter wäre nach
ägyptischem Ritus als Tochter-Gattin dem Sonnengott, dem ‚Vater
seiner Mutter“, zur Selbstwiedererzeugung beschieden. Was Hiawatha
1) Das rasche Wegsterben der Mutter oder die Trennung von der Mutter
gehört zum Heldenmythus. Im Schwanjungfraumythus, den Rank sehr schön
analysiert hat, ist der wunscherfüllende Gedanke, daß die Schwanjungfrau nach
erfolgter Kindeserzeugung wieder wegfliegen kann; denn dann hat sie ihren Zweck
erfüllt: Man braucht die Mutter nur zur Wiedererzeugung.
358 C. G. Jung.
in dieser Hinsicht tat, werden wir unten sehen. Wie sich die dem Christos
verwandten vorderasiatischen Götter verhalten, haben wir bereits
gesehen. Was die Präexistenz Christi betrifft, so ist ja, wie bekannt,
das Johannesevangelium voll von diesem Gedanken: So das Wort
des Täufers: (Joh. I, 30) ‚‚Dieser ist es, von dem ich sagte, nach mir
kommt ein Mann, der vor mir da ist, weil er eher war als ich.‘ Ebenso
ist auch der Anfang des Evangeliums voll tiefer mythologischer Bedeu-
tung: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. Und das
Wort war Gott, solchergestalt war es im Anfang bei Gott. Alles ward
durch dasselbe und ohne dasselbe ward nichts, was geworden ist.
In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen:
und das Licht scheint in der Finsternis. Es trat ein Mensch auf,
abgesandt von Gott, Johannes hieß er, dieser kam zum Zeugnis: um
zu zeugen vom Licht. — Nicht war er das Licht, sondern zeugen sollte
er vom Licht. Das wahrhaftige Licht, welches jeden Menschen
erleuchtet, war: der da kommen sollte in die Welt.‘ Das ist die Ver-
kündigung des wiedererscheinenden Lichtes, der wiedergeborenen
Sonne, die vorher war und die nachher sein wird. Am Baptisterium
in Pisa ist Christus dargestellt, wie er den Menschen den Lebens-
baum überbringt, sein Haupt ist vom Sonnenrad umgeben. Über
diesem Relief stehen die Worte:
-INTROITVS SOLIS.
Weil der Geborene sein eigener Erzeuger war, daher ist seine
Zeugungsgeschichte so sonderbar verhüllt unter symbolischen Er-
eignissen, die verdecken und verleugnen sollen, daher auch stammt
die außerordentliche Behauptung von der jungfräulichen Konzeption.
Damitsoll die inzestuöse Befruchtung verdeckt werden. Vergessen wir aber
nie, daß diese naive Behauptung ein ungemein wichtiges Stück in der
künstlichen Symbolbrücke ist, welche die Libido aus der inzestuösen
Bindung herausleiten soll zu höhern und nützlicheren Verwendungen,
die eine neue Art der Unsterblichkeit, nämlich unsterbliche Werke
bedeuten.
Die Umgebung von Hiawathas Jugend ist von Belang.
„By the shores of Gitche Gumee,
By the shining Big-Sea-Water,
Stood the wigwam of Nokomis,
Daughter of the Moon, Nokomis.
Dark behind it rose the forest,
Wandlungen und Symbole der Libido. 359
Rose the black and gloomy pine-trees,
Rose the firs with cones upon them;
Bright before it beat the water,
Beat the clear and sunny water,
Beat the shining Big-Sea-Water“.
In dieser Umgebung zog ihn Nokomis auf. Hier lehrte sie ıhn
die ersten Worte und erzählte ihm die ersten Märchen und die Ge-
räusche des Wassers und des Waldes mischten sich darein, so daß das
Kind nicht nur die Sprache der Menschen, sondern auch der Natur
verstehen lernte:
„At the door on summer evenings
Sat the little Hiawatha;
Heard the whispering of the pine-trees,
Heard the lapping of the water,
Sounds of music, words of wonder;
‚Minne-wawa‘!!) said the pine-trees,
‚Mudway-aushka‘!?) said the water.“
Hiawatha hört in den Naturgeräuschen menschliche Sprache, er
versteht so die Sprache der Natur. Der Wind sagt ‚wawa‘“. Der Schrei
der Wildgans ist „wawa“. Wah-wah-taysee heißt der kleine Leucht-
käfer, der ihn entzückt. So schildert der Dichter sehr schön die all-
mä